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Adolf Joffe u.a. 19171222 Erklärung der russischen Delegation auf der ersten Vollsitzung der Friedenskonferenz in Brest-Litowsk

Adolf Joffe u.a. Erklärung der russischen Delegation auf der

ersten Vollsitzung der Friedenskonferenz in Brest-Litowsk

9./22. Dezember 1917

[Veröffentlicht in: „Die Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk“, Bd. I, Moskau 1920, S. 6 ff. (russ.). Nach: Deutsch-sowjetische Beziehungen von den Verhandlungen in Brest-Litowsk bis zum Abschluss des Rapallovertrages. Berlin 1967, S. 167-169]

Die russische Delegation geht von dem klar ausgesprochenen Willen der Völker des revolutionären Russlands aus, möglichst bald den Abschluss eines demokratischen Friedens zu erreichen. Die Delegation ist der Ansicht, dass als einzige Grundlage für einen solchen, für alle in gleicher Weise annehmbaren Frieden die Grundsätze erscheinen, die in dem Dekret über den Frieden angesprochen sind, das einstimmig auf dem gesamtrussischen Kongress der Arbeiter- und Soldatendeputierten angenommen und auf dem gesamtrussischen Bauernkongress bestätigt wurde. Dieses Dekret lautet:

Ein gerechter oder demokratischer Frieden, wie ihn die überwältigende Mehrheit der durch den Krieg erschöpften, gepeinigten und gemarterten Klassen der Arbeiter und Werktätigen aller kriegführenden Länder ersehnt, ein Frieden, wie ihn die russischen Arbeiter und Bauern nach dem Sturz der Zarenmonarchie auf das Entschiedenste und Beharrlichste gefordert haben, ein solcher Frieden ist nach der Auffassung der Regierung ein sofortiger Frieden ohne Annexion (d. h. ohne Aneignung fremder Territorien, ohne gewaltsame Angliederung fremder Völkerschaften) und ohne Kontributionen …

Unter Annexion oder Aneignung fremder Territorien versteht die Regierung im Einklang mit dem Rechtsbewusstsein der Demokratie im Allgemeinen und der werktätigen Klassen im Besonderen jede Angliederung einer kleinen oder schwachen Völkerschaft an einen großen oder mächtigen Staat, ohne dass diese Völkerschaft ihr Einverständnis und ihren Wunsch unmissverständlich, klar und freiwillig zum Ausdruck gebracht hat, unabhängig davon, wann diese gewaltsame Angliederung erfolgt ist, sowie unabhängig davon, wie entwickelt oder rückständig eine solche mit Gewalt angegliederte oder mit Gewalt innerhalb der Grenzen eines gegebenen Staates festgehaltene Nation ist, und schließlich unabhängig davon, ob diese Nation in Europa oder in fernen, überseeischen Ländern lebt.

Wenn irgendeine Nation mit Gewalt in den Grenzen eines gegebenen Staates festgehalten wird, wenn dieser Nation entgegen ihrem zum Ausdruck gebrachten Wunsch – gleichviel, ob dieser Wunsch in der Presse oder in Volksversammlungen, in Beschlüssen der Parteien oder in Empörungen und Aufständen gegen die nationale Unterdrückung geäußert wurde – das Recht vorenthalten wird, nach vollständiger Zurückziehung der Truppen der annektierenden oder überhaupt der stärkeren Nation in freier Abstimmung über die Formen ihrer staatlichen Existenz ohne den mindesten Zwang selbst zu entscheiden, so ist eine solche Angliederung eine Annexion, d. h. eine Eroberung und Vergewaltigung.

Diesen Krieg fortzusetzen, um die Frage zu entscheiden, wie die starken und reichen Nationen die von ihnen annektierten schwachen Völkerschaften unter sich aufteilen sollen, hält die Regierung für das größte Verbrechen an der Menschheit, und sie verkündet feierlich ihre Entschlossenheit, unverzüglich Friedensbedingungen zu unterzeichnen, die diesem Krieg unter den obengenannten, für ausnahmslos alle Völkerschaften gleich gerechten Voraussetzungen ein Ende machen."

Indem die russische Delegation von diesen Grundsätzen ausgeht, schlägt sie vor, nachfolgende 6 Punkte den Friedensverhandlungen zu Grunde zu legen:

1. Es wird keinerlei gewaltsame Angliederung von Gebieten gestattet, die während des Krieges in Besitz genommen wurden. Die Truppen, die diese Gebiete besetzt halten, werden in kürzester Frist von dort zurückgezogen.

2. Es wird im vollen Umfang die politische Selbständigkeit der Völker wiederhergestellt, die ihrer Selbständigkeit in diesem Kriege beraubt waren.

3. Denjenigen nationalen Gruppen, die vor dem Kriege keine politische Selbständigkeit besaßen, wird die Möglichkeit garantiert, über die Frage ihrer Zugehörigkeit zu diesem oder jenem Staat oder ihrer staatlichen Selbständigkeit durch Referendum frei zu entscheiden. Dieses Referendum muss in der Weise veranstaltet werden, dass die volle Freiheit der Stimmabgabe für die ganze Bevölkerung des betreffenden Gebietes einschließlich der Auswanderer und Flüchtlinge gewährleistet wird.

4. Auf den von mehreren Nationalitäten besiedelten Territorien werden die Rechte der Minderheiten durch besondere Gesetze geschützt, die ihnen die kulturell-nationale Selbständigkeit und, falls dies praktisch möglich ist, auch die administrative Autonomie sichern.

5. Keines der kriegführenden Länder ist verpflichtet, anderen Ländern sogenannte „Kriegskosten" zu zahlen; bereits erhobene Kontributionen sind zurückzuzahlen. Was den Ersatz der Verluste von Privatpersonen infolge des Krieges anbetrifft, so werden sie aus einem besonderen Fonds beglichen, zu dem die Kriegführenden proportionell beitragen.

6. Koloniale Fragen werden unter Beachtung der unter den Punkten 1, 2, 3 und 4 dargelegten Grundsätze entschieden. In Ergänzung dieser Punkte schlägt die russische Delegation den vertragschließenden Parteien vor, jede Art versteckter Bekämpfung der Freiheit schwacher Nationen durch starke als unzulässig zu bezeichnen, z. B. durch wirtschaftlichen Boykott, wirtschaftliche Vorherrschaft des einen Landes über das andere auf Grund aufgezwungener Handelsverträge, durch Sonderzollverträge, die die Freiheit des Handels dritter Länder beschränken, durch Seeblockade, die nicht unmittelbare Kriegsziele verfolgt usw.

Das sind die gleichermaßen für alle annehmbaren Grundprinzipien, ohne deren Anerkennung sich die Delegation der Russischen Republik die Möglichkeit des Abschlusses eines allgemeinen Friedens nicht vorstellen kann.

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