Leo Trotzki: Über Kautsky, Bernstein und Haase [eigene Übersetzung nach Л. Троцкий: Война и революция. Крушение второго интернационала и подготовка третьего. Том II. Петроград 1922, S. 39-42, verglichen mit der französischen Übersetzung] Was will die deutsche sozialdemokratische Opposition? Vor allem den Bruch des sogenannten nationalen Blocks auf ganzer Linie. Die Sozialdemokratie darf nach Meinung der Opposition keine direkte oder indirekte Verantwortung für die imperialistische Politik der Regierenden übernehmen. Also: gegen Kredite stimmen; Kampf um die Beendigung des Krieges, Agitation unter den Massen gegen alle Annexionspläne, Wiederaufnahme des wirtschaftlichen und politischen Kampfes. Dies ist eine Sichtweise, die der gesamten Opposition gemeinsam ist. Aber bei deren Durchführung im Leben beginnen ernsthafte Meinungsverschiedenheiten. Vor allem ist die Opposition nicht von der herrschenden Mehrheit in der Partei durch eine scharfe Grenze1 getrennt. Zwischen den Sozialpatrioten und Internationalisten erstreckt sich eine sehr breite Gruppierung des „Zentrums" mit Kautsky an der Spitze. Kautsky glaubt bekanntlich, dass alle sozialistischen Parteien auf ihre Weise „Recht" hätten, sich mit ihren nationalen Regierungen zu vereinigen, dass es keine Krise der Internationalen gebe, dass nach dem Krieg wieder alle in den alten Geleisen sein würden, und so weiter. Mit dieser Position gibt es entschiedene Unzufriedenheit von rechts und links. Der gemäßigte Flügel der Internationalisten kommt Kautsky insofern nahe, als es ihm am meisten darum geht, die Einheit der Parteiorganisation zu wahren und die Parteidisziplin zu beachten. Im Gegensatz dazu betrachtet der linke Flügel die Unterschiede als völlig unvereinbar. Es stimmt, diese Elemente werden auch die Partei nicht verlassen: „Es würde bedeuten", sagen sie, „unseren Gegnern die wichtigsten Positionen kampflos zu übergeben. Aber wir bleiben, fügen sie hinzu, in den alten Parteiorganisationen gerade für einen unversöhnlichen Kampf mit dem herrschenden Kurs der Partei. Wir werden es nicht erlauben, in der gegenwärtigen Epoche, wenn es um Leben und Tod der Partei geht, mit Rücksicht auf Disziplin und Einheit der Organisation uns den Mund zu verschließen.“ „Wie beurteilen Sie, die Linke, Kautskys Position?“ „Sehr negativ.2 Er spielte in dieser entscheidenden Ära eine Rolle, die wir ihm nicht vergeben können. Er verlor zu Kriegsbeginn völlig den Kopf, kapitulierte vor den Angriffen der Rechten, Opportunisten und Nationalisten, was die Linken sehr entmutigte. Hätte Kautsky am 2. und 3. August letzten Jahres eine entschiedene Position eingenommen, hätte der linke Flügel von Anfang an Kriegskredite abgelehnt, hätte sich nicht mit der Stimmabgabe vom 4. August engagiert und Liebknecht wäre in der Zukunft nicht allein geblieben. Und jetzt: Kautsky protestierte zusammen mit Bernstein und Haase gegen Annexionsappetite3 der herrschenden Klassen; aber dieser Protest behält noch immer einen halb4 platonischen Charakter: Kautsky verlangt nicht einmal einen sofortigen Austritt der Partei aus dem Regierungsblock, und da die Sozialisten die Regierung unterstützen, da sie für Kredite stimmen usw., dienen Proteste gegen Annexionen ohne politische Schlussfolgerungen als Mittel zur Beruhigung ihres eigenen Gewissens.“ Das Schicksal Kautskys ist, wie das vieler andere Gestalten in der Bewegung, zweifellos zutiefst tragisch5. Er war ein Theoretiker des unversöhnlichen Marxismus. Er leitete in den 90er Jahren den Kampf gegen Bernstein als Theoretiker des Reformismus. Aber im Grunde war die Taktik der Partei in der ganzen vergangenen Epoche eine Taktik der Anpassung. Die politischen Beziehungen blieben in all diesen Jahrzehnten unbeweglich. Nach dem Erfolg Bismarcks saß das Junkertum fest im Sattel. Die Bourgeoisie kapitulierte schließlich politisch6, je mächtiger sie wirtschaftlich wurde. Die Arbeiterklasse passte sich in all ihren Kämpfen dem nationalen Militär- und Polizeistaat7 an. Ein unvermeidlicher Konflikt stand bevor. Aber die gegenwärtige Politik der Partei war Possibilismus. Bernstein wollte, dass diese Legalität der Zeit ein ständiges Prinzip sei. Kautsky jedoch beendete seine ganze Forschung mit dem Hinweis auf die unvermeidlichen revolutionären Konflikte in der Zukunft. Aber die Geschichte zwang ihn, sich so lange vorzubereiten und auf die Krisenepoche zu warten, dass Kautsky sie nicht erkannte und verwirrt war, als diese Epoche kam. Ich glaube, er war hoffnungslos verloren. 40 Jahre kontinuierliche geistige Arbeit unter bestimmten Bedingungen der historischen Unbeweglichkeit können nicht abgeschüttelt werden. Im siebten Jahrzehnt8 rüsten sich Menschen nicht geistig um ... Paralleles Interesse bietet das Schicksal Bernsteins. Er war Theoretiker des nationalen Opportunismus. Aber er gehört der ersten Generation an, er ging durch die „heroische" Epoche, stand unter dem persönlichen Einfluss von Engels. Es ist nicht wie ein ein gewisser David, ein großer Mann für kleine Dinge, der völlig ohne internationalen Gesichtskreis auskommt: für den ist auch der deutsche Maßstab tatsächlich zu groß, er fühlt sich am besten im [Groß-]Herzogtum Baden ... Als Bernstein sah, wo seine „Schule" zur Zeit der Weltkrise anlangte, hatte er Angst: Eng verbunden mit England, in dem er viele Jahre der Emigration verbrachte, konnte Bernstein psychologisch nichts mit der anglophoben Raserei zu tun haben, in der sich im Gefolge der bürgerlichen Parteien9, die deutschen Nationalopportunisten übten. Bei David, bei Legien, bei Schippel und bei Südekum konnte Bernstein nicht länger bleiben, er machte ein paar Schritte vorwärts, und Kautsky, der sich über den akuten Konflikt in der Partei, im Parlament, auf dem Land erschrak, machte ein paar Schritte rückwärts – und so trafen sich zwei alte Freunde, die später scheinbar unversöhnliche Gegner wurden, wieder ... auf halbem Wege ... Zu ihnen trat der Dritte hinzu, Haase, der erste Vorsitzende der Partei, ein Mann, für den es eine zu große Bürde war, Bebels Stellvertreter zu sein. Als Vorsitzender der Partei wurde Haase bald durch ihren mächtigen organisatorischen Automatismus niedergedrückt. Die deutsche Partei, die deutschen Gewerkschaften sind ein ganzer Staat im Staate. Und zur Zeit des Krieges und der Krise hatte die an Erschütterungen nicht gewöhnte Parteibürokratie ganz konservative Angst um die Unversehrtheit der Organisation und schlug sich instinktiv auf die Seite des Staates, in dessen Schatten die Partei gebildet wurde. Haase fand in sich selbst und in seinem eigenen Depot nicht die Kraft und Entschlossenheit, offen der höchsten sozial-nationalistischen Strömung entgegenzutreten und sich an die öffentliche Meinung der Partei zu wenden. Er machte seine Einwände innerhalb der Fraktion, aber vor der Außenwelt wahrte er den Schein der Einheit und am 4. August letzten Jahres übernahm er sogar die Verpflichtung, die Erklärung zu verlesen, der er nicht zustimmte. Als die weitere Entwicklung dieses Kurses ihn erschreckte, hatte er keine andere Wahl, als seine Verwirrung der Verwirrung von Kautsky und Bernstein hinzuzufügen. Die drei traten mit einem spezielles Brief-Manifest gegen Annexionen hervor. Der Schritt ist zweifellos ein sehr respektabler, der den herrschenden Parteikurs definitiv traf: Die Autorität der Namen, die das Manifest unterzeichneten, lenkte die Aufmerksamkeit von Hunderttausenden von Arbeitern auf die in dem Brief gestellte Frage. Aber die Autoren selbst stoppten hilflos auf dem Weg und werden wahrscheinlich nicht weiter gehen. Deshalb liegt die Führung der dem Imperialismus feindlichen Bewegung nicht in ihren Händen10 ... Man muss im Allgemeinen die Schlussfolgerung ziehen, dass die Geschichte jetzt die nächste Schicht aufruft, eine neue, jüngere Generation, auf deren Rücken nicht die schwere Last von Gewohnheiten, Traditionen und Routine lastet, und die in der Lage ist, entschlossener und selbstloser auf die Stimme einer neuen Epoche – von Eisen und Blut, Stürmen und Umwälzungen – zu reagieren. 1 In der französischen Übersetzung fehlt „durch eine scharfe Grenze“. 2 In der französischen Übersetzung: „Wir lehnen sie kategorisch ab“ 3 In der französischen Übersetzung: „Annexionen“ 4 Fehlt in der französischen Übersetzung 5 In der französischen Übersetzung: „dramatisch“ 6 In der französischen Übersetzung: „völlig“ 7 In der französischen Übersetzung: „-regime“ 8 In der französischen Übersetzung: „mit siebzig“ – Kautsky war damals 61. 9 In der französischen Übersetzung fehlt „im Gefolge der bürgerlichen Parteien“ 10 In der französischen Übersetzung: „Die Macht der Partei liegt nicht in ihren Händen, deshalb ist sie dem Imperialismus feindlich gesinnt.“ |
Leo Trotzki > 1915 >