Leo Trotzki: „Sie sind von einem anderen Geist." [„Nasche Slowo“, Nr. 113, 13. Juni 1915, eigene Übersetzung nach dem russischen Text, Л. Троцкий: Война и революция. Крушение второго интернационала и подготовка третьего. Том II. Петроград 1922, стр. 253-256, verglichen mit der französischen Übersetzung]
Die erste (April) Ausgabe der Internationale, der Zeitschrift Rosa Luxemburgs und Franz Mehrings, wurde jetzt in der Schweiz neu aufgelegt. Erst jetzt hatten wir die Gelegenheit, die Zeitschrift kennenzulernen, die seinerzeit von der deutschen Polizei, die den „Burgfrieden" sorgsam bewachte, fast vollständig1 konfisziert worden war. Es gibt keine Artikel in der Zeitschrift, die das Wesen des Krieges und die historischen Ursachen der Krise der Internationale untersuchen würden. Das erste Heft setzt sich Kampfziele: Das Verhalten der offiziellen Partei, die ihren mächtigen Mechanismus in den Dienst der imperialistischen Interessen stellte, unter die Lupe zu nehmen. Dem offiziellen Kurs den Kurs des Klassenkampfes entgegenzustellen. In dem Heft werden Luthers Worte über seine ideologischen Feinde mehrfach zitiert: „Sie sind von einem anderen Geist". Die Aufgabe des ersten Hefts (vorläufig bleibt es auch das letzte) ist, den „Geist" des Marxismus dem „Geist" des Sozialnationalismus entgegenzustellen.2 Im Mittelpunkt des Hefts steht ein Artikel der Genossin Rosa Luxemburg, den sie vor der Haft geschrieben hat. Die Hauptgedanken des Artikels sind wie folgt. Sozialismus oder Imperialismus – diese Alternative hat die politische Orientierung der Arbeiterparteien im letzten Jahrzehnt erschöpfend3 charakterisiert ... Mit der Explosion des Weltkrieges wurde das Wort Fleisch4, die Alternative verwandelte sich aus einer historischen Tendenz5 in eine politische Lage. Vor diese Alternative gestellt, die sie vorher kannte und in das Bewusstsein der Massen brachte, machte die Sozialdemokratie ... den Weg ohne Kampf für den Imperialismus frei. Nie zuvor seit es in der Geschichte Klassenkämpfe gibt, seit es politische Parteien gibt, gab es eine Partei, die auf diese Art und Weise nach fünfzig Jahren kontinuierlichem Wachstum, nachdem sie eine erstklassige Stellung gewonnen hatte, Millionen um sich vereinigt hatte, innerhalb von 24 Stunden als politischer Faktor vom Angesicht der Erde verschwand, wie es mit der deutschen Sozialdemokratie geschah. Rosa Luxemburg drischt empört auf Kautsky und die österreichischen Marxisten ein, die eine Politik des Nichtwiderstehens gegen das Böse und des passiven Wartens auf das Ende des Krieges durchführen und predigen. „Diese Theorie des freiwillig sich selbst auferlegten Skopzentums6, die die Tugend des Sozialismus nur dadurch schützt, dass sie sich im entscheidenden Moment der Weltgeschichte als Faktor völlig ausschließt, leidet an der Grundsünde aller politischen Berechnungen der Impotenz: sie macht die Rechnung ohne den Wirt7.“8 Den Gedanken, dass der Klassenkampf und die Internationale eine Sache der Friedenszeit sei, dass sich im Krieg alle Kräfte der Nation unweigerlich auf Selbstverteidigung konzentrieren müssten9, lehnt Rosa Luxemburg mit Empörung ab – nicht nur als politische Kapitulation, sondern auch als theoretischen Verrat am Marxismus. „Für das Proletariat gibt es also nicht eine Lebensregel, wie sie bisher vom wissenschaftlichen Sozialismus verkündet wurde, sondern zwei: eine für Frieden und eine für Krieg. Während des Friedens herrscht in jedem Land der Klassenkampf, außen internationale Solidarität10: Während Kriegszeiten herrscht Solidarität der Klassen im Innern, Kampf zwischen Arbeitern11 verschiedener Länder draußen ... Aber der proletarische Klassenkampf ist nur eine notwendige Folge der Lohnarbeitsverhältnisse und der politischen Vorherrschaft der Bourgeoisie.12 Während des Krieges verschwinden nicht Lohnarbeitsverhältnisse13 ein wenig, im Gegenteil, ihre Schwere wird durch Spekulationen und Gründertum, die auf dem fetten Boden der Militärindustrie gedeihen, und auch durch den Druck der Militärdiktatur auf die Arbeiter noch verstärkt14. Die politische Klassenherrschaft der Bourgeoisie hört in gleicher Weise während des Krieges nicht auf: im Gegenteil, sie wird, dank der Beseitigung aller verfassungsmäßigen Rechte, zur Klassendiktatur erhoben.“15 Entweder bleibt die Internationale auch nach dem Krieg ein Trümmerhaufen, oder ihre Restauration wird auf der Grundlage des Klassenkampfes beginnen, von dem nur sie ihre lebenswichtigen Säfte gewinnen kann. Sie kann nicht dadurch belebt werden, dass nach dem Krieg die alte Drehorgel16 herausgeholt wird, auf der alte Melodien mit göttlicher Gelassenheit gespielt werden, als wäre seit dem 4. August nichts mehr geschehen. Nein, „nur durch „grausam- rücksichtslose Verhöhnung der eigenen eigene Halbheit und Schwäche“, auf dem Wege der Liquidierung aller Taktiken seit dem 4. August kann die Wiederherstellung der Internationale beginnen. Der erste Schritt in diese Richtung ist der Kampf für eine baldige Beendigung des Krieges, für einen Frieden, die ein Frieden im gemeinsamen Interesse des internationale Proletariats sein würde.“17 Sich der Kritik an den Äußerungen der sozialdemokratischen Fraktion gegen die Annexionspolitik zuwendend, sagt die Autorin: „Es sind keine feierlichen Erklärungen im Parlament, gegen jede Eroberungspolitik, die für den Ausgang des Krieges entscheidend sind, sondern die Verteidigung der Losung des „Durchhaltens“18. Der Krieg für dessen Fortsetzung Scheidemann und andere auftreten, hat seine eigene Logik, deren berufene Träger jene kapitalistischen Elemente sind, die jetzt in Deutschland wirtschaften, und nicht die bescheidenen Figuren der sozialdemokratischen Parlamentarier oder Redakteure, die nur die Steigbügel der Herren halten ... Die rettende Aktion zur Wiederherstellung des Friedens und der Internationale kann nur von den sozialistischen Parteien der kriegführenden Länder ausgehen, und der erste Schritt zum Frieden und zur Internationale ist die entschiedene Umkehr auf dem Weg des Sozialimperialismus.19 In dem Artikel „Für den Frieden"20 führt Clara Zetkin alle Zeichen der politischen Ernüchterung und des Erwachens des sozialistischen Gewissens und des revolutionären Bewusstseins unter den Arbeiterparteien verschiedener Länder an … Der Artikel endet mit einem Aufruf an die deutsche Sozialdemokratie, den Weg des Kampfes für den Frieden einzuschlagen. „Mit den Führern, wenn sie sich endlich entschließen, ohne sie, wenn sie weiter zögern, gegen sie, wenn sie anfangen zu bremsen, kann nur diese Art von Friedenskampf die erste solide Grundlage für die Wiederherstellung der proletarischen Internationale legen."21 Franz Mehring beweist im Artikel „Unsere Lehrer und die Politik der Instanzen", dass der neue Parteikurs, der seine Arbeit unter Bezugnahme auf die Handlungen und Aussagen von Marx, Engels und Lassalle, die übrigens den prominentesten Vertretern des neuen Kurses vor dem Krieg als „obsolet" galten, zu vertuschen sucht – dass dieser neue Kurs tatsächlich einen vollständigen und entschiedenen Bruch mit den Methoden der marxistischen Orientierung in der Politik und eine Kapitulation vor den Interessen der Klassenfeinde darstellt, der kaum durch Überlegungen vulgären politischen Empirismus verdeckt wird. Die Politik der Parteiinstanzen – so Mehring abschließend – stellt einen völligen Bruch mit dem geistigen Erbe unserer Lehrer, mit der ganzen Geschichte und mit allen Grundlagen der deutschen Sozialdemokratie dar. Die logische Konsequenz dieser Politik wäre eine national-soziale Arbeiterpartei, die sich mit dem Militarismus und der Monarchie versöhnte und mit der Anzahl der Reformen zufrieden wäre, die für das Proletariat auf der Grundlage der kapitalistischen Gesellschaft erreichbar sind.... Es wäre gleichbedeutend mit einer Vergiftung der Arbeiterbewegung auf unbestimmte Zeit, wenn dieser klaffende Riss, der die Gegenwart von der Vergangenheit trennt, versiegelt und mit klangvollen Worten verschlossen würde.22 … Gegen diese Selbstverfälschung, gegen diese miserable, feige Fälschung der Methoden des wissenschaftlichen23 Sozialismus für ihm todfeindliche24 Ziele fordert Franz Mehring einen rücksichtslosen Kampf unter dem Banner des Marxismus. Man muss deutlich zeigen, dass wir und sie verschiedenen Geistes sind! 1 In der französischen Übersetzung „immer“ statt „fast vollständig“ 2 In der französischen Übersetzung lautet der Satz: „Der ,Geist' des Marxismus wird dem ,Geist' des Sozialnationalismus entgegengestellt.“ 3 In der französischen Übersetzung „in jüngster Zeit“ statt „im letzten Jahrzehnt erschöpfend“ 4 In der französischen Übersetzung fehlt: „wurde das Wort Fleisch“ 5 In der französischen Übersetzung fehlt: „aus einer historischen Tendenz“ 6 In der französischen Übersetzung fehlt: „des freiwillig sich selbst auferlegten Skopzentums“ 7 In der französischen Übersetzung „das Hotel“ 8Diese Theorie des freiwillig übernommenen Eunuchentums, die die Tugend des Sozialismus nur dadurch wahren zu können glaubt, das sie ihn in den entscheidenden Momenten der Weltgeschichte als Faktor ausschaltet, leidet am Grundfehler aller Rechnungen der politischen Impotenz: dass sie nämlich ohne den Wirt gemacht ist. 9 In der französischen Übersetzung: „Die Meinung, dass sich der Klassenkampf und die Internationale nicht der Selbstverteidigung widmen sollten“ 10 In der französischen Übersetzung: „hier greift die internationale Solidarität ein“ 11 In der französischen Übersetzung: „Werktätigen“ 12 In der französischen Übersetzung: „Aber der proletarische Kampf ist nur die Folge der Kontrolle der Bourgeoisie.“ 13 In der französischen Übersetzung: „sie“ 14 In der französischen Übersetzung: „sein Schicksal wird durch Spekulationen und die Folgen der Militärdiktatur für die Arbeiter noch erschwert“. 15Es gibt für das Proletariat nicht eine Lebensregel, wie es der wissenschaftliche Sozialismus bisher verkündete, sondern es gibt deren zwei: eine für den Frieden und eine für den Krieg. Im Frieden gelte im Innern jedes Landes der Klassenkampf, nach außen die internationale Solidarität, im Kriege gelte im Innern die Klassensolidarität, nach außen der Kampf zwischen den Arbeitern verschiedener Länder. (…) Nun ist der proletarische Klassenkampf nur eine notwendige Folgeerscheinung des Lohnverhältnisses wie der politischen Klassenherrschaft der Bourgeoisie. Aber während des Krieges schwindet das Lohnverhältnis nicht im geringsten, im Gegenteil, die Ausbeutung wird durch Spekulation und Gründerfieber, die auf dem üppigen Boden der Kriegsindustrie blühen, sowie durch den Druck der Militärdiktatur auf die Arbeiter gewaltsam gesteigert. Die politische Klassenherrschaft der Bourgeoisie hört ebenso wenig im Kriege auf, im Gegenteil, sie wird durch die Aufhebung der Verfassungsrechte zur nackten Klassendiktatur erhoben.“ 16 In der französischen Übersetzung: „Akkordeon“ 17 Nur durch eine „grausam gründliche Verhöhnung der eigenen Halbheiten und Schwächen“, des eigenen moralischen Falls seit dem 4. August, durch die Liquidierung der ganzen Taktik seit dem 4. August kann der Wiederaufbau der Internationale beginnen. Und der erste Schritt in dieser Richtung ist die Aktion für die baldigste Beendigung des Krieges wie für die Gestaltung des Friedens nach dem gemeinsamen Interesse des internationalen Proletariats. 18 In der französischen Übersetzung fehlt „sondern die Verteidigung der Losung des ,Durchhaltens'“ 19Nicht die feierlichen „Erklärungen“ im Parlament „gegen jede Eroberungspolitik“ sind offenbar maßgebend für den Ausgang des Krieges, sondern die Befürwortung des „Durchhaltens“. Der Krieg, für dessen Fortsetzung die Scheidemann und Konsorten plädieren, hat seine eigene Logik, deren berufene Träger diejenigen kapitalistisch-agrarischen Elemente sind, die heute in Deutschland im Sattel sitzen, nicht aber die bescheidenen Figuren der sozialdemokratischen Parlamentarier und Redakteure, die ihnen bloß die Steigbügel halten. (…) Die rettende Tat zur Wiederherstellung des Friedens wie der Internationale kann nur von den sozialistischen Parteien der kriegführenden Länder ausgehen. Der erste Schritt zum Frieden wie zur Internationale ist hier die Umkehr auf der Bahn des Sozialimperialismus. 20 In der französischen Übersetzung: „In einem Artikel von Za mir“ („Za mir“ oder „Sa mir“ ist russische für „Für den Frieden“!) 21Mit den Führern, wenn diese sich endlich entscheiden; ohne sie, wenn sie noch weiter unentschlossen zögern; gegen sie, wenn sie bremsen wollen. Eine solche Friedensaktion allein könnte die ersten festen Fundamente legen für den Wiederaufbau der Arbeiterinternationale. 22Dagegen wäre es gleichbedeutend mit einer Vergiftung der Arbeiterbewegung auf unabsehbare Zeit, wenn der klaffende Riss, der die Gegenwart von der Vergangenheit trennt, mit tönenden Schlagworten verkleistert und vertuscht, wenn die Arbeitermassen in eine Selbsttäuschung gejagt werden könnten, die ihnen das Blut aus den Adern und das Mark aus den Knochen saugen müsste. 23 Fehlt in der französischen Übersetzung 24 In der französischen Übersetzung: „tödliche“ |
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