Leo Trotzki: Ohne Maßstab [„Nasche Slowo", Nr. 141, 17. Juli 1915, eigene Übersetzung nach dem russischen Text, Л. Троцкий: Война и революция. Крушение второго интернационала и подготовка третьего. Том II. Петроград 1922, стр. 258-262, verglichen mit der französischen Übersetzung] Der lange Brief von W. Kossowski1, den wir in Nr. 137 von „Nasche Slowo" abgedruckt haben, stellt nur die Verwirrung der Begriffe und Definitionen wieder her, in die wir in unserem Leitartikel, der Kossowskis Tadel hervorrief, eine gewisse Ordnung bringen wollten,. Der Autor des Briefes bestreitet nachdrücklich seine Vorliebe für den „deutschen Maßstab". Was ist der deutsche Maßstab?“ fragt er: „Die internationale Politik des deutschen Imperialismus?“ Kossowski sympathisiert natürlich nicht mit ihm, aber er betrachtet seine Sympathie für die deutsche Sozialdemokratie nicht als Sünde. Das Wesen der Sache ist jedoch, dass sich die deutsche Sozialdemokratie in Gestalt ihrer offiziellen Organisationen2 der Politik der deutschen Regierung angeschlossen hat. Man kann die Ansichten der Reichstagsfraktion teilen oder nicht teilen, aber wer sie teilt oder billigt, erkennt damit an, dass die deutsche internationale Politik das Recht auf Unterstützung durch die Partei des Proletariats hat. Nachdem die Partei ihre Kräfte und Autorität in den Dienst der Regierung gestellt hat, ist es unmöglich, die Haltung zur Politik der sozialistischen Diener mechanisch von der Haltung zur Politik der imperialistischen Kommandeure zu trennen: Kossowski versucht jedoch, das ist wahr, selbst das Faktum des Dienens3 der deutschen Sozialdemokratie zurückzuweisen, aber wenn die Abstimmung für Kredite und politisches Vertrauen, die Ablehnung des Klassenkampfes, die Auflösung der eigenen Politik in der Politik des von den Junkern geführten nationalen Blocks, wenn all dies nach Ansicht von Kossowski kein politischer Dienst am Imperialismus wäre, dann sprächen wir im Allgemeinen verschiedene Sprachen, und wir müssten uns mit Kossowski noch über grundlegende Konzepte auf dem Gebiet der proletarischen Politik einigen. Unser Gegner versucht, seine friedliche Haltung gegenüber der offiziellen deutschen Partei auf ein neues, völlig unabhängiges Argument zu stützen: In ihren Reihen „vollzieht sich eine gewaltige Arbeit der Selbstkritik, sie lebt weiterhin ein intensives geistiges Leben unter dem Joch der Militärdiktatur und sucht schmerzhaft einen Ausweg aus der ideologischen Krise....“ Das ist völlig richtig. Doch worin genau besteht das „intensive geistige Leben" der deutschen Sozialdemokratie? Im unversöhnlichen Kampf der Strömungen: Der linke Flügel erhob sich unter dem Banner des Internationalismus gegen die offiziellen Führer, die vor dem Imperialismus kapitulierten, Das Zentrum versuchte, das „intensive, intellektuelle Leben" zu lähmen, indem es auf den Charakter des Moments und4 die Interessen der Einheit der Partei verwies. Dadurch wird es selbst von den unversöhnlichen Tendenzen ausgehöhlt und drängte seine maßgeblichsten Vertreter in die Opposition. Wem und was schenkt Kossowski seine Sympathie? Für einen Sozialisten, der verpflichtet ist, aktiv am geistigen Leben seiner internationalen Gemeinschaft teilzunehmen, ist es zu billig, alle Sünden (die Kossowski übrigens nur halb anerkennt) der gesamten deutschen Sozialdemokratie angesichts der in ihr bestehenden unterschiedlichen Strömungen zu vergeben5. Man muss mehr tun, man muss für oder gegen bestimmte Strömungen Stellung beziehen und sich nicht das Recht auf das historische Protektorat über den Prozess in seiner Gesamtheit6 zuweisen. Kossowski steht für „eine vorsichtige Haltung gegenüber den sogenannten offiziellen Parteien, insbesondere gegenüber der deutschen Sozialdemokratie". Vorsicht ist eine respektable Eigenschaft, wenn man sie der Entschlossenheit und dem Mut bei der Umsetzung einer bestimmten Linie unterordnet. Aber unter dem Lärm der Aufrufe zur „Vorsicht" versuchen und bemühten sich die Parteiführer auch, den internationalistischen Flügel zu erwürgen. Mit wem oder mit was ist Kossowski in diesem Kampf auf Leben und Tod? Kossowski ist mit „Vorsicht", und nur damit. 7Aber dies ist hier tödlich wenig. Wenn wir behaupten, dass „in den Hauptparteien der Internationale ein völliger Zerfall stattfindet, dass der sozialistische Imperialismus überall gesiegt hat, dann....", sagt uns Kossowski, „ist unsere Sache völlig hoffnungslos". Welche Sache? Die Sache der Rettung von Parteizentren, offiziellen Organisationen und vieler ehrwürdiger Reputationen 8– deren Rettung um jeden Preis? Ja, dieser Fall kann als hoffnungslos betrachtet werden, aber die Sache des sozialistischen Proletariats, das in der vergangenen Epoche eine unzureichende, aber immer noch gewaltige sozialistische Schulung erhielt, dessen Sache ist keineswegs hoffnungslos, nachdem sich die geistige und moralische Kraft einer ganzen Generation von großen und kleinen „Führern" erschöpft hat. Diese Nicht-Hoffnungslosigkeit beweist sich am besten dadurch, dass aus den Tiefen des organisiertesten Proletariats der Protest gegen die Politik aufsteigt und ständig wächst, die alles in sich zusammenfasst, was in der Praxis und Ideologie der Zweiten Internationale rückständig, träge, begrenzt und reaktionär war. Mutige und rücksichtslose Kritik und Selbstkritik ist eine notwendige Voraussetzung, um aus der vermeintlichen Hoffnungslosigkeit herauszukommen. Wer das heute nicht versteht, kann es vielleicht morgen verstehen. Und wer das nicht versteht, wird durch die Bewegung in die Kategorie der ohnmächtigen Beobachter zurückgeworfen. Charakteristisch für Kossowskis Position ist seine Arroganz gegenüber den linken Elementen verschiedener sozialistischer Parteien, die Kontakt und Annäherung untereinander suchen! Die Internationale, sagt er, wird nur als eine Summe alter Parteien wiedergeboren werden: deshalb ist es notwendig, die Widersprüche zwischen ihnen abzustumpfen. Was die Vereinigung von Minderheiten und Opposition betrifft, so wird sie „nur einen elenden Zirkel, eine Sekte, eine Karikatur der Internationalen, ohne jeglichen Einfluss und Bedeutung" ergeben. Wen betraut Kossowski nun mit der Arbeit der Wiederherstellung der Internationalen: diejenigen, die sie mit der Politik der nationalen Blöcke getötet haben, oder diejenigen, die unter dem Banner des Klassenkampfes die Initiative zu ihrer Wiedergeburt ergreifen? Wenn wir denken oder befürchten könnten, dass die Politik der nationalen Vereinigung die Arbeiterklasse nach der gegenwärtigen, gewaltigen Welterschütterung in ihren Ketten halten könnte, dann würden wir denken, dass unsere Sache – die Sache des Sozialismus und die Sache des linken Flügels der Internationalen – wirklich hoffnungslos sei, aber wir sind davon überzeugt – und alle Symptome sagen, dass wir Recht haben –, dass der Bau des nationalen Blocks fatal über den Köpfen jener einstürzen wird, die ihn errichtet haben. Die Aufgabe besteht darin, die Arbeitermassen in diesem Moment mit der Klarheit des Bewusstseins ihrer revolutionären Ziele zu bewaffnen, das ist unsere Aufgabe, des linken Flügels in der Internationalen, und wenn wir nach Annäherung suchen, ist es nicht, um „Sekten" zu schaffen oder den ersten Schritt organisatorisch zu verfestigen, sondern um unserem Kampf gegen den Nationalismus auf dem ganzen Feld der „alten" Parteien und Organisationen des Proletariats sofort eine internationale Dimension zu verleihen – Kossowski kann uns nicht verzeihen, dass wir dem „Vorwärts“ seinen seinerzeitigen öffentlichen Verzicht auf den Klassenkampf nicht verzeihen konnten: „Ein lebender Hund9", belehrt uns unser Gegner, „ist immer noch nützlicher als ein toter Löwe.“ Wir müssen uns leider weigern, dieses neue Prinzip des revolutionären Sozialismus10 in unser geistiges Arsenal aufzunehmen und empfehlen Kossowski dringend, dieses Prinzip mit „Vorsicht" anzuwenden. Weder eine Organisation noch eine Zeitung sind letztlich Selbstzweck. Die Zeitung ist gut und notwendig, weil sie eine geistige Verbindung zwischen den atomisierten Teilchen der Klasse herstellt – es gibt Momente, in denen eine solche Verbindung … das Verschwinden der Zeitung bewirkt. Das Zentralorgan unterzeichnete seine Abdankung, indem es den Arbeitermassen sagte, dass die Sozialdemokratie in dieser Epoche Aufgaben habe, bei denen sie auf den Klassenkampf verzichten könne11. Die Schließung des „Vorwärts“ hätte den Massen gesagt, dass der Klassenkampf immer noch das höchste Kriterium der proletarischen Politik ist: durch sein Verschwinden hätte der Vorwärts die Propaganda fortgesetzt, die er während seiner gesamten Existenz aufrecht erhalten hatte. Und wer weiß? Vielleicht würde das Ergebnis eines solchen Verhaltens, das sich sofort in den Reihen der Arbeiter und Soldaten widerspiegeln würde, die Militärbehörden dazu veranlassen, in ihrem eigenen Interesse ihr für die Sozialdemokratie schändliches Ultimatum aufzuheben. Und der „Vorwärts" könnte wiedergeboren werden, ohne den „hündischen" Stempel auf der Stirn. Und indem er den Stempel angenommen hatte, sicherte er sich nicht gegen weitere Schließungen. Kossowski nennt unseren Maßstab „altmodisch". Er ist nur insofern altmodisch, als wir in der gegenwärtigen historischen Bewährungsprobe Loyalität zu den besten Traditionen des revolutionären Sozialismus fordern, und wir werden diesen Maßstab nicht aufgeben, und das traurige Beispiel Kossowskis überzeugt uns nur, dass wir Recht haben: Da er sich nicht entschließt, den „neuen“ Maßstab des Sozial-Militarismus anzunehmen, steht uns unser Opponent ohne jeglichen Maßstab gegenüber. Deshalb ist sein langer Brief so arm an Ideengehalt. 1 W. Kossowski, ein Literat des „Bund“ sandte einen Brief an die Redaktion von „Nasche Slowo“ unter dem Titel „altmodischer Maßstab“. 2 In der französischen Übersetzung: „Führer“ 3 In der französischen Übersetzung: „Domestizierung“ 4 In der französischen Übersetzung fehlt: „den Charakter des Moments und“ 5 In der französischen Übersetzung: „vernachlässigen“ 6 In der französischen Übersetzung: „im Ablauf“ 7 In der französischen Übersetzung fehlt der Satz. 8 In der französischen Übersetzung fehlt der Schluss des Satzes. 9 In der französischen Übersetzung: „Klient“ [Lesefehler für chien?] 10 In der französischen Übersetzung fehlt: „des revolutionären Sozialismus“ 11In der französischen Übersetzung: „dass in diesem Moment das Problem des Sozialismus in der Verweigerung des Klassenkampfes bestehe“ |
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