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Leo Trotzki 19150730 Jean Jaurès

Leo Trotzki: Jean Jaurès

[„Kijewskaja Mysl" Nr. 196, 17./30. Juli 1915, eigene Übersetzung nach dem russischen Text, verglichen mit der englischen Übersetzung]

Seit dem Tage des Todes des größten Menschen der dritten Republik ist ein Jahr vergangen. Ereignisse, welche es in der Geschichte noch nicht gab, strömten jetzt sozusagen dazu zusammen, das Blut von Jaurès mit anderem Blut abzuwaschen, die Aufmerksamkeit von ihm wegzuschieben, das Gedenken an ihn zu überfluten. Aber auch den größten Ereignissen gelang das nur teilweise. Im politischen Leben Frankreichs verblieb eine große Leere. Neue Führer des Proletariats, die dem revolutionären Charakter der neuen Epoche entsprechen, sind noch nicht aufgestiegen. Die alten Führer zwingen uns nur, uns klarer zu erinnern, dass Jaurès nicht mehr ist …

Der Krieg schob nicht nur einzelne Figuren, sondern auch eine ganze Epoche zur Seite – jene, in deren Verlauf eine Generation aufwuchs und erzogen wurde, die jetzt in allen Lebensbereichen leitet. Jetzt zieht diese vergangene Epoche auch unsere Gedanken durch die Hartnäckigkeit ihrer Kulturanhäufungen, ihr ununterbrochenes Wachsen der Technik, Wissenschaft, Arbeiterorganisationen an – und scheint zur gleichen Zeit klein und unpersönlich im Konservativismus seines politischen Lebens, in den reformistischen Methoden ihres Klassenkampfes.

Nach dem Französisch-Preußischen Krieg und der Pariser Kommune (in den Jahren 1870-1871) brach eine Periode bewaffneten Friedens und politischer Reaktion herein. Europa kannte, wenn man Russland nicht berücksichtigt, weder Krieg noch Revolution. Das Kapital entfaltete sich mächtig, überstieg den Rahmen der Nationalstaaten, strömte in die übrigen Länder hinaus, unterwarf sich Kolonien. Die Arbeiterklasse baute ihre Gewerkschaftsverbände und ihre sozialistischen Parteien auf. Jedoch der ganze Kampf des Proletariats in dieser Epoche war durchdrungen vom Geist des Reformismus, der Anpassung an die existierende Struktur, an die nationale Industrie und den Nationalstaat. Nach der Erfahrung der Pariser Kommune stellte das europäische Proletariat die Frage der Eroberungen der politischen Macht nicht ein einziges Mal praktisch, d.h. revolutionär. Dieser friedliche, „organische" Charakter der Epoche erzog eine ganze Generation proletarischer Führer, die völlig von Misstrauen zum unmittelbaren revolutionären Kampf der Massen durchdrungen war. Als der Krieg ausbrach und der Nationalstaat völlig kampfbereit seinen Feldzug begann, brachte er1 die Mehrheit der „sozialistischen" Führer ohne Mühe auf die Knie. Die Epoche der Zweiten Internationale endete auf diese Weise mit dem grausamen Scheitern der offiziellen sozialistischen Parteien. Sie stehen noch, das ist wahr, als Denkmäler der vergangenen Epoche und werden durch Konservatismus und … die Anstrengungen der Regierung aufrecht erhalten. Aber der Geist des proletarischen Sozialismus verflog aus ihnen und sie sind zum Verschrotten verdammt. Die Arbeitermassen, die in den verflossenen Jahrzehnten die Ideen des Sozialismus angenommen haben, erhalten erst jetzt, in den furchtbaren Prüfungen des Krieges, eine revolutionäre Härtung. Wir treten in eine Periode beispielloser revolutionärer Erschütterungen ein. Neue Organisation werden von den Massen aus ihrem Milieu aufgestellt werden, und neue Führer werden an ihrer Spitze sein.

Die zwei größten Vertreter der Zweiten Internationale gingen vor dem Anbruch der Epoche des Sturms und des Bebens von der Bühne: Bebel und Jaurès. Bebel starb als alter Greis, nachdem er alles gesagt hatte, was er sagen konnte. Jaurès wurde im 55. Jahre umgebracht, in der Blüte seiner schöpferischen Energie. Als Pazifist und extremer Gegner der Politik der russischen Diplomatie kämpfte Jaurès bis zur letzten Minute gegen die Einmischung Frankreichs in den Krieg. In gewissen Kreisen meinten sie, dass der „Befreiungs"-Krieg seinen Lauf nicht anders eröffnen könne, als indem er über die Leiche Jaurès schritt. Und im Juli2 des Jahres 1914 ermordete ein gewisser Villain, ein nichtiger junger Reaktionär, Jaurès hinter dem Tischchen eines Cafés. Wer schickte Villain? Allein die französischen Imperialisten? Und kann man nicht, wenn man eine Zeitlang aufmerksam sucht, hinter dem Rücken Villains auch die Hände der Zarendiplomatie enthüllen? Diese Frage wurde nicht selten in sozialistischen Kreisen gestellt. Wenn die europäische Revolution sich mit der Liquidierung des Krieges befassen wird, wird sie uns gleichzeitig auch das Geheimnis des Todes Jaurès enthüllen…

*

Jaurès wurde am 3. September des Jahres 1859 in Castres, in der Südprovinz Languedoc geboren, aus welcher viele große Menschen Frankreichs hervorgingen: Guizot, Auguste Comte, Lafayette, La Pérouse, Rivarol und andere. Ein Gemisch zahlreicher Rassen, – merkt der Biograph Jaurès' Rappoport* an, – hinterließ einen glücklichen Abdruck auf dem Genius dieser Gegend, welche schon im Mittelalter eine Wiege von Häresie und freien Gedanken war.

Die elterliche Familie von Jaurès gehörte der mittleren Bourgeoisie an und führte einen beständigen Kampf um ihre Existenz. Jaurès benötigte sogar einen Gönner für die Beendigung seines Universitätsunterrichts. Im Jahr 1881 vollendete er den Kurs an der École normale [superieure]3. Vom Jahre 1881 bis zum Jahre 1883 war er Lehrer am Lyzeum für junge Mädchen in Albi, aber danach geht er an die Toulouser Universität über und hat da bis zum Jahre 1885 eine Professur inne, als man ihn erstmals als Deputierten ins Parlament wählt. Er war damals gerade einmal 26 Jahre. Von dieser Zeit bis zum Tage des Todes geht das Leben Jaurès im politischen Kampf auf und verschmilzt mit dem Leben der dritten Republik.

Im Parlament debütierte Jaurès in der Frage der Volksbildung. „La Justice" („Die Gerechtigkeit"), die damalige Zeitung des Radikalen Clemenceau, bezeichnete die erste Rede von Jaurès als „wunderbar" und wünschte der Kammer, häufig „solch redegewandte und solch inhaltsvolle Worte" zu hören. in der Folge musste sich Jaurès nicht nur einmal mit der ganzen Kraft seiner Rede auf den Tiger – Clemenceau – stürzen.

Mit dem Sozialismus war Jaurès in dieser ersten Epoche seiner Tätigkeit rein theoretisch und überaus unvollständig bekannt. Aber jede neue Rede brachte diesen der Arbeiterpartei immer näher. Die Ideenlosigkeit und Verderbtheit der bürgerlichen Parteien4 stieß ihn unversöhnlich fort.

Im Jahre 1893 schloss Jaurès sich abschließend der sozialistischen Bewegung an und nimmt beinahe sofort einen der ersten Plätze im europäischen Sozialismus ein. In der selben Zeit wird er die hervorragendste Figur im politischen Leben Frankreichs.

Im Jahre 1894 trat Jaurès in der Eigenschaft des Verteidigers seines wenig anziehenden Freundes Gérault Richard auf, der damals wegen Beleidigung des damaligen Präsidenten der Republik durch den Artikel „Nieder mit Casimir" vor Gericht gebracht wurde. In seiner Gerichtsrede, welche völlig auf politische Ziele ausgerichtet war, zeigte Jaurès an die Adresse von Casimir-Perier jene furchtbare Kraft eines wirkungsvollen Geistes, deren Name Hass ist. In mit Gnadenlosigkeit getränkten Worten charakterisierte er den Präsidenten selbst und dessen nächste Vorfahren als Wucherer, welche die Bourgeoisie an den Adel verrieten, den Adel an die Bourgeoisie, eine Dynastie an die andere, die Monarchie an die Republik, alle zusammen und jeden für sich, nur sich selbst nicht verrieten. Der Vorsitzende des Gerichts hielt es für erforderlich, auszurufen: „Herr Jaurès, Sie gehen zu weit … Sie vergleichen das Haus Perier mit einem Hurenhaus". Jaurès: „Ich vergleiche es nicht, sondern ich stelle dieses als niedriger als jenes dar". Gérault Richard wurde freigesprochen. Einige Tage danach reichte Casimir Perier den Rücktritt ein. In der öffentlichen Meinung wuchs Jaurès sofort um ein ganzes Haupt: alle fühlten die fürchterliche Kraft dieses Tribuns.

In der Dreyfussache5 zeigte Jaurès sich in ganzer Größe. Bei ihm gab es anfangs, wie auch in allen allgemeinen kritischen Fällen des gesellschaftlichen Lebens, eine Periode des Zweifels und der Schwäche, in der man auf ihn sowohl von rechts als auch von links hätte Einfluss nehmen können. Unter dem Einfluss von Guesde und Vaillant, welche sich zur Dreyfusiade als zu einer für das Proletariat gleichgültigen Rauferei kapitalistischer Cliquen verhielten, zögerte Jaurès, sich in die „Sache" zu verwickeln. Das entschlossene Beispiel Zolas stieß ihn aus dem Zustand des instabilen Gleichgewichts, steckte ihn an und riss ihn mit. Als er in Bewegung gebracht war, ging Jaurès bereits bis zum Ende. Er liebte über sich zu sagen: „Ago, quod ago" („ich mache, was ich mache").

In der Dreyfussache resümierte und dramatisierte sich für Jaurès der Kampf gegen den Klerikalismus, gegen die Reaktion, gegen die Parlamentsvetternwirtschaft, gegen Rassenhass und militaristische Verblendung, gegen Intrige hinter den Kulissen im Generalstab, gegen die Servilität der Gerichte, – gegen alle Niedertracht, welche die mächtige Partei der Reaktion in Bewegung bringen kann, um ihre Ziele zu erreichen.

Auf den Anti-Dreyfusiarden Méline, welcher vor kurzem als Minister im „großen" Briandschen Kabinett erneut auftauchte, stürzte sich Jaurès mit der ganzen Schwere seines Zorns: „Wissen Sie, an was wir alle kranken, an was wir gerade ums Leben kommen? Ich sage Ihnen das auf meine persönliche Verantwortung: seit jener Zeit, als die Sache eröffnet wurde, sterben wir alle an Halbherzigkeiten, an Unausgesprochenem, an Zweideutigkeiten, an Lügen, an Feigheit. Ja, an Zweideutigkeiten, Lügen und Feigheit". – „Er sprach bereits nicht“, – erzählt Reinach, – „er dröhnte mit purpurrotem Gesicht, mit den Ministern, welche protestierten, und der Rechten, welche jaulte, entgegen gestreckten Händen". Dies war Jaurès!

Im Jahre 1899 gelang es Jaurès, die Einheit der sozialistischen Partei zu verkünden. Aber sie stellte sich als flüchtig heraus. Die Beteiligung des Sozialisten Millerands am Kabinett als Schlussfolgerung aus der Politik des linken Blocks sprengte die Einheit, und in den Jahren 1900-1901 spaltete sich der französische Sozialismus erneut in zwei Parteien. Jaurès kam an die Spitze der einen von ihnen – jener, welche aus ihrem Milieu Millerand hervor brachte. Nach dem Wesen seiner Anschauungen war und blieb Jaurès Reformist. Aber er besaß eine verwunderliche Fähigkeit zur Anpassung – einschließlich auch an die revolutionären Tendenzen der Bewegung. Diese zeigte er in der Folge nicht nur einmal.

Jaurès trat in die Partei als reifer Mensch ein, mit einer gewachsenen idealistischen Weltanschauung … Dies stand ihm nicht im Weg, seinen kräftigem Nacken – Jaurès zeichnete sich durch eine athletische Statur aus – unter das Joch der organisatorischen Disziplin zu führen –, und er würde nicht nur einmal die Notwendigkeit und Gelegenheit haben zu beweisen, dass er nicht nur anordnen, sondern auch gehorchen konnte. Als Jaurès vom internationalen Kongress in Amsterdam zurückkehrte, wo die Politik der Auflösung der Arbeiterpartei im linken Block und die Beteiligung von Sozialisten am Kabinett missbilligt wurde, reißt er den Faden der Politik des Blocks offen ab. Der damalige Ministerpräsident, der kämpferische Antiklerikale Combes, warnte Jaurès, dass der Bruch der Koalition ihn zwinge, von der Bühne abzugehen. Dies hielt Jaurès nicht auf. Combes trat zurück. Die Einheit der Partei, die aus Jaurèsisten und Guesdisten verschmolz, war abgesichert. In diesem Moment verschmilzt das Leben Jaurès' abschließend mit dem Leben der vereinten Partei, an deren Spitze er kam.

Der Mord an Jaurès war kein Zufall. Er war das abschließende Kettenglied einer rasenden Kampagne des Hasses, der Hetze und Verleumdung, die Feinde aller Schattierungen gegen ihn führten. „Es wäre möglich, ganze Bibliotheken aus den gegen Jaurès gerichteten Attacken und Verleumdungen zu bilden". Die „Temps" („Zeit"), das einflussreichste Organ Frankreichs, brachte täglich Artikel, aber manchmal auch zwei am Tag, gegen den politischen Tribun. Aber sie musste hauptsächlich seine Ideen und die Methoden seiner Handlungen angreifen: als Persönlichkeit blieb er sogar in Frankreich beinahe gefeit, wo die persönliche Verleumdung das mächtigste6 Werkzeug des politischen Kampfes ist. Ohne Anspielungen auf deutsches Geld konnte die Sache jedoch nicht auskommen … Jaurès starb als armer Mensch. Am 2. August des Jahres 1914 war die „Temps" gezwungen, die „absolute Aufrichtigkeit" des niedergestreckten Feindes zugeben.

Ich besuchte im Sommer des Jahres 1915 das inzwischen berühmte Café Croissant, zwei Schritte von der Redaktion der „L'Humanité" – eines der typischen Pariser Cafés: schmutziger Fußboden mit Sägespänen, Lederdiwan, schäbige Stühle, Marmortischchen, niedrige Zimmerdecke, seine speziellen Weine und Speisen –, mit einem Wort, etwas, das es nur in Paris gibt. Mir zeigten sie den kleinen Diwan beim Fenster: auf diesem Platz wurde mit einem Revolverschuss der genialste Sohn des zeitgenössischen Frankreichs umgebracht.

Ein bürgerliches Elternhaus, Schule, Deputiertentätigkeit, bürgerliche Ehe, eine Tochter, deren Mutter sie zur Kommunion führt, die Redaktion der Zeitung, die Führung der Parlamentspartei – in diesem keineswegs heroischen äußeren Rahmen floss ein Leben von außerordentlicher Anspannung, vulkanischer sittlicher Leidenschaft.

Jaurès nannten sie nicht nur einmal7 Diktator des französischen Sozialismus, aber in manchen Momenten wurde dieser von rechts sogar Diktator der Republik genannt. Zweifellos spielte er im französischen Sozialismus eine mit nichts vergleichbare Rolle. Aber in seiner „Diktatur" war nichts Tyrannisches. Er herrschte ohne Anstrengung: Jaurès war ein Mensch von großer Statur, mit kräftigem Intellekt, genialem Temperament, unvergleichlicher Leistungsfähigkeit und einer Stimme, die wie ein Wunder klang, und er nahm kraft der Dinge den ersten Platz mit einer so großen Distanz zum zweiten und dritten ein, dass er nicht das Bedürfnis empfinden konnte, seine Position auf dem Weg von Manipulationen hinter den Kulissen zu befestigen. Als großer Meister in diesem letzteren Gebiet zeigte sich sich bereits damals Pierre Renaudel, der derzeitige „Führer" des Sozialpatriotismus.

Die Spannweite der Natur wendete Jaurès organisch von jedem Sektierertum weg. Nach einer Schwankung auf die eine und die andere Seite ertastete er jenen Punkt, welcher ihm für den gegebenen Moment entscheidend schien. Zwischen diesem praktischen Ausgangspunkt und seinen idealistischen Konstruktionen ordnete er ohne Gewalt über sich8 jene Sichtweisen an, welche seine eigenen ergänzten oder beschränkten, feindselige Farbtöne versöhnten, widersprüchliche Argumente lösten – in einer unvollkommeneren Einheit. Er herrschte deshalb nicht nur in Volksversammlungen und auf der Parlamentstribüne – wo er die Zuhörerschaft mit seiner unauslöschlichen Leidenschaft eroberte, – sondern auch auf Parteitagen, wo er gegensätzliche Tendenzen in verschwommenen Perspektiven und geschmeidigen Formeln auflöste. Dem Wesen der Sache nach war er Eklektiker, aber ein genialer.

Unsere Pflicht ist hoch und klar: immer die Idee propagieren, immer die Energie wachrufen und organisieren, immer hoffen, immer kämpfen bis zum abschließenden Sieg" … In dieser Dynamik ist der ganze Jaurès.9 Seine schöpferische Energie quillt in alle Richtungen, ruft Energie wach und organisiert sie, drängt zu Kampf.

Jaurès strahlte nach dem treffsicheren Ausdruck Rappoports Großmut und Herzensgüte aus. Aber zur gleichen Zeit beherrschte er im höchsten Maße ein Talent zu konzentriertem Zorn – nicht zu jenem, welcher blendet, das Gehirn trübt und zum politischen Krampf hinführt, – sondern zu jenem, welcher den Willen anspannt und die treffsichersten Charakteristika, die ausdrucksvollsten Epithets nahelegt, die unmittelbar ins Ziel treffen. Wir hörten weiter oben seine Charakteristik Periers. Man muss erneut seine Reden und Artikel gegen die schwarze Heroen der Dreyfusiade lesen! So charakterisierte Jaurès einen von ihnen, den am allerwenigsten Verantwortlichen10: „G. Brunétier, der sich in der Geschichte der Literatur mit leeren konstruierten, unzuverlässigen und zerbrechlichen Systemen versuchte, fand schließlich Obdach unter den schwerfälligen Gewölben der Kirche, – nun versucht er die eigene Art des persönlichen Bankrotts zu verdecken, indem er den allgemeinen Bankrott der Wissenschaft und Freiheit verkündet. Vergeblich versucht er, aus ihrer Tiefe etwas ähnliches wie einen Gedanken zu ziehen und lobpreist ihre Autorität in einer eigenen Art von prächtiger Selbsterniedrigung; da er in den Augen der jungen Generation jedem Kredit verloren hat, welchen er in einem bestimmten Moment mit Hilfe seiner Fähigkeit zu hohlen Verallgemeinerungen missbrauchte, will er den freien Gedanken töten, welcher vor ihm entflieht". Wehe dem, auf den diese schwere Hand fiel!

Jaurès trat ins Parlament im Jahre 1885 ein und nahm einen Platz auf den Bänken der gemäßigten Linken ein. Aber sein Übergang zum Sozialismus war keine Katastrophe oder Sprung. In der ursprünglichen Jaurèsschen „Mäßigung" waren bereits riesige Quellen eines wirkungsvollen sozialen Humanismus, welcher sich leicht in eine sozialistische Richtung entwickelte. Auf der anderen Seite nahm sein Sozialismus niemals einen scharf bestimmten Klassencharakter an und brach niemals mit den humanitären und natürlich-historischen Voraussetzungen, die tief im französischen politischen Denken der Epoche der Großen Revolution eingebettet sind.

Im Jahre 1889 wandte sich Jaurès an die Deputierten mit den Worten: „Hat sich aber etwa der Genius der französischen Revolution erschöpft? Könnten Sie etwa nicht in den Ideen der Revolution Mittel finden, die Antwort auf alle Fragen geben, welche aufkommen, auf alle Probleme, welche sich stellen? Hat etwa die Revolution nicht unsterbliche Tugend (vertu)11 aufbewahrt, welche fähig ist, Antwort auf alle sich verändernden Schwierigkeiten zu geben, unter welchen wir unseren Weg vollführen?" Hier wurde der Idealismus des Demokraten noch überhaupt nicht von der materialistischen Kritik gestreift. In der Zukunft erlernte Jaurès vieles vom Marxismus. Aber den rein-demokratischen Hintergrund12 seiner Denkweise bewahrte er bis zum Ende.

Jaurès betrat die politische Arena in der dumpfesten Zeit der dritten Republik, welche damals gerade mal ganze 15 Jahre Existenz auf dem Rücken hatte. Sie hatte keine starken Traditionen hinter sich, sie hatte mächtige Feinde vor sich. Der Kampf für die Republik, für ihre Beibehaltung, für ihre „Abklärung" war die grundlegende Idee von Jaurès in seiner ganzen Arbeit. Er suchte für die Republik eine breitere soziale Basis, er wollte die Republik zum Volk führen, um das Volk über die Republik zu organisieren und schließlich den republikanischen Staat zum Instrument der sozialistischen Wirtschaft zu machen. Der Sozialismus war für den Demokraten Jaurès das einzige zuverlässige Mittel für die Festigung der Republik und ihre einzig mögliche Vollendung. In seinem Bewusstsein gab es nicht den Widerspruch zwischen bürgerlicher Politik und Sozialismus, – den Widerspruch, der den historischen Bruch zwischen Proletariat und demokratischer Bourgeoisie widerspiegelt. In seinem unermüdlichen Bestreben zur idealistischen Synthese handelte Jaurès in der ersten Epoche als Demokrat, der bereit ist, den Sozialismus zu adoptieren, in der letzten Epoche seiner Tätigkeit – als Sozialist, der Verantwortung für die ganze Demokratie trägt.

L'Humanité", „Die Menschlichkeit"13 – mit diesem nicht zufälligen Namen bezeichnete Jaurès die von ihm geschaffene Zeitung. Der Sozialismus war für ihn nicht theoretischer Ausdruck des Klassenkampfes des Proletariat. Im Gegenteil blieb das Proletariat in seinen Augen eine historische Kraft im Dienst von Recht, Freiheit und Menschlichkeit. Über dem Proletariat räumte er der eigenständigen Idee der „Menschlichkeit" einen großen14 Platz ein, welche bei gewöhnlichen französischen Deklamatoren ein hohler Platz15 bleibt, aber bei Jaurès mit unverfälschtem und wirkungsvollem Idealismus gefüllt war.

In der Politik verknüpfte Jaurès in sich die Fähigkeit zu außerordentlicher idealistischer Abstraktion mit einem kräftigen intuitiven Empfinden für die Wirklichkeit. Diese Verbindung findet in seiner ganzen Tätigkeit statt. Die körperlosen Ideen der Gerechtigkeit und des Guten gehen bei ihm Hand in Hand mit der empirischen Einschätzung sogar auch untergeordneter Lebensrealitäten. In seinem ganzen sittlichen Optimismus verstand Jaurès Umstände und Menschen wunderbar und konnte diese und jene gebrauchen. In ihm war viel gesunder Sinn. Man nannte ihn nicht nur einmal einen pfiffigen Bauern. Aber seinem gesunden Menschenverstand war schon dank seiner Maßstäbe Vulgarität fremd. Aber die Hauptsache – dieser gesunde Menschenverstand stand im Dienst der Idee.

Jaurès war ein Ideologe, ein Verkünder von Ideen – in dem Sinn, in welchem der jetzt halb vergessene Alfred Fouille über „Ideen-Antreiber" der Geschichte sprach. Napoleon redete mit der Verachtung des Artilleristen über „Ideologen" (selbst das Wort gehört ihm). Indessen war Napoleon selbst ein Ideologe des neuen Militarismus. Ein Ideologe passt sich nicht einfach an die Realität an, er leitet aus ihr eine „Idee" ab und führt diese Idee bis zu den letzten Schlussfolgerungen. In ihn begünstigenden Epoche gibt dies Ideologen solche Erfolge, welche ein vulgärer Praktiker niemals kann haben; aber das bereitet für ihn auch einen schwindelerregenden Sturz vor, wenn die objektiven Bedingungen sich gegen ihn wenden.

Ein Doktrinär lässt die Theorie gerinnen16, deren Geist er tötet. Der opportunistische „Praktiker" eignet sich bestimmte Fertigkeiten des politischen Handwerks an und fühlt sich nach einem schroffen Bruch in seiner Umwelt wie ein Handweber, der vom mechanischen Webstuhl über Bord geworfen wird. Ein Ideologe großen Stils ist kraftlos nur in jenem Moment, wenn die Geschichte der Ideen ihn entwaffnet, aber er ist manchmal fähig, sich schnell umzurüsten, die Ideen der neuen Epoche zu übernehmen und auf die Höhe zu gelangen.

Jaurès war Ideologe. Aus der politischen Lage leitete er seine Idee ab und im Dienst dieser Ideen machte er niemals auf halbem Wege Halt. So brachte er in der Epoche des Dreyfusfalles die Idee der Zusammenarbeit mit der bürgerlichen Linken bis zur letzten Schlussfolgerung und hielt mit ganzer Leidenschaft Millerand im Amt, einen vulgären politischen Empiriker, in dem von einem Ideologen, von dessen Mut und Flug nichts war und ist. Auf diesem Wege geriet Jaurès in eine politische Sackgasse – mit der freiwilligen und uneigennützigen Blindheit eines Ideologen, welcher bereitwillig die Augen vor Fakten verschließt, um den Ideen-Antreiber nicht abzulehnen.

Mit unverfälschter ideologischer Leidenschaft kämpfte Jaurès gegen die Gefahr des europäischen Krieges. In diesem Kampf – wie auch in jedem anderen, den er führte – wandte er auch17 solche Methoden an, welche dem Klassencharakter seiner Partei zutiefst widersprachen und vielen seiner Genossen zumindest gewagt schienen. Er bürdete sich selbst viel auf, seiner persönlichen Kraft, Findigkeit, Improvisation, und er traf in den Wandelgängen des Parlaments mit übertriebenen Hoffnungen Minister und Diplomaten und drückte sie mit der Schwere seiner Argumentation an die Wand. Aber Wandelganggespräche und Einfluss entflossen an sich ganz und gar nicht aus der Natur von Jaurès und wurden von ihm überhaupt nicht zu einem System aufgebaut: er war politischer Ideologe, aber nicht Doktrinär des Opportunismus. Im Dienste der Idee, welche ihn beherrschte, war er mit gleicher Leidenschaft fähig, sowohl die opportunistischsten als auch die revolutionärsten Mittel anwenden, und falls diese Idee dem Charakter der Epoche entsprach, war er fähig solche Resultate wie niemand sonst zu erreichen. Aber er ging auch katastrophalen Niederlagen entgegen. Wie Napoleon konnte er in seiner Politik sowohl18 Austerlitz als auch Waterloo kennen. Der Weltkrieg musste Jaurès jenen Fragen von Angesicht zu Angesicht gegenüber stellen, welche den europäischen Sozialismus in zwei unversöhnliche Lager spalteten. Welche Position hätte er eingenommen? Zweifellos die patriotische. Aber er hätte sich niemals passiv mit der Erniedrigung der französischen sozialistischen Partei versöhnt, welche unter der Führung von Guesde, Renaudel, Sembat und Thomas ihr Schicksal wurde. Und wir haben das volle Recht annehmen, dass in der künftigen Revolution der große Tribun zweifellos seinen Platz bestimmt hätte und seine Kräfte bis zum Ende entfaltet hätte.

Ein sinnloses Stück Blei befreite Jaurès von der größten politischen Prüfung.

Jaurès war die Verkörperung persönlicher Kraft. Sein geistiges Aussehen entsprach durchaus seiner physischem Anlage: Eleganz und Grazie als eigenständige Eigenschaften waren ihm fremd, – dafür waren seiner Rede und seinem Handeln jene höchste Schönheit angeboren, welche Ausprägungen selbstsicherer schöpferischer Kraft auszeichnet. Falls durchsichtige Klarheit und Auserlesenheit der Formen als erschöpfende Züge des französischen Geistes gelten, dann kann Jaurès als wenig charakteristisch für Frankreich erscheinen. Aber in der Tat war er in höchstem Grade Franzose. Neben Voltaire und Boileau, neben Anatole France in der Literatur, mit den Heroen der alte Gironde oder den derzeitigen Viviani und Deschanel in der Politik, kannte Frankreich Rabelais, Balzac, Zola in der Literatur, Mirabeau, Danton und Jaurès in der Politik. Diese sind eine Rasse von Leute mit kräftiger physischer und geistiger Muskulatur19, mit wirkungsvoller Furchtlosigkeit, mit großer Kraft der Leidenschaft, mit konzentriertem Willen. Sie sind ein athletischer Typ. Es reichte aus, die Zeus-Stimme von Jaurès zu vernehmen und sein von inneren Strahlen verklärtes fleischiges Gesicht zu sehen, die gebieterische Nase, den beharrlichen, unbeugsamen Nacken, um sich zu sagen: Ecce homo! (welch ein Mensch!)

Die Hauptkraft Jaurès' als Redner war ebenfalls, was seine Kraft in der Politik bildete: angespannte, ganz und gar gerichtete Leidenschaft, Wille zum Handeln. Im rednerischen Schaffen Jaurès' war nichts selbstsüchtig, – er war nicht Redner, er war mehr als das: die Kunst des Wortes war für ihn nicht Zweck, sondern Mittel zum Zweck. Deswegen war er der allerkräftigste Redner, – vielleicht der kräftigste von allen, welche die Menschheit hervorbrachte, – er steht über der rednerischen Kunst, er ist immer über seiner Rede, wie ein Meister über dem eigenen Werkzeug steht …

Zola war Künstler – er begann in der naturalistischen Schule der moralischen Leidenschaftslosigkeit – und auf einmal brach der Donner des eigenen Brief „J'accuse" („ich klage an") durch. In ihm waren mächtige moralische Kräfte angelegt, welche ihren Ausdruck in seinem titanischen Schaffen fanden, aber es war dem Wesen nach weiter als Kunst: das waren zerstörende und schöpfende menschliche Kräfte. So war es auch mit Jaurès. In seiner rednerischen Kunst, in seiner Politik, bei aller ihren unausbleiblichen Bedingtheiten, enthüllte sich eine majestätische Persönlichkeit mit echter, unverfälschter sittlicher Muskulatur20, mit beharrlichem Willen zu Kampf und Sieg. Er erschien auf der Tribüne nicht, um Bilder loszuwerden oder einem Kreis von Gedanken den vollkommensten Ausdruck zu geben, sondern, um getrennte Willen in der Einheit des Zieles zu vereinigen; in seiner Rede ist keine lateinische rhetorische Kunst um der Kunst willen, – sie ist immer zweckmäßig, utilitaristisch: gerade deswegen stellt sie sich als höchste Form menschlichen Schaffens dar. Jaurès wendet mit der gleichen Freiheit sowohl Beweisgründe der Vernunft als auch Kunstbilder als auch den Aufruf an die menschlichen Leidenschaften an. Er beeinflusst gleichzeitig den Gedanken, das ästhetische Gefühl und den Willen, aber alle diese Kräfte seines rednerischen, seines politischen, seines menschlichen Genius sind seiner Hauptkraft unterworfen – dem Wille zum Handeln.

Ich hörte Jaurès in Pariser Volksversammlungen, auf internationalen Kongressen, in Kommissionen von Kongressen. Und immer hörte ich ihm zu, als wäre es das erste Mal. Er sammelte keine Routine an, er wiederholte sich im Wesen niemals, er fand sich immer erneut selbst, er mobilisierte immer von neuem die vielseitigen Kräfte des eigenen Geistes. In der mächtigen Kraft, elementar wie ein Wasserfall, war bei ihm viel Weichheit, welche wie ein Abglanz der höchsten Kultur des Geistes glänzte. Er stürzte Felsen ein, dröhnte, erschütterte, aber betäubte sich niemals, stand immer auf der Wacht, das Ohr fing behutsam jedes Echo ein, griff es auf, parierte Widersprüche, fegte manchmal gnadenlos wie ein Orkan Widerstand auf dem Wege weg, war manchmal edelmütig und weich wie ein Lehrmeister, wie ein älterer Bruder. So kann ein Tausend-Pfund21-Dampfhammer Steinbrocken zu Pulver zerreiben und Goldplättchen auf den zehnten Teil eines Millimeters verdünnen.

Paul Lafargue, der Marxist und Ideengegner22 von Jaurès, nannte diesen einen teuflischen Menschen. Diese Teufelskraft, – in der Tat echte „göttliche" Kraft – in ihm fühlten alle – sowohl Freunde als auch Feinde. Und Feinde stockten nicht selten, wie in ihren Bann gezogen, abwartend vor dem Strom seiner Rede, welche in Worte eingehüllter Wille war, genau wie vor einer elementaren Erscheinung der Natur.

Vor drei Jahres kam diese Figur [=Lafargue] – ein seltenes Geschenk der Natur an die Menschheit – ums Leben, ohne sich erschöpft zu haben. Mag sein, dass für die ästhetische Vollkommenheit der Gestalt ein solcher Tod für Jaurès notwendig war. Große Leute können auf eigene Art sterben. Tolstoi nahm, als er den Tod roch, den Stab und ging ins Exil von der Öffentlichkeit, die er verschmähte, und starb auf einer dumpfen Station wie ein Pilger. Lafargue, in dem der Epikureer durch den Stoiker ergänzt wurde, verbrachte, bis er 70 Jahre alt war, in der Atmosphäre von Ruhe und Gedanken, sagte sich „genug" und spritzte Gift in seine Arterien. Jaurès, als Athlet der Ideen, starb in der Arena, im Kampfe gegen das größte Unheil, das jemals auf die Menschheit und Menschlichkeit – l'humanité – einstürzte, im Kampf gegen den Krieg. Und im Gedenken der Menschheit wird er als Vorbote, als Vorläufer jenes höheren menschlichen Typs bleiben, welcher ja aus Leiden und Sturz, Hoffnung und Kampf geboren werden muss.

1In der englischen Übersetzung: „diese Generation“

2In der englischen Übersetzung: „Juni“

* Charles Rappoport. Jean Jaures. L'Homme – Le Penseur – Le Socialiste. Paris 1915. Prix 5 Francs. (Sch. Rappoport. Jean Jaurès. Der Mensch – Der Denker – Der Sozialist).

3

4In der englischen Übersetzung: „Bourgeoisie“

5 Dreyfus – französischer Offizier jüdischer Herkunft, welchen die militärische und klerikale antisemitische Reaktion fälschlich des Staatsverrats beschuldigte. [Fußnote der russischen Ausgabe]

6In der englischen Übersetzung: „ein mächtiges“

7In der englischen Übersetzung: „nannte sich manchmal“

8In der englischen Übersetzung: „ohne jede Willensanstrengung“

9In der englischen Übersetzung: „Der ganze Jaurès ist in diesem Kräftemuster ausgedrückt“

10In der englischen Übersetzung: „bedeutsamen“

11In der englischen Übersetzung: „ihre Tugend“

12In der englischen Übersetzung: „Motivation“

13In der englischen Übersetzung wird der französische Name nicht übersetzt

14In der englischen Übersetzung: „höheren“

15In der englischen Übersetzung: „Phrase“

16In der englischen Übersetzung: „wird an eine Theorie angefroren“

17In der englischen Übersetzung: „zwei“, „two“, ein Schreib- oder Druckfehler für „too“?

18In der englischen Übersetzung: „Bad“, „bath“, ein Schreib- oder Druckfehler für „both“?

19In der englischen Übersetzung: „Sehnen“

20In der englischen Übersetzung: „Fibern“

21In der englischen Übersetzung: „Zehn-Tonnen“

22In der englischen Übersetzung: „ideologische Gegner“

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