Leo Trotzki: Gruppierungen in der deutschen Sozialdemokratie [„Nasche Slowo“, Nr. 242, 17. November 1915, eigene Übersetzung nach dem russischen Text, Л. Троцкий: Война и революция. Крушение второго интернационала и подготовка третьего. Том II. Петроград 1922, стр. 262-264, verglichen mit der französischen Übersetzung] In Verbindung mit dem Artikel des Genossen Bukwojed (Rjasanow) „Mehring über den Krieg“ – dessen Inhalt, wie unsere Leser gesehen haben, umfassender ist als sein Titel, halten es die Redakteure zur Vermeidung von Missverständnissen für notwendig, das im einleitenden Teil des Artikels angesprochene Thema zu kommentieren, insbesondere über die inneren Gruppierungen in der deutschen Sozialdemokratie. „Es ist allgemein anerkannt", sagt Genosse Bukwojed, „dass die extreme Linke inmitten der deutschen Internationalisten von der Gruppe „Internationale" gebildet wird1 - Diese Ansicht teilen wir voll und ganz. Weit davon entfernt, uns mit allen theoretischen Einschätzungen oder taktischen Kriterien der einzelnen Mitglieder dieser Gruppe oder der Gruppe als Ganzes zu verbinden, glauben wir dennoch, dass gerade die Strömung, das Banner, das die Zeitschrift „Internationale" darstellt, die revolutionäre Flanke des deutschen Internationalismus repräsentiert, und dass wir vor allem mit dieser Gruppe im weiteren Kampf Hand in Hand gehen müssen. Wir sind weit davon entfernt, die Bedeutung der theoretischen Orientierung für die Sozialdemokratie oder ihre einzelnen Tendenzen herabzusetzen; wir bezweifeln auch nicht, dass nicht nur philosophisch-historische, sondern auch direkt-taktische Differenzen innerhalb des linken Flügels der deutschen Internationalisten möglich und sogar unvermeidbar sind. Aber normale Parteigruppierungen klären und vereinigen sich vor allem durch die politische, wirksame Stellung. Unter diesem Gesichtspunkt gehört unsere Solidarität ganz der Gruppe, deren politisches Handeln in den Abstimmungen und Erklärungen von Liebknecht, im sogenannten „Manifest der 200", in einer Reihe von illegalen Proklamationen wie „Der Hauptfeind steht im eigenen Land" usw. zum Ausdruck kam. Wie Genosse Bukwojed in seinem Artikel berichtet, ließ sich Liebknecht zusammen mit anderen zu Beginn des Krieges vom Kriterium Befreiungs- [oder] Angriffskrieg leiten. Wie die Leser wissen, halten wir dieses „Kriterium" für völlig unhaltbar, und wir können die Leser nur auf weitere Artikel des Genossen Bukwojed verweisen, wo diese Haltlosigkeit mit voller Überzeugungskraft aufgedeckt wird, aber wir glauben gleichzeitig, dass es notwendig ist, daran zu erinnern, dass Liebknecht in der Deklaration, die er bei der zweiten Abstimmung über die Kriegskredite einbrachte, seiner ablehnenden Stimmabgabe nicht eine förmliche Begründung aus dem Blickwinkel des Angriffs- oder Verteidigungskrieges gab, sondern eine revolutionär-sozialistische. Natürlich kann man bedauern, dass Liebknecht diese Position nicht sofort eingenommen, sondern gemeinsam mit Haase aufgetreten ist. Aber dieses späte Bedauern bringt uns wenig bei der Orientierung über die aktuellen Gruppierungen innerhalb der deutschen Sozialdemokratie. Nach dem 4. August 1914 vergingen 15 Monate. Während dieser Zeit konnten sich die Positionen klären. Der Name K. Liebknecht – das ist die Kraft politischen Handelns! – ist in der ganzen Welt zum Synonym für sozialistischen Mut geworden, während die Namen Haase und Kautsky bestenfalls zum Synonym für Halbherzigkeit2 wurden. Kautsky verstand lange vor dem gegenwärtigen Krieg die Gefahr, die in den Kriterien „Verteidigung" und „Angriff" für die Taktik des Proletariats liegt. Auf dem Parteitag in Essen 1907 wandte sich Kautsky mit wahrhaft prophetischen Worten gegen Bebel. Als jedoch die Vorhersage, die Kautsky in Essen als logisches Argument machte, eine schreckliche Realität wurde, kapitulierte Kautsky vor dem die Mehrheit der Partei überwältigenden Nationalismus, wählte die für diese Mehrheit am wenigsten kompromittierenden unter ihren politischen Argumente, vertrat, dass alles gut laufe, verschloss die Augen vor der monströsen nationalistischen und militaristischen Demoralisierung in den Reihen der Partei und der Gewerkschaften, redete den Unzufriedenen ins Gewissen und forderte sie auf – nicht zur Treue zum sozialistischen Banner3, sondern zum Bewahren der „Disziplin“; wenn die Opposition in der Partei – und in erster Linie Liebknecht – die Stimme der Empörung erhoben, ist es nicht dank Kautsky, sondern ihm zum Trotz4. Und erst als der Widerspruch zwischen der Mehrheit und der Opposition sich im höchsten Grad zuspitzte, hat Kautsky – doch ohne zur Opposition zu stoßen, ohne das tiefgehend-prinzipielle „Manifest der 200" zu unterzeichnen – endlich die Existenz imperialistischer Tendenzen im deutschen Sozialismus eingeräumt5 und zusammen mit Bernstein und Haase einen Protest gegen annexionistische Ansprüche ausgesprochen. Als später praktisch die Frage der Wiederherstellung internationaler sozialistischer Verbindungen aufkam, erschienen Kautsky und Bernstein in Bern zu fruchtlosen Verhandlungen mit dem französischen Nationalsyndikalisten6 Jouhaux; aber sie waren natürlich wie Jouhaux nicht auf der Konferenz in Zimmerwald. Da es auf letzterer Elemente gab, die sich Kautsky von links näherten, wie Ledebour und andere, mussten die revolutionären Elemente der Konferenz, darunter auch die Delegation von „Nasche Slowo"7, die Linie der deutschen Linken („Internationale", „Manifest der 200") gegen die passiv-pazifische Linie des „Manifests der Drei" (Kautsky, Bernstein, Haase) verteidigen. Aus allem, was gesagt wurde, wird deutlich, in welchem Sinne wir mit der Gruppe „Internationale", mit Liebknecht und Zetkin, als den lebendigsten Vertretern der wachsenden internationalistischen Bewegung in der deutschen Arbeiterbewegung solidarisch sind. Es sind diese Elemente, die jetzt einen mutigen Kampf gegen den „Burgfrieden" in Deutschland führen, die Heuchelei der Ideologie der „nationalen Verteidigung" aufdecken, den Rahmen der Legalität durchbrechen und die Massen gegen den Krieg und die Herrschenden aufreizen. Hand in Hand mit diesen Elementen haben wir begonnen und werden wir fortfahren, an der Schaffung der Dritten Internationale zu arbeiten! 1Die Gruppe Mehring, Luxemburg, in diese Gruppe reihen sich ideenmäßig ein K. Liebknecht, C. Zetkin u.a. 2 In der französischen Übersetzung: „Kompromiss“ 3 In der französischen Übersetzung fehlt: „nicht zur Treue zum sozialistischen Banner“ 4 In der französischen Übersetzung statt „nicht dank Kautsky, sondern ihm zum Trotz“: „trotz Kautsky“ 5 In der französischen Übersetzung: „den Unterschied zwischen imperialistischen Tendenzen und dem deutschen Sozialismus entdeckt“ 6 In der französischen Übersetzung fehlt: „dem französischen Nationalsyndikalisten“ 7 In der französischen Übersetzung: „und andere revolutionäre Elemente, darunter auch die Delegation von „Nasche Slowo", musste man“ |
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