Leo Trotzki: Es gibt noch Sozialdemokraten 1auf der Welt [„Nasche Slowo“, Nr. 53, 31. März 1915, eigene Übersetzung nach dem russischen Text, Л. Троцкий: Война и революция. Крушение второго интернационала и подготовка третьего. Том II. Петроград 1922, стр. 250-252, verglichen mit der französischen Übersetzung] Mit größerer Verspätung kam die Februarausgabe der „Lichtstrahlen" in unsere Hände, einer kleinen Propagandazeitschrift, um die sich ein großer Teil der deutschen Internationalisten gruppiert. Der Leitartikel „Es gibt noch Sozialdemokraten" ist einer vergleichenden Bewertung des Verhaltens der französischen und russischen Sozialisten in Bezug auf die Londoner Konferenz gewidmet. Der Artikel legt eine für uns alle2 denkwürdige Episode des Parlaments dar, als Viviani das Parlament beschwichtigte, dass die Londoner Beschlüsse in all ihren verführerischen Teilen keinen Einfluss auf die Regierungspolitik haben würden, und Guesde, und Sembat der Erklärung des Premiers energisch applaudierten. „Als Trost in tiefer Trauer", heißt es in dem Artikel weiter, „als Lichtfunke in schwarzer Finsternis wirkt unter diesen Bedingungen die Botschaft, dass es trotz alledem und alledem noch immer Sozialdemokraten auf der Welt gibt. Diese Botschaft kommt von den russischen Genossen. Sie weigern sich empört, die Rolle eines Werkzeugs in den Händen des Zarismus zu spielen, in dem sie das Instrument ihres Todfeindes, des russischen Kapitalismus, sehen ... In einer ausgezeichneten Erklärung, von der einige Teile in Vorwärts wiedergegeben wurden“ (Die Rede ist von der Erklärung, die vom Kollegium der Mitarbeiter des Nasche Slowo entwickelt wurde), „zeigten sie der Welt, dass der Sozialismus nicht gestorben ist, dass es noch Sozialdemokraten gibt. Zu Anfang protestieren sie gegen die Tatsache, dass die Sozialisten des Dreiverbandes3 ihre eigene Konferenz einberufen haben, als ob es eine besondere, engere Gemeinschaft zwischen ihnen gäbe. Schon dies allein, sagen unsere russischen Genossen, widerspricht den internationalen Aufgaben des Proletariats. Und haben sie nicht Recht? Wenn die Kapitalisten Englands, Frankreichs und Russlands Gefallen daran haben, eine Allianz zu bilden und zusammenzuarbeiten, um am Krieg teilzunehmen, müssen die Sozialisten in diesen Ländern dann auch eine besondere Gemeinschaft haben, von der die deutsche, österreichische neutrale Sozialisten ausgeschlossen sind? Bedeutet das nicht, Akte des blutigen Kapitalismus zu sanktionieren und sich zur Rolle seiner Schutztruppe herabzuwürdigen? Und weiter. Was war der Zweck der Londoner Konferenz? Moralische und politische Unterstützung für die Politik des Dreiverbandes, erzählen uns die russischen Genossen, und mit diesen Worten treffen sie wieder ins Ziel. Die Täuschung, als ob die „nationalen Verteidigung“, wie die Diplomaten des Dreiverbandes es darstellen, eine sozialistische Pflicht sei, die Lüge, dass der Krieg ein befreiender sei – diese Täuschung und diese Lüge müssen verstärkt werden durch „den verbrecherischen Missbrauch der Ideen und der Autorität des internationalen Sozialismus ...“ „Die Grundaufgabe4 der wahrhaft sozialistischen Elemente der Länder des Dreiverbandes ist", wie unsere russischen Genossen sagen, „im Gegenteil, die wahre Bedeutung dieses Krieges zu offenbaren und der Welt zu zeigen, dass die Regierungssozialisten keineswegs alle Sozialisten der verbündeten Länder auf ihrer Seite haben...“ Es ist schwer vorstellbar“ – so endet der Artikel – „dass Guesde, Sembat und Genossen sich sehr über diese mutige, ehrliche und treue Sprache gefreut haben. Umso froher sind wir, dass es noch immer Sozialdemokraten gibt, die im fieberhaften Kriegslärm ihre Pflicht nicht vergessen.“5 Noch nie, so fügen wir hinzu, hing die Tätigkeit von Sozialisten in einem Land so sehr von der sozialistischen Politik in anderen Ländern ab wie jetzt. Die Zunahme der internationalen Solidaritätsstimmungen und der Kampf für den Frieden können sich nur parallel in allen Ländern, die in den blutigen Strudel geraten sind, entwickeln. Die Regierungssozialisten Frankreichs blicken mit Hoffnung6 und Erwartung auf das Wachstum revolutionärer Gefühle im deutschen Proletariat. Aber mit all ihrem Verhalten verzögern sie dieses Wachstum.7 Die revolutionären Sozialdemokraten Russlands, im Gegenteil, unterstützen mit ihrer Politik nicht den deutschen Imperialismus, wie patriotische Speichellecker in allen Parteifarben sie verleumden, sondern im Gegenteil, dessen Todfeind in Gestalt des internationalistischen Flügels der deutschen Sozialdemokratie. Der Kampf dieser letzteren ist für uns eine unentbehrliche Stütze in unserem Kampf gegen die „Drei[verbands]"-Reaktion. Wahrlich, es gibt immer noch revolutionäre Sozialdemokraten auf der Welt, und morgen wird es mehr von ihnen geben als heute. 1 In der französischen Übersetzung fehlt „auf der Erde“ 2 In der französischen Übersetzung fehlt „für uns alle“ 3In der französischen Übersetzung hier und im Folgenden: „Entente“ 4 In der französischen Übersetzung: „Das Grundproblem“ 5 „Es gibt noch Sozialdemokraten“, in: „Lichtstrahlen. Bildungsorgan für denkende Arbeiter“, 2. Jahrgang, Nr. 5, Februar 1915, S.59-61 hier S. 60 f. „Wie ein Trost in tiefem Leide, wie ein Lichtfunke in schwarzer Finsternis wirkt da die Kunde, dass es trotzdem und alledem noch Sozialdemokraten gibt. Von den russischen Genossen kommt er her. Sie verschmähen es, sich als Helfershelfer eben des Zarentums missbrauchen zu lassen, das sie als Werkzeug ihres Todfeindes, des russischen Kapitalismus, seit jeher kennen. … In einer prächtigen Erklärung, wovon auch der Vorwärts einige Sätze abdruckte, haben sie der Welt gezeigt, dass der Sozialismus nicht tot ist, dass es noch Sozialdemokraten gibt. Gleich von vornherein protestieren sie dagegen, dass die Sozialdemokraten der Dreiverbandsländer überhaupt für sich eine Konferenz einberufen haben, gerade als ob es zwischen ihnen eine besondere engere Gemeinschaft gäbe. Das, so sagen unsere russischen Genossen, widerspricht bereits den internationalen Aufgaben des Proletariats. Und haben sie nicht Recht? Weil es den Kapitalisten Englands, Frankreichs und Russlands gefallen hat, ein Bündnis zu schließen und gemeinsam die Menschenschlächterei zu organisieren, darum soll es zwischen den Sozialisten dieser Länder ebenfalls eine besondere Gemeinschaft geben, von der die deutschen, österreichischen und neutralen Sozialisten ausgeschlossen sind? Heißt das nicht, die Geschäfte des blutgierigen Kapitalismus jener Länder gutheißen, sich zu dessen Schutztruppe erniedrigen? Und weiter. Welchem Zweck diente denn die Konferenz in London? „Der moralischen und politischen Unterstützung der Politik des Dreiverbandes“, sagen unsere russischen Genossen. Und wieder haben sie den Nagel auf den Kopf getroffen. Die Täuschung, dass die „nationale Verteidigung“, wie sie den Diplomaten des Dreiverbandes in den Kram passt, eine sozialistische Pflicht sei, die Lüge, dass der Krieg ein Befreiungskrieg sei, sie sollte durch einen „verbrecherischen Missbrauch der Ideen und der Autorität des internationalen Sozialismus“ aufs Neue bekräftigt werden. … Die Grundaufgabe der wirklich sozialistischen Elemente der Dreiverbandsländer, sagen unsere russischen Genossen, besteht vielmehr darin, die tatsächliche Bedeutung dieses Krieges aufzudecken und der Welt zu zeigen, dass die Regierungssozialisten keineswegs alle Sozialisten jener Länder hinter sich haben. … Es ist nicht anzunehmen, dass die Herren Guesde, Sembat und Genossen sehr erfreut sein werden über diese mannhafte, ehrliche und treue Sprache. Desto mehr wollen wir uns darüber freuen, dass es noch Sozialdemokraten gibt, die auch im tosenden Lärm des Krieges ihre Pflichten nicht vergessen haben.“ 6 In der französischen Übersetzung fehlt „Hoffnung und“ 7 In der französischen Übersetzung: „all ihr Verhalten beruht auf dieser Hoffnung.“ |
Leo Trotzki > 1915 >