Leo Trotzki: Erklärung der Zwanzig [„Nasche Slowo“, Nr. 276, 28. Dezember 1915, eigene Übersetzung nach dem russischen Text, Л. Троцкий: Война и революция. Крушение второго интернационала и подготовка третьего. Том II. Петроград 1922, стр. 264-267, verglichen mit der französischen Übersetzung] In der Reichstagssitzung vom 22. Dezember 1915 verlas der Abgeordnete Geyer die folgende Erklärung im Namen von 20 Minderheitsabgeordneten: „Die Militärdiktatur, die rücksichtslos alle Friedensbestrebungen unterdrückt und die freie Meinungsäußerung zu ersticken sucht, macht es uns unmöglich, außerhalb dieses Hauses unsere Stellung zur Kreditvorlage zu begründen. (Sehr richtig! bei einem Teile der Sozialdemokraten.)1 Wie wir Eroberungspläne, die von Regierungen und Parteien anderer Länder angestellt werden, mit aller Kraft bekämpfen, so wenden wir uns mit derselben Entschlossenheit auch gegen das verhängnisvolle Treiben der Annexionspolitiker unseres Landes, (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) die in gleicher Weise wie jene das stärkste Hindernis für die Einleitung von Friedensverhandlungen sind. (Erneute Zustimmung bei den Sozialdemokraten.)2 Diese gefährliche Politik hat der Reichskanzler am 9. Dezember, als er zu der sozialdemokratischen Interpellation das Wort ergriff, nicht von sich gewiesen. Er hat ihr vielmehr Vorschub geleistet3, (Zustimmung bei den Sozialdemokraten.)4 und die sämtlichen bürgerlichen Parteien haben in Unterstützung seiner Ausführungen ausdrücklich Gebietserwerbungen gefordert. (Sehr wahr! bei den Sozialdemokraten.)5 Erfolgversprechende Friedensverhandlungen sind aber nur möglich auf der Grundlage, dass kein Volk vergewaltigt, dass die politische und wirtschaftliche Selbstständigkeit und Unabhängigkeit jedes Volkes gewahrt, dass allenthalben Eroberungsplänen jeder Art entsagt wird. (Erneute Zustimmung bei den Sozialdemokraten.)6 Unsere Landesgrenzen und unsere Unabhängigkeit sind gesichert. Nicht der Einbruch feindlicher Heere droht uns. Wohl aber gehen unser Reich wie das übrige Europa bei Fortsetzung des Krieges der Gefahr der Vernichtung der Lebenskräftigsten, der Verarmung der Völker und der Verwüstung ihrer Kultur entgegen.7 (Lebhafte Rufe: Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.)8 Der deutschen Regierung käme es zu, da Deutschland sich mit seinen Verbündeten in günstigerer Kriegslage befindet, den ersten Schritt zum Frieden zu tun. (Sehr wahr! bei den Sozialdemokraten.) Von der sozialdemokratischen Fraktion ist sie aufgefordert worden, den Gegnern ein Friedensangebot zu machen. Der Reichskanzler hat dies jedoch schroff abgelehnt9. Der entsetzliche Krieg geht weiter, jeder Tag schafft neue unsägliche Leiden. Eine Politik, die nicht alles tut, um diesem namenlosen Elend Einhalt zu gebieten, eine Politik, die in ihrer gesamten Betätigung in schreienden Gegensatz zu den Interessen der breiten Massen der werktätigen Bevölkerung steht, durch unser parlamentarisches Verhalten zu unterstützen, ist uns unmöglich. (Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.) Es gilt, dem in allen Ländern hervortretenden und wachsenden Friedenswillen einen kräftigen Antrieb zu geben. Unseren Friedenswillen und unsere Gegnerschaft gegen Eroberungspläne können wir nicht vereinbaren mit der Zustimmung zu den Kriegskrediten. Wir lehnen die Kredite ab.“10 Das ist die Erklärung der deutschen parlamentarischen Opposition, mit der sie ihr Votum gegen den neuen Zehn-Milliarden-Kredit begründet hat. Wie wir sehen, stellt die Erklärung die Frage der „militärischen" Politik der Sozialdemokratie nicht auf der notwendigen prinzipiellen Höhe: Die Erklärung geht – zumindest formal – von Überlegungen zur strategischen Stellung Deutschlands aus und besteht darauf, dass die deutsche Regierung den ersten Schritt in Richtung Frieden machen sollte. Anzunehmen, dass die deutsche sozialdemokratische Opposition die „national-defensive" Position der herrschenden Klassen und der ihr dienenden Sozialpatrioten ernst nimmt, würde bedeuten, die deutsche Opposition unverdient zu beleidigen. Wenn der linke Flügel die Tatsache der Sicherheit der deutschen Grenzen vor der feindlichen Invasion in den Mittelpunkt seiner Erklärung stellte, so tat er dies in erster Linie, um vor den betrogenen Massen die Heuchelei der Verteidigungsformeln zu entlarven. Aber die Sache beschränkt sich nicht nur legitime Agitationsüberlegungen: Für die Mitglieder der parlamentarischen Opposition selbst erleichterte eine solche instabile und politisch oberflächliche Motivierung den Übergang von der politischen Passivität zur aktiven Opposition gegen die Arbeit des nationalen Militarismus. Indem die Erklärung der Zwanzig die Unentschlossenheit des revolutionären Bewusstseins in der prinzipiellen Frage der „nationalen Verteidigung" widerspiegelt, gibt sie damit den Sozialpatrioten der anderen Seite11 billige „strategische" Vorwände zur Verteidigung ihrer Politik der Klassenselbstverleugnung und des sozialistischen Renegatentums12. Darin liegt die schwache Seite der Erklärung der Zwanzig. Aber das ändert die ganze Kraft des Faktums ihrer Aktion nicht. Die Opposition hat aufgehört, der Abstimmung fernzubleiben und passiv zu warten, bis die Logik der Ereignisse, der Druck der Massen und ihr eigener innerer Einfluss die Mehrheit der Reichstagsfraktion „aufklären" werden. Sie traten aktiv dem nationalen Block entgegen und stellten die Einheit der internationalen Politik des Proletariats offen über die formale, oder vielmehr fiktive, Einheit der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion. Und diese Aktion wird nicht aufhören, ihre revolutionäre Logik zu zeigen. In Zimmerwald forderten Delegierte aller Schattierungen die deutschen Abgeordneten auf, offen gegen die Kredite zu stimmen. Ledebour und seine Freunde lehnten die Aufnahme einer solchen Forderung in den Text des Manifests entschieden ab, ausgehend von engen organisatorischen Überlegungen, da sie glaubten, dass diese „externe" Verpflichtung ihre weitere Arbeit nur behindern würde. Die Sozialpatrioten von diesem Ufer [des Rheins] versuchten sofort, das Verhalten der deutschen Delegation in Zimmerwald als ihre Weigerung zu interpretieren, gegen die Kredite zu stimmen. Keine Erklärung und Widerlegung konnte diese Herren daran hindern, ihre Leser und Zuhörer mit Erdichtungen zu täuschen, die immer noch der Haupttrumpf im Kampf der Sozialpatrioten gegen die Zimmerwaldkonferenz waren. Nun ist die Frage endgültig und kategorisch geklärt. In voller Übereinstimmung mit dem Geist und der Bedeutung der Zimmerwald-Entscheidungen stimmten zwanzig Abgeordnete der deutschen Linken gegen die Kredite. Zimmerwald fand sein ausdrucksstarkes Echo in den Mauern des Reichstags. Die Abstimmung der Zwanzig wird keine Episode bleiben, sie wird ein bedeutendes Datum in der Geschichte der sozialistischen Wiedergeburt eintragen. 1 Fehlt im russischen Text 2 Fehlt im russischen Text 3 Im russischen Text: „sie gebilligt“ 4 Im russischen Text: „(Ausrufe: völlig wahr!)“ 5 Im russischen Text: „(völlig wahr!)“ 6 Fehlt im russischen Text 7 Im russischen Text: „unserem Land und dem Rest Europas droht die Gefahr der Verelendung und der Zerstörung der Kultur“ 8 Im russischen Text: „(völlig wahr!)“ 9 Im russischen Text: „antwortete ablehnend (völlig wahr!)“ 1025. Sitzung, Dienstag den 21. Dezember 1915, Verhandlungen des Reichstags, XIII. Legislaturperiode, II. Session, Bd. 306, Berlin 1916, S. 507 C-508 A Im Protokoll folgt: „(Bravo und Händeklatschen bei einem Teil der Sozialdemokraten” 11d. h. die Franzosen [Anmerkung der russischen Herausgeber] 12 In der französischen Übersetzung: „ihr Vergessen der Klassenpolitik und ihre Unterwerfung“. |
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