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Leo Trotzki 19151222 Eine Epoche vergeht

Leo Trotzki: Eine Epoche vergeht

(Bebel – Jaurès – Vaillant)

[Paris, 22. Dezember 1915 „Kijewskaja Mysl" Nr. 1, 1./14. Januar 1916, eigene Übersetzung nach dem russischen Text in Werke, Band 8, Politische Silhouetten, Moskau-Leningrad 1926 {Сочинения. Том 8. Политические силуэты. Москва-Ленинград, 1926}, S. 49-55, verglichen mit der englischen Übersetzung]

Heute verbrannten sie den Leib Eduard Vaillants.

Eine ganze Epoche im europäischen Sozialismus vergeht. Und sie vergeht nicht nur ideell1, sondern physisch in Gestalt ihrer hervorragendsten Vertreter. Bebel starb in der Periode der Bukarester Friedenskonferenz, zwischen dem Balkan- und dem derzeitigen Krieg. Ich erinnere mich, wie ich auf dem Bahnhof in Ploiești von Gherea2, dem Auswanderer aus Russland und bekannten rumänischen Schriftsteller3, diese Kunde erfuhr. Sie schien so unglaublich4 wie auch die Kunde vom Tode Tolstois; in den Augen aller mit dem deutschen politischen Leben Verbundenen war Bebel dessen unlösbarer Teil. In jener entfernten Epoche hatte das Wort Tod allgemein in der menschlichen Sprache noch einen völlig anderen Inhalt als in unseren Tagen. „Bebel starb. Was ist mit der deutschen Sozialdemokratie?" ich erinnerte mich, wie mir einst, vor fünf Jahren, Ledebour5 über das innere Leben seiner Partei antwortete: 20% sind entschlossene Radikale, 30% Opportunisten, die Übrigen folgen Bebel.

Bereits der Tod Liebknechts6 (Wilhelms. Red.) war eine erste Warnung an die ältere Generation – in dem Sinn, dass sie die Bühne verlassen könne, ohne das zu erfüllen, was sie als ihre historische Mission erachtete. Aber, solange Bebel lebendig war, blieb die lebende Verbindung mit der heroischen Periode der Bewegung bestehen, und die unheroischen Züge der leitenden Leute des zweiten Aufgebots drangen nicht so hell nach außen.

Als der Krieg begann und bekannt wurde, dass die Sozialisten für die Kriegskredite stimmten, kam erzwungenermaßen die Frage auf, wie in diesem Falle Bebel gehandelt hätte? „ich halte es nicht für möglich,“ – sagte in Zürich P. B. Axelrod, – „dass Bebel einen solchen Sturz der Parlamentsfraktion zugelassen hätte: er hatte die Erfahrung des Krieges des Jahres 1870 und die Traditionen der erste Internationale im Rücken, – nein, niemals!" Aber Bebel war nicht am Leben, die Geschichte entfernte diesen aus der Bahn, um den Gefühlen und Stimmungen volle Freiheit zu geben, sich zu zeigen, welche sich in der deutschen Sozialdemokratie im Verlauf der Jahrzehnte ihres langsamen organischen Wachstum beinahe unmerklich, aber umso unaufhaltsamer ansammelten.

In der Zeit war auch Jaurès bereits nicht mehr am Leben. Die Kunde darüber, dass er umgebracht war, traf mich noch in Wien, das ich dringend verlassen musste, und löste auf seine Art keinen kleineren Eindruck aus als das damalige erste Donnern des Weltgewitters7. Die kolossalen Ereignisse stimmen fatalistisch: eine Person lässt sich einschüchtern, wenn aus den Überschneidungen von entfernten und unmittelbaren, tiefen und oberflächlichen Ursachen der Zusammenstoß bewaffneter Völker erwächst. Aber der Tod Jaurès', der den Zusammenstoß der unpersönlichen Massen vorher ankündigte, drückte den nahenden Ereignissen den Stempel ergreifendег individueller Tragik auf. Dies war dieselbe majestätische Variation des alten, aber nicht alternden Themas des Kampfes des Heroen mit dem Verhängnis. Das Verhängnis wurde für dieses Mal Sieger. Jaurès lag mit durchschossenem Kopf da. Der französische Sozialismus erwies sich als geköpft, und unverzüglich kam die Frage auf: welchen Platz wird er in den derzeitigen Ereignissen einnehmen?

Es schien, dass die Geschichte sich zur Vorbereitung des Zerfalls der Zweiten Internationale, wie sie sich in 25 Jahren ihrer Existenz einwickelt hatte, die Arbeit erleichterte, indem sie zwei Menschen beseitigte, welche die Bewegung dieser ganzen Epoche symbolisierten: Bebel und Jaurès.

In der Persönlichkeit Bebels verkörperte sich die beharrliche und unaufhörliche Bewegung der neuen Klasse von unten nach oben. Dieser zerbrechliche hagere Greis schien ganz geschaffen aus auf ein einziges Ziel gerichtetem Willen. In seiner Denkweise, in seiner Redegewandtheit und in seinen literarischen Werken ließ er überhaupt keinen Aufwand geistiger Energie zu, welcher nicht unmittelbar zum Ziele führte. Er war nicht nur ein Feind von Rhetorik, sondern auch der selbstsüchtigen ästhetischen Verführung unbedingt fremd. Daraus bestand übrigens auch die höchste8 Schönheit von seinem politischen Pathos. Er spiegelte eine Klasse wider, welche in den wenigen freien Stunden lernt, jede Minute wertschätzt und dann gierig verschlingt, was streng erforderlich ist.

Jaurès war hingegen ganz Flug; seine geistige Welt bestand aus ideologischen Traditionen, philosophischen Phantasien, poetischer Vorstellungskraft und hatte so deutlich ausgedrückte aristokratische Züge, wie das geistige Aussehen Bebels plebejisch-demokratisch war. Außer diesen psychologischen Differenzen der zwei Typen – des ehemaligen Drechslers und des ehemaligen Professors der Philosophie – waren zwischen Bebel und Jaurès noch tiefe logische und politische Unterschiede der Weltanschauung: Bebel war Materialist, Jaurès eklektischer Idealist, Bebel war unversöhnlicher Anhänger der Prinzipien des Marxismus, Jaurès Reformist, Ministerialist und so weiter. Aber ungeachtet aller dieser Unterschiede, spiegelten sie in der Politik durch das Prisma der deutschen und französischen politischen Kultur eine und dieselbe historische Epoche wider. Dies war die Epoche des bewaffneten Friedens – in den internationalen Beziehungen wie auch in den inneren.

Die Organisation des deutschen Proletariat wuchs unaufhörlich, die Kasse füllte sich, die Zahl der Zeitungen, Deputierten, Stadträte vermehrte sich ununterbrochen. In der selben Zeit hielt sich die Reaktion fest auf allen ihren Positionen. Von hier aus entfloss die Unausbleiblichkeit des Zusammenstoßes zwischen den zwei polaren Kräften der deutschen Öffentlichkeit9. Aber der Zusammenstoß brach so lange nicht herein, und die Kräfte und Mittel der Organisation wuchsen so automatisch, dass eine ganze Generation es schaffte10, sich an eine solche Lage der Dinge zu gewöhnen, und obgleich alle von der Unausbleiblichkeit eines entscheidenden Konflikts schrieben, sprachen oder lasen, – wie von dem unausbleiblichen Zusammenstoß zweier Züge, die einander auf ein und denselben Schienen entgegen fahren, – hörten sie doch schließlich innerlich auf, diese Unausbleiblichkeit zu empfinden. Der Greis Bebel unterschied sich von vielen anderen auch darin, dass er bis zum Ende seiner Tage in der tiefen Gewissheit dessen lebte, dass die Ereignisse fatal einer Auflösung entgegengehen, und am Tag seines siebzigsten Geburtstags sprach er mit Worten konzentrierter 11Leidenschaft über die künftige Stunde.

In Frankreich gab es weder dieses planmäßige Wachstum der Arbeiterorganisation noch diese offene Herrschaft der Reaktion. Im Gegenteil zeigte sich die Staatsmaschine auf Grundlage des demokratischen Parlamentarismus vollkommen zugänglich. Wenn Jaurès eine Attacke des Klerikalismus und verborgenen oder offenen Monarchismus zurückschlug, wie in der Periode des Dreyfus-Falles, dachte er, dass unmittelbar danach eine Periode reformatorischer „Errungenschaften" beginnen werde. Sein Antagonist, Jules Guesde, verlieh den marxistischen Tendenzen und Perspektiven unter den französischen Bedingungen einen sektiererischen Charakter; als tiefer und unerschütterlicher Fanatiker erwartete er im Verlauf der Jahrzehnte, geistig brennend im Feuer seines Glaubens und angespannter Ungeduld, befreiende Schläge. Jaurès stellte sich auf den Boden der Demokratie und Evolution. Er erachtete als seine Aufgabe den Weg von reaktionären Hindernissen zu säubern und den Parlamentsmechanismus zum Werkzeug tiefster sozialer Reformen zu machen, welche die ganze Gesellschaftsordnung umbauen, rationalisieren und gesund machen müssen. Aber die ökonomische Entwicklung Frankreichs bewegte sich überaus langsam, – die sozialen Beziehungen bewahrten stagnierenden Charakter, Wahlen folgten auf Wahlen und tauschten zwar politische Gruppierungen im Parlamentskaleidoskop aus, verletzen aber nicht die Verhältnisse ihrer grundlegenden Kräfte. Wie sich in Deutschland eine ganze Generation an das selbstzufriedene Wachstum der Organisation gewöhnte, so gingen in Frankreich Persönlichkeiten minderer Größe und Spannweite im Kopf im Parlamentsalltag auf und erinnerten sich nur in feierlichen Reden an die End-„Errungenschaften".

Ein gleichartiger psychologischer Prozess fand auch auf dem Gebiet der Fragen der internationalen Politik statt. Nach dem Kriege des Jahres 1870 war die Erwartung ihrer Wiederaufnahme natürlich. Der Militarismus wuchs ununterbrochen, aber der Krieg wurde ganz beiseite geschoben12. Im Kampf mit dem inneren13 Militarismus auf beiden Seiten des Rhein sprachen sie beständig über die Gefahr des Krieg, aber schließlich hörte die Mehrheit auf, an sie wirklich zu glauben. An das Wachstum des Militarismus gewöhnte man sich wie auch an das Wachstum der Arbeiterorganisationen. 45 Jahre bewaffneter Frieden, innerer und äußerer, vernichteten allmählich im Bewusstsein der Gesamtheit einer Generation die Züge der Katastrophenpsychologie. Und gerade dann, als diese Arbeit wohlbehalten vollendet war, stürzte die Geschichte auf das Haupt der Menschheit die größte Katastrophe, welche andere ankündigt und im Gefolge hat. Da ist nichts zu machen; das ist auch die Dialektik der Entwicklung.

Bebel und Jaurès spiegelten, jede auf eigene Weise, ihre Epoche wider, aber als geniale Leute überragten beide sie um einen Kopf, lösten sich nicht in ihr auf und konnten deshalb in viel geringerem Grade als ihre mittelmäßigen14 Mitarbeiter von ihr plötzlich überrascht werden. Aber sie gingen rechtzeitig aus der Arena ab, um der Geschichte die Möglichkeit zu liefern, im reiner Form den Versuch des Einflusses der Katastrophe auf das nicht-katastrophale Bewusstsein zu machen.

Heute beerdigten sie Eduard Vaillant.15

Er war der einzige, der von den lebenden Vertretern der Tradition des nationalen französischen Sozialismus, des Blanquismus, verblieben war, welcher extreme, bis zur Insurrektion reichende Methoden des Handelns mit extremem Patriotismus verband. Blanqui wollte im Jahre 1870 in seiner Zeitung „Patrie en danger" („Vaterland in Gefahr") keine anderen Feinde außer den Preußen kennen. Und Gustav Tridon, der Freund Blanquis, trat zusammen mit Malon, am 3. März 1871, zum Protest in der Nationalversammlung auf, die sich erdreistetе den Frankfurter Vertrag, folglich, das Zugeständnis Elsass-Lothringens an die Deutschen zu befürworten. „Ich werde unversöhnlich diesem verbrecherischen Vertrag entgegentreten,“ – schrieb Tridon seinen Wählern, – „bis zu dem Tag, an dem die Revolution oder Ihr Patriotismus diesen zerstören wird". In diesem allen war kein Widerspruch: wie Vaillant aus Blanqui hervor ging, so ging Blanqui aus Babeuf und der Großen Revolution hervor. Diese Kontinuität erschöpfte für sie die Entwicklung des politischen Denkens und und schloss sie ab. Für Vaillant, obgleich er auch zu den an Zahl wenigen Franzosen gehörte, welche tatsächlich die deutsche Sprache und deutsche Literatur kannten, blieb Frankreich unveränderlich als messianisches Land, auserwählte Befreiungsnation bestehen, deren Berührung schon andere Völker zu geistigem Leben erweckte. Ihr Sozialismus war tief patriotisch, wie ihr Patriotismus befreiungsmessianisch. Das derzeitige Frankreich mit seinem verzögerten Wachsen der Bevölkerung und ökonomischer Rückständigkeit, mit seinen konservativen Formen des Denkens und Lebens schien ihm noch ganz als im Wesen einziges Land der Bewegung und des Fortschritts.

Nachdem Vaillant die Prüfungen der Jahre 1870-1871 durchlaufen hatte, wurde er ein fanatischer Gegner des Krieges und empfahl im Kampf mit ihm dieselben extremsten Mittel wie auch dessen Mitkämpfer auf den letzten internationalen Kongressen, der Engländer Keir Hardie, der einige Monate vor Vaillant die Bühne verlassen hatte. Aber als der Krieg ausbrach, konzentrierte sich die ganze europäische Geschichte, die durchlaufene und künftige, für Vaillant in der Frage des Schicksals Frankreichs. So wie für ihn alle Siege des Denkens und alle Erfolge der Gerechtigkeit unmittelbar aus der Großen Revolution entflossen, welche französisch war und blieb, musste er einfach schließlich ihre Ideen mit dem Blut der Rasse verbinden. Die Sache ging um die Rettung des Gottesträger-Volks, 16und für diese Ziele bereitete Vaillant vor, alle Kräfte in Bewegung zu bringen. Und Vaillant begann damals, Artikel im Stil des „Vaterland in Gefahr" Blanquis zu schreiben. Er segnete das Schwert des Militarismus, gegen welches er in der Friedenszeit so grausam kämpfte – unter der Bedingung, dass dieses von der Großen Revolution geerbte Schwert die deutsche Monarchie und den deutschen Militarismus niederwerfe. Vaillant war extremster Anhänger des Krieges jusqu'au bout (bis zum Ende). Die Leitartikel, welche er zu Anfang des Krieges täglich schrieb, atmeten eine solche Anspannung nationaler Gefühle, dass die mittelmäßigeren Nationalisten des Typs des derzeitigen Chefs der Partei Renaudel, sich nicht ohne Grund verlegen fühlten. Im 75-jährigen Kopf des Blanquisten wurde die alte messianisch-revolutionäre Konzeption geweckt. Der deutsche Militarismus handelte unter seiner Feder nicht als Produkt deutscher sozialer Bedingungen, sondern als äußerer ungeheurer Aufbau, den man mit dem Schlag des republikanischen Schwerts von außen niederwerfen könne. Vaillant war abschließend enttäuscht von der deutschen Rasse. und als sich in Stuttgart Opposition gegen den Militarismus und den offiziellen Parteikurs erhob, begann er Zufügungen von gallischem Blut im Süden Deutschlands zu suchen, um den Mut der Württemberger Sozialisten zu erklären …

Renaudel, Compère-Morel, Longuet und andere ausgeglichene Parlamentarier schauten mit Unruhe auf den alten Blanquisten, auf den Don Quixote des revolutionären Messianismus Frankreichs, welcher wie durch seine unveränderlich dunkle Brille den tiefen Wandel in den historischen Bedingungen überhaupt nicht bemerkte. Einige Monate später entfernte sich Vaillant vollkommen von der Zeitung. Deren Leitung ging in die Hände Pierre Renaudels über, der ein Vulgarisator unter Jaurès war und alle schwachen Züge des eigenen genialen Lehrers erbte…

ich traf Vaillant einige Monate vorher im Aktionskomitee (eine „Kriegs"-Gründung, bestehend zur Hälfte aus Delegierten der Partei, zur Hälfte aus Vertretern der Gewerkschaften). Vaillant ähnelte seinem Geist – dem Geist des Blanquismus in der Tradition der sanscoulottischen Kriege in der Epoche des imperialistischen Weltkriegs. Er erlebte noch den Moment, als das Schwert der Republik, welches für die Vernichtung der Hohenzollern-Monarchie vorherbestimmt war, dem royalistischen Katholiken Castelnau ausgehändigt wurde. In diesem Kapitel der politischen Geschichte Frankreichs und des ganzen Krieges starb der alte Blanquist, und gab auf solche Weise auch seinem Tod einen Zug politischen Stils.

Frankreich und zuallererst der französische Sozialismus wurden um einen großen Menschen kleiner. Die Mittelmäßigkeit der Epoche des Interregnum wird sich – leider, auch anderen! – noch beträchtlicher vorkommen. Aber nicht für immer und nicht einmal für lange Zeit. Die alte Epoche verlässt mit ihren Leuten die Bühne, die neue Epoche wird neue Leute finden.

1In der englischen Übersetzung: „ideologisch“

2 s. über ihn in diesem Band den Artikel „Dobrogeanu-Gherea" auf S. 80. Red. [der „Werke]

3In der englischen Übersetzung: „dem bekannten in Russland geborenen Schriftsteller“

4In der englischen Übersetzung: „unmöglich“

5 s. über ihn in diesem Band den Artikel „Ledebour-Hoffmann" auf S. 74. Red. [der „Werke]

6In der englischen Übersetzung: „Wilhelm Liebknechts“

7In der englischen Übersetzung: „Weltsturms“

8In der englischen Übersetzung: „höhere“

9In der englischen Übersetzung: „deutschen gesellschaftlichen Lebens“

10In der englischen Übersetzung: „Zeit hatte“

11In der englischen Übersetzung ist der Schluss des Satzes in Anführungszeichen

12In der englischen Übersetzung: „ging immer mehr zurück“

13In der englischen Übersetzung: „nationalen“

14In der englischen Übersetzung: „unmittelbaren“

15In der englischen Übersetzung: „Heute wurde die Asche Edouard Vaillants beerdigt“

16In der englischen Übersetzung fehlt der Schluss des Satzes

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