Leo Trotzki: Ch. Rakowski und W. Kolarow [„Kijewskaja Mysl“ Nr. 294, 23. Oktober/5. November 1915, eigene Übersetzung nach dem russischen Text in Werke, Band 8, Politische Silhouetten, Moskau-Leningrad 1926 {Сочинения. Том 8. Политические силуэты. Москва-Ленинград, 1926, S. 77-80, verglichen mit der englischen Übersetzung] Im Raum der Redaktion der „Berner Tagwacht“ („Berner Wache“) traf ich eine internationale Gesellschaft in einer für heutige Zeiten vollkommen ungewöhnlichen Zusammensetzung. Hier waren zwei Berliner Redakteure, eine Persönlichkeit der Arbeiterinnenbewegung aus Stuttgart, zwei französische Syndikalisten – der Sekretär des Bundes der Metallarbeiter Merrheim und des Bundes der Böttcher Bourderon, – der Doktor Rakowski aus Bukarest, ein Pole und eine Schweizerin. Diese waren die ersten Delegierten, die zur Konferenz eintrafen. Grimm war nicht da, – er machte eine unbedeutende1 Agitationsreise in seinem Bezirk und sollte bis zum Abend zurückkehren. Morgari befand sich in London, und von ihm erwarteten sie von Stunde zu Stunde ein Telegramm über die Ausreise der Engländer. In der Person Rakowskis traf ich einen alten Bekannten. Christo Rakowski ist eine der „internationalsten“ Figuren in der europäischen Bewegung. Rakowski ist Bulgare nach der Herkunft, aber rumänischer Untertan, französischer Arzt nach seiner Bildung, aber russischer Intellektueller nach Verbindungen, Sympathien und literarischer Arbeit (mit der Unterschriften Ch. Insarow veröffentlichte er in russischer Sprache eine Reihe Zeitschriftenartikel und ein Buch über die dritte Republik), beherrscht alle Balkansprachen und drei europäische, nahm aktiv am inneren Leben von vier sozialistischen Parteien teil – der bulgarischen, russischen, französischen und rumänischen – und steht nun an der Spitze der letzteren. Die Politik der jungen rumänischen sozialistischen Partei in dieser Epoche des Krieges war bis zu einem gewissen Grade2 parallel zur Politik der italienischen Partei. Die rumänischen Sozialisten machten sich für die Neutralität stark, was auf heißes Lob oder ebenso heißen Tadel von Seiten der Deutschen und Franzosen stieß – in Abhängigkeit davon, auf welche Seite die Bukarester Regierung hinauswollte und gegen welche Neigung im gegebenen Moment die sozialistischen „Neutralisten“ ihre Schläge lenkten. Südekum kam im vergangenen Herbst in Bukarest an, um die rumänischen Sozialisten zum Widerstand gegen die Einmischung im Krieg auf Seiten der Entente-Mächte zu „begeistern“. Dessen Beistand wurde jedoch abgelehnt. Aber auf der anderen Seite, als der ehemalige Deputierter Charles Dumas, der derzeitige Kabinettschef von Jules Guesde, sich im Mai diesen Jahres an seinen alten Freund Rakowski mit einem Brief wandte, in dem der offizielle französische Standpunkt zum Krieg entfaltet wurde, antwortete Rakowski ihm in einer ganzen politischen Broschüre, sanft im Ton, aber sehr entschlossen im Wesen („Les socialistes et la guerre“ („Die Sozialisten und der Krieg“), Boucarest, 1915). In dieser Broschüre entfaltet er den Gedanken, dass zwischen der offiziellen Taktik der französischen und der deutschen Parteien keine prinzipiellen Differenzen sind, aber dass es innerhalb jeder dieser nationalen Parteien sich zwei unversöhnliche Konzeptionen abzeichnen: „Wir haben vor uns nicht zwei Taktiken, sondern zwei Sozialismen. Dies ist die Wahrheit“. - „Werden Sie kämpfen?“ - „Fragen Sie darüber bei den Bulgaren“, – antwortet uns Rakowski. – Unsere Regierung hält sich bisher an die Neutralität. Aber es gibt zu viele Gründe anzunehmen, dass die Einmischung Bulgariens das unbeständige Brett der Neutralität unter den Füßen des Kabinetts Brătianu zerschlagen wird. (Wir erinnern den Leser daran, dass dieses Gespräch Anfang September des Jahres 1915 stattfand) - „Werden Sie kämpfen?“ – wandte ich mich an einen der Hauptleiter der Partei der „Tesnjaki“, der am nächsten Tag eintraf, den Deputierter der bulgarischen Volksversammlung Wasil Kolarow*52, den Philippоpoler [Plowdiwer] Advokaten, Reserveoffizier, der seinerzeit für den Kriegszug gegen die Türken mit einem Orden für Tapferkeit geehrt wurde. - „Werden wir!“ – antwortete er, beinahe ohne zögern. – „Die Neutralität Radoslawows*53 hat rein abwartenden Charakter. Die Frage des Schicksals Konstantinopels, wie es von der Entente aufgeworfen wurde, hatte entscheidenden Einfluss auf die allgemeine bulgarische Politik. Aber auf der anderen Seite stärkten die militärischen Misserfolge Russlands kräftig unsere Germanophilen, die Nachfolger der Stambulski-Tradition…“ - „Dies bedeutet auf alle Fälle, dass Sie auf Seiten Deutschlands kämpfen werden?“ - „Zweifellos. Aber zweifelten Sie etwa daran? - „Die französische Presse erhält in dieser Hinsicht Illusionen in der öffentlichen Meinung tätig aufrecht… was aber wird in diesem Fall die Taktik Ihrer Partei sein?“ - „Wir, die „tesnjakischen“ Sozialisten, werden bis zum Ende gegen die Einmischung kämpfen, aber danach auch gegen den Krieg selbst. Aber unmittelbaren praktischen Erfolg unserer Gegenwehr können wir nicht erwarten.“ - „Aber die „weiten“ Sozialisten?“ - „Sie schließen sich mehr oder weniger eng an an den russophilen Block an. Aber ich zweifle nicht daran, dass sobald Radoslawow den letzten Deckmantel von seiner Politik wegreißen und das Land vor die vollendete Tatsache der militärischen Einmischung stellen wird, die „weiten“ Sozialisten wie auch die bürgerliche russophile Partei nationale Interessen, die Unmöglichkeit, in einem solchen tragischen Moment die Spaltung hineinzutragen, und so weiter und so fort vorschützen werden, sich faktisch vor der Politik Radoslawows beugen werden. Die Regierungspresse bearbeitet in diesem Sinn die öffentliche Meinung von Tag zu Tag. - „Übrigens, ist Ihnen bekannt“, – fuhr unser Gesprächspartner fort, – „dass Zar3 Ferdinand in letzter Zeit mit den „weiten“ Sozialisten flirtet? in einem Kurort begegnete er einem ihrer Chefs und klagte bitter darüber, dass die Sozialisten ihm nicht vertrauen, während er in der Seele beinahe völlig mit ihnen sei. Im Organ Malinows, „Demokrat“, wurde Zar Ferdinand bereits mit eifersüchtiger und verdächtiger Ironie gekrönter Sozialist genannt.“ Die Voraussicht meines scharfsinnigen Gesprächspartners – der wahrscheinlich jetzt bereits in den Reihen der aktiven bulgarischen Armee ist, – bestätigte sich völlig. Kaum dass Kolarow bei sich in Plowdiw ankam, als Bulgarien die Mobilmachung erklärte. Die „weiten“ Sozialisten versprachen in der Eigenschaft als Patrioten, Radoslawow keine Schwierigkeiten zu machen. Die „Tesnjaki“ führten ihre Linie bis zu Ende weiter. In der letzten Nummer ihres Organs „Rabotnitscheskij Wjestnik“, die mich erreichte, sind auf folgende Weise jene Bedingungen charakterisiert, unter welchen sie ihren Kampf gegen das Abenteuer der bulgarischen Regierung liefern: „Unsere Versammlungen sind nicht zulassen, unsere Aufrufe und Aushänge werden konfisziert, Redner und Agitatoren werden auseinandergetrieben, verprügelt und arretiert, Telegramme an unsere Zeitung mit dem Ausdruck des Protests gegen das nationalistische Abenteurertum und mit Forderungen nach Frieden werden aufgehalten“… Rakowski und Kolarow trafen auf der Konferenz nicht nur als Delegierte der rumänischen und bulgarischen Arbeiterparteien ein, sondern auch als Vertreter der sozialdemokratischen Balkanföderation, die auf der Gesamt-Balkan-Konferenz geschaffen wurde, welche diesen Sommer in Bukarest abgehalten wurde. Das Banner der vereinigten jungen Balkan-Arbeiterparteien ist die demokratische Föderation aller Staaten der Balkanhalbinsel, die in der Gemeinschaft der ökonomischen Bedingungen und des historischen Schicksals verbunden sind. Dieses Programm stellten die Balkansozialisten zur Zeit der zwei letzten Balkankriege auf.4 Jetzt sind sie mehr als jemals zuvor überzeugt davon, dass es nur mit einer republikanischen Föderation eine Rettung der Balkanvölker. Aber zu diesem Ziele legt die Geschichte keine geraden Wege an. Der blutige europäische Strudel bezieht auch die Balkannationen ein. Zur unausbleiblichen Vereinigung gehen sie durch die wechselseitige Ausrottung. Wie viele Verkünder der Balkanföderation fielen in den Kriegen der letzten Jahre! Der allerschwerste Schlag für die serbische und ganze Balkansozialdemokratie war der Tod von Dimitrije Tucović in diesem Krieg, einer der vornehmsten und heroischsten Gestalten der serbischen Arbeiterbewegung … 1Fehlt in der englischen Übersetzung 2In der englischen Übersetzung: „bekanntlich“ 3In der englischen Übersetzung: „König“ 4Der Satz fehlt in der englischen Übersetzung |
Leo Trotzki > 1915 >