NR. 22 VOM 12. AUGUST 1916 [nach: Spartakusbriefe, Berlin 1958, S. 192-205] POLITISCHE BRIEFE 12. August 1916 W. G.! Wir bitten Sie, zu Ihrer persönlichen Information von folgenden Mitteilungen Kenntnis zu nehmen. Mit Parteigruß! Spartacus RÜCKBLICK UND AUSBLICK In der furchtbaren Atmosphäre des politischen und moralischen Verfalls, der sich der deutschen Sozialdemokratie seit Ausbruch des Krieges bemächtigt hat, bilden die letzten drei Monate des zweiten Kriegsjahrs einen gewissen erfreulichen Wendepunkt. Die Arbeitermassen fangen anscheinend an, aus der Erstarrung allmählich zu erwachen. Sie zeigen durch häufig aufeinanderfolgende Regungen des Protestes, dass sie sich mit der Rolle des militärischen Kanonenfutters für die herrschende Reaktion nicht mehr zufriedengeben, wozu sie von der offiziellen Führerschaft der Partei und der Gewerkschaften verurteilt worden sind. Den Beginn der aktiven Umkehr der Massen zur Politik des Sozialismus bildet diesmal – bezeichnenderweise – der 1. Mai. In Berlin hat die Maidemonstration auf dem Potsdamer Platz, die trotz aller äußeren und inneren Widerstände zu einem achtunggebietenden Erfolg geführt hatte, zum ersten Mal nach längerer Zeit wieder mit dem Missmut und der Gedrücktheit aufgeräumt, die sich seit der letzten misslungenen Demonstration im Dezember 1915 zwar nicht der Arbeiterschaft, aber der führenden Kreise der Berliner Partei bemächtigt hatte. Jene, für die „Sumpfrichtung" der Opposition überhaupt bezeichnende Unterschätzung des in den Massen lebenden Geistes, die meist nichts anderes ist als Ausdruck des eigenen Widerstrebens vor jeder entschlossenen Initiative, wurde am wirksamsten durch die Tatsache der Maidemonstration widerlegt. Diese Demonstration ist ihrerseits durch ihr Nachspiel: den Liebknecht-Prozess zum Ausgangspunkt und Ansporn für die folgenden Kundgebungen im Mai und Juni geworden, wie sie dadurch zweifellos auch auf die Internationale belebend und aufrüttelnd gewirkt hat. So hat sich einigermaßen das schwere Opfer bezahlt gemacht, das sie in der Person Karl Liebknechts der Bewegung gekostet hat. Die Maifeier, die auch im Reich aus der Initiative derselben oppositionellen Richtung hervorgegangen ist wie die Berliner Demonstration, hat in anderen Städten zu noch schöneren Resultaten geführt. An den 1. Mai schließt sich der tapfere und siegreiche Kampf der Braunschweiger Jugend gegen den Sparzwang – ein Kampf, vor dem die allgewaltige Militärdiktatur die Waffen strecken musste und der seinerseits, einen Monat später, die Magdeburger Jugend zu einer ebenso tapferen und ebenso siegreichen Abwehr des Sparzwangs angeregt, wie auf die Jugendbewegung im ganzen Reiche vorbildlich eingewirkt hat. In Hanau wurde die Maifeier zum Ausgangspunkt mehrtägiger Massendemonstrationen der Frauen, die gegen Hunger, Lebensmittelwucher und Völkermord stürmischen öffentlichen Protest einlegten und den bürgerlichen Stadtvätern nicht gelinden Schreck einjagten. Die Hungerkrawalle ziehen sich durch den Mai und Juni fast in ununterbrochener Kette als handgreiflicher Beweis, dass die Erbitterung der Massen bereits als Elementarerscheinung an die Oberfläche tritt und für die aufrüttelnde Agitation der sozialistischen Elemente der Partei den günstigsten Boden bereitet, diese Agitation aber auch zur unabweisbaren Pflicht macht. In Leipzig war schon Mitte Mai als Antwort auf massenhafte Hungerkrawalle der verschärfte Belagerungszustand verhängt, und unser braves Heer nahm „siegreich" von den Straßen und Plätzen Besitz. In Kiel führte die Not der Massen Mitte Juni zum Proteststreik und zur Straßendemonstration der Arbeiter Kaiserlicher Werften. Ende Juni rückte in München unser ruhmreiches Heer gegen revoltierende Massen aus. In Magdeburg, Braunschweig, Osnabrück, Jena, Hannover – allenthalben gab es größere oder geringere Krawalle, die zum mindesten zeigten, dass das Volk anfängt, seine Lammsgeduld und Hundedemut zu verlieren. Die im Juni und Juli fleißig verbreiteten Flugblätter („Hundepolitik", „Hunger", „Steuerpolitik", „Was ist mit Liebknecht?", „Der U-Boot-Krieg") nährten die Kampfstimmung der Masse und gaben ihr klare politische Parolen. Ihre Verbreitung führte aber auch Hand in Hand mit den Demonstrationen zu zahlreichen Verhaftungen und einigen Prozessen. In Stuttgart, wo der Belagerungszustand gegen die radikale Opposition – dank der moralischen Unterstützung durch die „Sozialdemokratie" der Keil und des Parteivorstandes – besonders wütet, hat es in den letzten 3 Monaten mindestens 400 Verhaftungen gegeben. Außerdem in Leipzig, in Jena, in Berlin. Auch in Deutschland kommen wir allmählich in die Zeiten, wo der geziemendste Ort für anständige Leute hinter Gefängnisgittern ist, und die wachsende Zahl von verhafteten Genossen ist als ein Zeugnis der zurückkehrenden Selbstachtung in den Reihen der Partei und der zunehmenden Angst der herrschenden Reaktion zu bewerten. Die Militärdiktatur verlässt sich nicht mehr auf die freiwilligen Apportdienste der Scheidemann, Legien, Heinemann, Heilmann, Stolten, Frohme und Konsorten, deren Einflüsse auf die Massen immer sichtlicher versagen – sie kehrt deshalb zu den zuverlässigeren Handlangern: den bezahlten Spitzeln, Polizeischergen und Gefängniswächtern zurück. Die Prozesse und Verurteilungen, die im Juni und Juli stattgefunden haben, außer dem Liebknecht-Prozess in Berlin, die Prozesse in Stuttgart, in Ulm, in Leipzig, sind gleichfalls ehrende Marksteine des verschärften Kampfes, Gradmesser der steigenden Protestbewegung gegen den Krieg und den Bankrott des Sozialismus. Es ist unmöglich, alle Opfer aufzuzählen, wir können nur Einzelnes hervorheben. Nach der Anordnung des sogenannten Gerichtsherrn sollen in zweiter Instanz gegen den Genossen Liebknecht sechs Jahre Zuchthaus und fünf Jahre Ehrverlust beantragt werden. Und noch ist die Prozedur des militärischen Femgerichtes über Liebknecht nicht abgeschlossen, schon führt die Bande jener infamen Verschwörer gegen die Sache des Volkes einen neuen Schlag. Am 10. Juli wurde die Genossin Rosa Luxemburg wieder verhaftet. Erst vor wenigen Monaten hat sie die Gefängnismauern verlassen, wo sie zur Strafe für ihren bereits in Friedenszeiten beharrlich und rücksichtslos geführten Kampf gegen das Ungeheuer des deutschen Militarismus ein volles Jahr hindurch zubringen musste. Nun versuchen es die Häscher der Militärdiktatur zum zweiten Mal während des Krieges, die Stimme der kühnen, unermüdlichen Kämpferin, deren Schwert den Feinden des Proletariats tödliche Wunden schlug, hinter den Kerkermauern zu erdrosseln, ihren weitblickenden Geist durch rohe Gewalt zu knebeln. Man verhaftete sie ganz plötzlich in heimtückischer Weise, ohne irgendeinen Grund anzugeben, ohne auch nur den Schein einer Anklage, ohne auch nur einen Verdacht auszusprechen. Dabei ist die Militärbehörde so feige, der gesamten Berliner Presse die Mitteilung dieses Handstreichs zu verbieten. Aus Furcht vor der drohenden Erregung in der Großberliner Arbeiterschaft hatte die Zensurbehörde bereits vor der Verhaftung unserer Freundin die Presse angewiesen, nichts darüber zu berichten. Neben den Verhaftungen verhängen die Militärbehörden systematisch Garnisonsdienst und Verschickung in den Schützengraben als Strafe. Wer demonstriert, wer bei den Streiks angeblich besonders beteiligt sein soll, muss sofort seinen Arbeitskittel mit dem Uniformrock vertauschen, ohne Rücksicht darauf, ob er für den Militärdienst tauglich ist oder nicht. Diese Rohheit, körperlich schwächliche Leute den Anstrengungen des Militärdienstes zu unterwerfen, beleuchtet grell die ganze Situation: in der Tat empfinden heute Abertausende den Dienst im „Ehrenrock" schlimmer als eine Haftstrafe. Aber mag die Regierung mit immer neuen Ausnahmemaßregeln gegen die Arbeiterschaft vorgehen: Schutzhaft und Zuchthaus, Gefängnis und Schützengraben werden den Kampf gegen den Krieg nicht ersticken. Hunger im Inlande und Zwang zum Morddienst gegen unsere Brüder im Auslande wecken in immer neuen Scharen von Zehntausenden Groll und Hass gegen das System. Wenn die Säbelherrschaft uns einen „Führer" raubt, schafft ihr Regiment sofort Hunderte von neuen mutigen Vorkämpfern. Den Höhepunkt dieser steigenden Woge des Kampfes bildeten der Massenstreik der Munitionsbranche in Berlin am 28.-30. Juni, der zirka 55 Tausend Arbeiter auf die Straße führte, und der am 27. und 28. Juni wunderbar durchgeführte Massenstreik in Braunschweig – gleichfalls hauptsächlich in den Munitionsfabriken –, beide als Protest gegen die Verurteilung Liebknechts und gegen den Krieg. Zum ersten Mal hatten wir also in Deutschland einen politischen Massenstreik erlebt. Wurde [es] nicht jahrzehntelang von Gewerkschaftsbeamten, von Parteiführern als „Hirngespinste", als „russische Methode", als „Revolutionsromantik", als „Anarchosozialismus" verschrien, wenn man sagte, die deutschen Arbeiter müssten früher oder später genauso zur Waffe des politischen Massenstreiks greifen wie die Arbeiter aller anderen Länder, wenn sie ihrer Aktion den nötigen Nachdruck verleihen wollen? Und vollends im Kriege! War es nicht als heller Wahnsinn, als der Gipfel des Aberwitzes hingestellt, „mitten im Kriege" an einen politischen Massenstreik zu denken? Wurde nicht der brave verstorbene Keir Hardie auf dem Kopenhagener Intern. Kongress von den Deutschen mit mitleidigem Achselzucken wegen seiner Marotte belächelt, als er für den Fall des Weltkrieges den Streik in den Munitionsbranchen auch nur in Erwägung ziehen wollte? Und nun ist das Unmögliche, das Hirnverbrannte, die „russische Revolutionsromantik" am 27. und 28. Juni in Deutschland Tatsache geworden. Was der preußische Wahlrechtskampf, was die schreiendsten Urteile der Klassenjustiz in der Art des Löbtauer Prozesses1, was alle Attentate auf das Koalitionsrecht nicht hatten zustande bringen können, das haben der Weltkrieg und der Liebknechtsche Prozess fertiggebracht. Und wie einfach, wie freiwillig, mit welcher Selbstverständlichkeit haben die Metallarbeiter Berlins und Braunschweigs es als ihre proletarische Pflicht betrachtet, durch demonstrative Arbeitsverweigerung gegen das Schandurteil und gegen den Krieg zu protestieren! Die felsenfesten Theorien der Gewerkschaftsbeamten, ihre jahrzehntelange Dressur – wo sind sie? Im Nu zerstoben vor dem ruhigen Entschluss von 55 Tausend Proletariern. Die Berliner und die Braunschweiger Metallarbeiter haben dem ganzen deutschen Proletariat vorbildlich gezeigt, wie man über die korrumpierte „Führerschaft" der Cohen und der Scheidemann im entscheidenden Moment zur Tagesordnung übergeht. Sie haben zugleich der Regierung gezeigt, dass sie nicht länger als willenlose Sklaven ihre Arbeitskraft für die Zwecke des Imperialismus missbrauchen lassen. Der Vorstoß in der Berliner und Braunschweiger Munitionsbranche wird auch zweifellos im Ausland auf die proletarischen Massen aufmunternd und zum Kampf wider den Völkermord anfeuernd gewirkt haben. Das Datum des 28. Juni kann sicher zum Wendepunkt in der inneren Geschichte des Krieges und der Rolle des deutschen Proletariats im Kriege werden, sofern das Beispiel der Metallarbeiter Berlins und Braunschweigs in den anderen Industrien und Städten würdige Nachahmung findet. Als Anfang der Protestbewegung, als erstes kräftiges Zeichen der Selbstbesinnung der Massen war der Streik des 28. höchst bedeutsam. Aber man darf sich darüber nicht täuschen, dass es doch nur ein Anfang, ein kleiner Anfang war und dass die Bewegung im dritten Kriegsjahr noch ganz anders, breit, mächtig, zäh einsetzen muss, um als ernster Friedensfaktor endlich dem imperialistischen Kriegswagen in die Speichen zu fallen und dem Sozialismus in Deutschland wieder eine Stätte zu erobern. Das Schelmenstück, das sich der Parteivorstand und die Generalkommission der Gewerkschaften mit ihrem Aufruf gegen die „anonymen Hetzer" und gegen den Proteststreik2 wieder als Handlanger der Säbeldiktatur – wahrscheinlich unter deren Diktat – geleistet haben, ist eine neue Mahnung, dass der Augiasstall der Partei wie des imperialistischen Staates nur durch die schärfsten und entschlossensten Kundgebungen des Massenwillens ausgefegt werden kann. Vor allem muss man sich heute vor Augen halten, was die sogenannten Führer unserer Bewegung stets zu vergessen pflegten, dass eine revolutionäre Bewegung, die nicht energisch vorwärtsschreitet, sondern auf dem einmal erreichten Fleck längere Zeit auf den Lorbeeren ruht, in Wirklichkeit zurück schreitet. Der am 28. Juni genommene Anlauf muss im dritten Kriegsjahr zu viel ausgedehnteren Aktionen führen, und dazu ist eiserne Energie, Entschlossenheit und kühne Initiative nötig. Diejenigen weisen Rechenmeister, die bei jeder politischen Initiative erst eine genaue Kostenrechnung verlangen, ob sich auch die möglichen Opfer sofort auf Heller und Pfennig bezahlt machen, und die beispielsweise über den „Leichtsinn" Liebknechts mit gerührtem Augenaufschlag seufzten, zeigen auch hier, dass ihnen die wirklichen inneren Zusammenhänge einer revolutionären Bewegung verborgen sind. In Zeiten der allgemeinen politischen Kirchhofsruhe bleiben die heldenmütigsten Opfer einzelner zunächst und sichtbar ohne jedes Echo. Und doch, auch solche anscheinend „zwecklose" Opfer und Wagnisse sind in der Gesamtrechnung einer großen geschichtlichen Bewegung ein unentbehrlicher Posten. Wo wäre heute die russische Arbeiterbewegung, wo hätte die große Revolution des Zarenreiches den gewaltigen Vorrat an Kampfenergie, politischer Reife und Zielklarheit in den Massen vorgefunden, wenn nicht Jahrzehnte vorher der Golgathaweg der sozialistischen Aufklärungsarbeit mit zahllosen persönlichen Wagnissen und „zwecklosen" Opfern besät worden wäre! Auch jetzt noch wandern russische Sozialisten hundertweise ins Gefängnis, in die Verbannung, ins Zuchthaus, ohne jedes Aufsehen, ohne dass sich die Welt auch nur die Mühe gibt, ihre vertrackten Namen zu erfahren – wie wenn die Russen andere Menschen wären als wir, eigens für Zuchthaus und Gefängnis erschaffen. Heute haben wir in Deutschland – in dem Deutschland der Säbeldiktatur und des Belagerungszustands – russische Zustände, und ohne russischen Heldenmut, ohne russische Opfer kann der Freiheit und dem Sozialismus nun einmal nicht Bahn gebrochen werden. Ehe die deutsche Arbeitermasse nicht die korrumpierende Schule der offiziellen sozialdemokratischen Führer abgestreift hat, ehe sie nicht gelernt hat, dass man nicht bloß auf Befehl des Feldwebels und im Interesse des kapitalistischen Profits, sondern auch aus eigenem freiem Entschluss und für die eigene Klassenbefreiung Haut und Leben in die Schanze schlagen kann, bleiben alle Beschwörungen der Sozialistischen Internationale und ihre Formeln eitel Schall und Rauch. In solchen Zuständen wie den heutigen in Deutschland muss aber auch nach allen Gesetzen der historischen Erfahrung jede kühne Initiative und jedes ehrliche Beispiel segensreiche Nachwirkung ausüben. Und wenn die schönen Anfänge vom 28. Juni keinen weiteren Nachhall finden, wenn die Zuchthausjacke Liebknechts nicht im dritten Jahr der blutigen imperialistischen Orgie zur brennenden Fackel wird, die Millionen endlich zum entschlossenen Kampf gegen den Wahnwitz entflammt, so wird das allerdings eine untilgbare Schmach sein – aber nicht für Liebknecht, sondern für das deutsche Proletariat. DEMONSTRATIONEN UND STREIKS In Bremen war die Demonstration als Protest gegen den Prozess Liebknecht für Donnerstag geplant worden. Aber schon am Montag erschien eine ansehnliche Masse auf der Straße. Hauptsächlich Werftarbeiter und Frauen marschierten unter Hochrufen auf Liebknecht zum Markt, den man trotz des Eingreifens der Polizei z.T. auch erreichte. Besonders schroff ging die Polizei vor dem Gewerkschaftshaus gegen die Menge vor. In den Hauptstraßen der Stadt war ein starkes Menschengewühl, mit dem die Polizei nicht viel anfangen konnte. Am Markt wurden einige Verhaftungen vorgenommen, denen dann auch Bestrafungen folgten. Das war der Montag. Am Dienstag, ohne jede Vorbereitung, ein ähnliches Bild. Wenn es auch zu keinen geschlossenen Zügen kam – die Polizei trieb schon Kinderansammlungen auseinander –, so fanden doch an vielen Ecken Zusammenrottungen statt. Am Mittwoch desgleichen. Die Stimmung war großartig. Der Donnerstag kam. In der vorhergehenden Nacht wurden viele Flugblätter verbreitet, angeklebt usw. Abends gegen 8 Uhr begann der Tanz. Die ganze Stadt war sozusagen auf den Beinen. Die Hauptstraßen waren von Arbeitermassen überflutet, die z. T. ruhig auf und ab spazierten, z.T. Liebknecht hochleben ließen, „Nieder mit der Regierung!" riefen usw. Die Polizei war sehr aufgeregt und ging mit äußerster Schärfe vor. Aber da die ganze Stadt voll Menschen war, vermochte sie keinen Plan in ihre Zersplitterungsarbeit zu bringen. Sie trieb die Menge planlos hierhin und dorthin, und das Bild war im nächsten Augenblick wieder dasselbe. So verlief die Demonstration so eindrucksvoll wie nur möglich. Die Polizei sperrte schließlich die Vorstadt gegen die Innenstadt ab, so dass alle, die in die Innenstadt wollten, umkehren mussten. Gegen 11 Uhr, nachdem die Masse schon teilweise in die Vorstädte zurück geflutet war und die Polizei sich sicherer fühlen mochte, machte sie kurzen Prozess mit dem Rest. Sie ging mit Brutalität gegen wehrlose Menschen vor. Viele Verhaftungen wurden vorgenommen. Am darauffolgenden Montag streikten die Arbeiter der AG Weser. Die allgemein erregte Stimmung hatte zusammen mit der drückenden Nahrungsmittelknappheit bewirkt, dass die Arbeit geschlossen niedergelegt wurde. Es wurden dann Lohnforderungen gestellt, und die Aktion, die zuerst einen imposanten Anstrich hatte, verlief im Sande. Nach zwei Streiktagen nahm man die Arbeit wieder auf, legte sich aufs Verhandeln und wurde gründlich übers Ohr gehauen, indem man sich mit wenigen Pfennigen zufriedengab. In Leipzig wurde zum Protest gegen Liebknechts Verurteilung das Flugblatt „2½ Jahre Zuchthaus" verbreitet. Zahlreiche Exemplare dieses Flugblatts waren nachts an die Anschlagsäulen geklebt worden. Daraufhin erließ das Leipziger Polizeiamt in den bürgerlichen Blättern vom 9. Juli folgende Bekanntmachung: „50 Mk. Belohnung erhält, wer eine der Personen bezeichnen kann, die in vergangenen Nächten an verschiedenen Stellen der Stadt Flugblätter, angeblich in ,Druck und Verlag Schulze Nachf., Stuttgart', erschienen, angeklebt oder sonst verbreitet haben. Mündliche Hinweise werden Wächterstraße 5, Zimmer 70, sonst aber auch von jedem Aufsichtsbeamten entgegengenommen. Vertrauliche Behandlung wird zugesichert. Leipzig, den 8. Juli 1916 Polizeiamt der Stadt Leipzig" Aus Stuttgart wird uns über die Kundgebung am Montag, dem 26. Juni, geschrieben: Die Demonstrierenden sammelten sich 8 Uhr auf dem Karlsplatz und zogen singend und rufend nach dem Charlottenplatz, wo 2000 Menschen versammelt waren. Zuerst griffen Kriminalbeamte, ohne sich zu erkennen zu geben, ein. Sie haben sofort mit Gummiknüppeln auf die Leute eingehauen, und zwar wahllos auf Männer und Frauen, Junge und Alte. Dann erschienen in großer Anzahl uniformierte Schutzleute mit den Revolvern umgegürtet, die Schuppenkette herunter. Einige haben blankgezogen. Der Angriff geschah unter der Anführung des Kriminalkommissars Mauksch (früher in Halle a. S.). Es wurden, nachdem die Menge auseinandergesprengt worden war, eine Menge Verhaftungen vorgenommen. Man holte auch nach Gutdünken bekannte Genossen aus Wirtschaften heraus, da einige Wirtschaften, in denen die Genossen verkehren, unter ständiger Polizeiaufsicht stehen. Aus Kasernen wird berichtet, dass überall die Bereitschaftskommandos aufgeboten und mit scharfen Patronen ausgerüstet worden waren, zum Ausmarsch kam es aber nicht. Die allgemeine Stimmung der Bevölkerung war und ist, nicht zum wenigsten wegen des Verhaltens der Polizei, eine für die Arbeiterschaft günstige. In Braunschweig begann der Proteststreik für Liebknecht am Dienstag, dem 27. Juni, mittags. Er wurde am Mittwoch fortgesetzt. Insgesamt streikten rund 8000 Arbeiter, darunter auch alle großen Betriebe, so dass fast in der ganzen Stadt die Arbeit ruhte. Auch das Parteiblatt, der „Volksfreund", erschien aus Anlass des Streiks am 28. Juni nicht. An dem Streik war u. a. nicht beteiligt die Konsumgenossenschaft! Die seit dem Maistreik rücksichtsvolle Polizei genehmigte für Mittwoch Vormittag eine öffentliche Versammlung. Dort wurde folgende Resolution angenommen: „Streikresolution der Braunschweiger Arbeiter Die heute, den 28. Juni 1916, im ,Wilhelmsblick' versammelten ausständigen Arbeiter Braunschweigs erklären: Die Braunschweiger Arbeiterschaft hat die Arbeit niedergelegt, um gegen die Verhaftung und gegen das gerichtliche Verfahren, das den Genossen Karl Liebknecht mit Zuchthausstrafe bedroht, zu protestieren. Durch die Arbeitsniederlegung sollte zugleich dem tapferen Genossen Liebknecht, der durch Wort und Tat dem Volke seine Treue bewiesen und der unermüdlich für die Beendigung dieses Weltkrieges gewirkt hat, die Sympathie der Braunschweiger Arbeiterschaft zum Ausdruck gebracht werden. Nachdem dieser Zweck erreicht ist, erklärt die Braunschweiger Arbeiterschaft, die Arbeit am Donnerstag, dem 29. Juni, früh, wieder aufzunehmen. Die versammelten Arbeiter erklären jedoch, dass sie erwarten, dass bei und nach Wiederaufnahme der Arbeit keine Maßregelungen und Einberufungen reklamierter Arbeiter stattfinden und dass alle Beziehungen in den Betrieben dieselben bleiben wie vor dem Ausstande. Des weiteren erklären die Braunschweiger Arbeiter, dass sie erbittert sind über die Unfreiheit, die der Belagerungszustand schafft, über die Auswucherung des Volkes, über die Beschränkungen, die ihrem Blatt, dem ,Volksfreund', durch die erneute Verhängung der Vorzensur auferlegt worden sind. Die Braunschweiger Arbeiterschaft leidet mit ihren Familien schwer unter der überaus mangelhaften Versorgung mit Lebensmitteln aller Art, besonders mit Fleisch und Fett und Kartoffeln. Diese fehlerhafte und mangelhafte Versorgung schädigt schwer die Gesundheit und die Arbeitskraft des Volkes: hier muss Abhilfe geschaffen werden. Die Braunschweiger Arbeiterschaft protestiert ferner gegen die ihrer Meinung nach nutzlose Verlängerung des Krieges, in dem das ganze Volk kapitalistischen Interessen geopfert wird. Ein sofortiger Friede ist möglich, wenn die Regierung auf alle Annexionen Verzicht leistet und unverklausuliert ihren Friedenswillen bekundet. Die Braunschweiger Arbeiterschaft fordert die Regierung auf, alles zu tun, was den Krieg beendigen und den Frieden herbeiführen kann. Nimmt die Braunschweiger Arbeiterschaft die Arbeit wieder auf, so erwartet sie, dass allen Forderungen und Wünschen, die sie geäußert hat, von den leitenden Behörden und Instanzen Rechnung getragen wird. Sollte dem nicht so sein, so behält sich die Braunschweiger Arbeiterschaft vor, von allen ihr zustehenden Rechten zu gegebener Zeit Gebrauch zu machen." Die Vorgänge in Groß-Berlin sind bekannt: Am Dienstag, dem 27., abends 8 Uhr, eine große Demonstration auf dem Potsdamer Platz. Große Absperrungen der ganzen Umgegend. Polizei geht brutal vor. Militärwachen halten passierende Soldaten an. Um 10 Uhr abends Fortsetzung der Demonstration auf dem Alexanderplatz, in unmittelbarer Nähe des Polizeipräsidiums. Berittene Polizei reitet in die Menge, schlägt Passanten nieder, schleppt Verhaftete zwischen den Pferden. Trotzdem immer wieder Hochrufe und Gesang bis gegen ½12 Uhr. Viele Verhaftungen; bis heute sind noch etwa 50 Personen in Schutzhaft. Viele kamen wie üblich aus der Haft sofort in die Garnison. Am Mittwoch, dem 28., vormittags, beginnt der Streik. Beteiligt sind rund 55.000 Arbeiter aus großen und mittleren Betrieben der Metallindustrie (Munitionsindustrie). Der Beschluss zum Streik wird erst nach Beginn der Arbeit gefasst. Eine Deputation aus jeder Fabrik kündigt die Absicht der Betriebsleitung an. Dann in geschlossenem Zuge, singend und rufend, zur Lehrter Straße, wo die Verhandlung stattfinden soll. Da die Straße gesperrt, durchziehen die Arbeiter in Trupps von Tausenden das nördliche Stadtviertel. Das Ziel, Linden- und Wilhelmstraße, wird teilweise erreicht. Polizei nimmt neue Verhaftungen vor. Am Donnerstag, dem 29. Juni, wird die Arbeit wieder aufgenommen; doch legen dafür neue Fabriken in den nördlichen Vororten die Arbeit still. Vormittags große Demonstration dieser Arbeiter am Kaiser-Wilhelm-Platz in Schöneberg. Stimmung glänzend; auch viele Arbeiterinnen haben sich beteiligt. Polizei, Partei und Gewerkschaften waren völlig überrascht und leisteten unfreiwillige Anerkennung. Seither sucht die Polizei3 noch „Rädelsführer". Unterstützt wird sie dabei durch die Lumpen des „Hamburger Echo", der Chemnitzer „Volksstimme", der „Korrespondenz Stampfer" und vieler anderer Mehrheitsblätter, die erst kürzlich wieder die Polizei scharfgemacht haben, auf Flugblattverbreitungen und sonstige „landesverräterische" Umtriebe zu achten. So unterstützen jene „Genossen" die Arbeit der Spitzel, die seit dem Streikprotest vor den Fabriken lauern und in den Fabriksälen in der Maske von Arbeitskollegen ihren unsauberen Achtgroschendiensten nachgehen. Auch die Geduld mit diesem Gesindel, das die Interessen einer demokratischen und sozialistischen Partei zu vertreten vorgibt, ist nicht unendlich. Schon ist in einzelnen Versammlungen solchen „parteigenössischen" Denunzianten das Maul mit derber Arbeiterfaust geschlossen worden, und der Boykott „parteigenössischer" Denunziantenblätter macht erfreuliche Fortschritte. POLITISCHES UND KRITISCHES Trugbilder Arbeiterinnen und Arbeiter! Trostloser als je ist eure Lage. Blutiger als je brandet der Krieg. Pulver und Giftgase, Tod und Teufel beherrschen Europa. Das internationale Proletariat zermetzelt sich weiter auf den Schlachtfeldern des Imperialismus, sich duckend unter dem Mordkommando seiner Todfeinde! Millionen neuer Opfer fallen auf dem Mammonaltar der Eroberungsgier, den man euch voll Trug als den Altar des Vaterlandes bekränzt. Grausamer als je greift das Elend, die Hungersnot in euer Mark, in die zarten Körper eurer Kinder; Hunderttausende eurer Lieblinge welken hin wie verdorrende Halme auf den Feldern. Was die herrschenden Klassen gegen diese Verwüstung keimender Menschenkraft tun, weil sie die Söhne des Volkes als künftiges Kanonenfutter brauchen, ist eitel Spiegelfechterei. Immer lebendiger regt sich's in den Massen; immer unheimlicher dringt in die Ohren der Herrschenden, der Beutegeier des Weltkrieges, ein dumpfes Grollen aus der Tiefe der Verzweiflung, aus den Höhlen der Armut, aus den Bagnos der politisch Entrechteten. Mit Massenspeisungen möchte man den Schrei nach Brot ersticken. Lasst euch nicht täuschen durch Hoffnungen, die euch nur eingeträufelt werden sollen, damit ihr euch weiter geduldig missbrauchen und abschlachten lasst. Man will euch glauben machen, die Fahrt eines deutschen Untersee-Handelsboots nach Amerika sei die Morgenröte eines neuen Tags für euch. Gaukelspiel! Lasst euch nicht täuschen! Man verkündet eine neue glänzende Ernte, die bald – bald aller Qual ein Ende bereiten werde! Gaukelspiel! Lasst euch nicht täuschen! Keine glänzende Ernte steht in Aussicht. Das Erntewetter ist schlecht, das bisher Geerntete bleibt weit zurück hinter den großspurigen Prophezeiungen! Und selbst eine glänzende Ernte würde die Not nicht lindern, würde nicht einmal hindern können, dass sie weiter und weiter steigt, solange der Krieg wütet und Deutschland von der Welt abschließt. Lasst euch nicht täuschen – die Hungersnot der Massen wird wachsen, unwiderstehlich, während sich die Reichtümer in den Geldschränken der Kapitalisten weiter häufen werden. Lasst euch nicht täuschen, möge die Regierung auch noch hundert andere Kapriolen vollführen, um eure Sinne zu verwirren. Glaubt nicht ein Wort, was euch die Obrigkeit, was euch die bis in den tiefsten Kern verlogene Zensur heut in den Zeitungen sagen lässt! Vergesst nicht, dass es in Deutschland keine Pressfreiheit gibt! Dass die Zeitungen allesamt nur Regierungswerkzeuge sind! Nur Sammelstätten für die volksbetrügerischen Lügen der Regierung des Belagerungszustands. Augen auf! Der alte Schwindel Zum Todestag von Jaurès konnte man im „Vorwärts", im Artikel von K. Kautsky, zum Schluss folgendes lesen: „Dass keine sachlichen Gründe eine internationale Verständigung über den Frieden unmöglich machen, hat die Konferenz von Zimmerwald bewiesen. Darin liegt ihre historische Bedeutung. Diese wäre noch größer gewesen, wenn sie jeden Zweifel daran ausgeschlossen hätte, dass es ihr nur darum zu tun sei, die bestehende Internationale in Gang und ihre Beschlüsse zur Durchführung zu bringen, wenn nicht einzelne Teilnehmer das Bedürfnis gehabt hätten, die Neubelebung der Internationale damit beginnen zu wollen, dass sie die bestehende Organisation in die Luft sprengten und ihre Beschlüsse für nichtig erklärten." Also „die alte Internationale ist nicht tot"! I bewahre, sie lebt – sie wirkt sogar sehr vernehmlich. Und zwar in den Schützengräben, wo ihre Mitglieder einander die Gurgeln abschneiden, sie „lebt" auch in den Parlamenten, wo sie Kriegskredite, d. h. Mittel zum Ankauf von Granaten und Bomben, bewilligt, sie lebt endlich auch in der Parteipresse Deutschlands, Frankreichs, z. T. Englands, Russlands, wo sie das „Durchhalten" im gegenseitigen Morden predigt. Die „alte Internationale" der Scheidemann, der Albert Thomas, des „Genossen" Heilmann und des „Genossen" Hyndman – sie lebt noch – Heil uns! Nicht ihr blanker Verrat am Sozialismus hat sie „in die Luft gesprengt", sondern „einige Teilnehmer" der Zimmerwalder Konferenz. Und einen solchen infamen Schwindel zur Irreführung der deutschen Arbeiterschaft drucken der „Vorwärts" und nach ihm andere Organe der „Arbeitsgemeinschaft" feierlich an leitender Stelle ohne eine Silbe der Verwahrung ab! Das ist die Opposition der „goldenen Mitte", wie sie leibt und lebt. 1 In einem Prozess vor dem Dresdener Schwurgericht wurden Anfang Februar 1899 neun Bauarbeiter aus Löbtau in Sachsen zu hohen Gefängnis- und Zuchthausstrafen verurteilt. Sie hatten dagegen protestiert, dass auf einer Baustelle über die festgesetzte Arbeitszeit hinaus gearbeitet werden musste. Als der Bauleiter daraufhin mit dem Revolver einige blinde Schüsse abgefeuert hatte, war es zu Tätlichkeiten gekommen. 2 Erklärung des Vorstandes der SPD und der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands vom 25. Juli 1916 gegen die Streikbewegung. In: Dokumente und Materialien zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Reihe II, Bd. 1, Berlin 1958, Dok. Nr. 149. 3 In der Quelle irrtümlich: Partei. |
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