W. M.: Eine „infame trotzkistische Lüge“ [Nach Permanente Revolution, Zeitschrift der Linken Opposition der KPD (Bolschewiki-Leninisten) (Sektion der Internationalen Linken Opposition) 2. Jahrgang Nr. 8 (Mitte April 1932), S. 7] Die Tatsache, dass der Berliner Parteitag der SAP eine Prinzipienerklärung angenommen hat, in der die unleninistische Theorie von der Möglichkeit der Vollendung des Sozialismus in einem einzelnen Lande abgelehnt wird, hat bei einigen Redakteuren der «Roten Fahne» Wutausbrüche ganz besonders schwerer Art ausgelöst. Es hieße, dem zu jeder kameradschaftlichen Auseinandersetzung unfähigen stalinistischen Blatt zu viel Ehre antun, wollte man auf die geradezu an Irrsinn grenzenden Schimpfereien überhaupt antworten. Wir wollen nur rein sachlich auf den Vorwurf eingehen, der uns sehr oft gemacht wird und den •Die Rote Fahne» auch jetzt wieder erhebt: dass es nämlich gar keine Theorie der Vollendung des sozialistischen Aufbaus in einem Lande gäbe, sondern, dass es sich hier, wie «Die Rote Fahne» sich auszudrücken beliebt, um eine «infame trotzkistische Lüge» handelt. Lassen wir den «Führer des Weltproletariats» Stalin zuerst selbst sprechen! Er erklärte auf dem 7. Erweiterten Plenum des EKKI im Dezember 1925: «Es unterliegt keinem Zweifel, dass die Erfolge des sozialistischen Aufbaus in unserem Lande, und um so mehr der Sieg des Sozialismus und die Vernichtung der Klassen Tatsachen von so welthistorischer Bedeutung sind, dass sie den mächtigen Drang der Proletarier der kapitalistischen Länder zum Sozialismus, dass sie revolutionäre Ausbrüche in anderen Ländern auslösen müssen.» Hier wird also von Stalin mit aller Deutlichkeit ausgesprochen, dass erst die Vernichtung der Klassen, also doch die Vollendung des sozialistischen Aufbaus in Russland, erfolgen müsse, und dass dann das russische Beispiel die Arbeiter der anderen Länder zu «revolutionären Ausbrüchen» begeistern werde. Diese 1925 angezeigte Perspektive hat sich schon jetzt als völlig falsch erwiesen. Aus bloßer Begeisterung für sozialistische Erfolge in einem andern Land kann man die Arbeitermassen niemals erfolgreich in revolutionäre Kämpfe führen. Es müssen vielmehr die eigenen Erfahrungen hinzukommen, es muss sich die Notwendigkeit des revolutionären Kampfes gegen den Klassenfeind im eigenen Land aus her konkreten Lage heraus ergeben, wenn die Weltrevolution weitere Etappen zurücklegen soll. Die großen Erfolge auf dem Wege des Sozialismus in der Sowjetunion sind unbestreitbar, aber die von Stalin 1925 vorausgesagten Wirkungen sind in keinem der übrigen Länder eingetreten. Was aber an der stalinschen Theorie noch gefährlicher ist, das ist der Umstand, dass nach dieser Perspektive die Revolution in den nichtrussischen Ländern an die Vorbedingung der Vernichtung der Klassen in Russland selbst geknüpft wird. Nun sollen ja durch den zweiten Fünfjahresplan die Klassen bis ungefähr zum Jahre 1937 abgeschafft sein, aber kein ernsthafter Revolutionär nimmt diese Fantasien Stalins ernst. Jeder nüchterne deutsche Arbeiter ist sich vielmehr bewusst, dass der Prozess des Absterbens der Klassen auch in Russland – und wegen seiner Rückständigkeit gerade in Russland – noch mindestens Jahrzehnte andauern wird. Die Weltrevolution erst als eine Folge dieses Prozesses hinstellen, wie Stalin es tut, heißt im internationalen Proletariat pessimistische Stimmungen für die Gegenwart und die nächste Zukunft erzeugen, heißt die Passivität der breiten Massen noch steigern und heißt nicht zuletzt, diese Massen der Politik des kleineren Übels in die Arme treiben. Man könnte dem nun vielleicht entgegenhalten, dass diese stalinsche Theorie von 1925 inzwischen stillschweigend fallen gelassen worden sei und heute nicht mehr vertreten werde. Aber auch das wäre eine den Tatsachen völlig widersprechende Behauptung. Fast denselben Gedanken, wie ihn Stalin 1925 ausgesprochen hat, findet man z. B. noch vor wenigen Wochen in der theoretischen Zeitschrift der Komintern, der «Kommunistischen Internationale» (vom 10. Februar 1932) offen vertreten. Hier heißt es: «Der Aufbau der klassenlosen Gesellschaft auf einem Sechstel der Erde soll hunderte Millionen Werktätige in den Kampf für den Sozialismus führen und wird unzweifelhaft eine Umwälzung in der ganzen Welt herbeiführen und die gesamte Arbeiterklasse befreien.» Auch hier also die Auffassung, dass das russische Beispiel schon sozusagen automatisch die Weltrevolution zur Folge habe, weil die internationale Arbeiterschaft aus lauter Begeisterung für die angebliche klassenlose Gesellschaft in Russland ihrerseits zur Revolution schreiten werde. Die Linke Opposition lehnt diese für die Sowjetunion schönfärberische, für die kommunistische Weltbewegung aber auf lange Sicht völlig pessimistische Auffassung der heutigen Kominternführer ab. Wir besitzen nicht genügend Fantasie, um zu glauben, dass in Russland in der Zeit des zweiten Fünfjahresplans die klassenlose Gesellschaft geschaffen werden kann Wir wollen aber mit der Weltrevolution auch gar nicht warten bis zu diesem leider noch so fernen Zeitpunkt. Wir sehen die dem Sowjetstaat heute von außen drohende Gefahr der imperialistischen Intervention, die besonders im Fall eines Sieges des Faschismus in Deutschland äußerst akut werden wird Der wirksamste Schutz des sozialistischen Aufbaus in Russland liegt für uns nicht darin, dass wir begeistert die Erfolge der Industrialisierung und Kollektivierung betrachten und die Vollendung dieses gewaltigen Werkes abwarten, sondern darin dass wir alles daransetzen, den Klassenfeind im eigenen Lande schon in der Gegenwart zu schlagen, damit möglichst bald der sozialistische Aufbau auf gesicherter internationaler Basis in Angriff genommen werden kann. W. M. |
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