Parvus: Die Reichskrisis und die Sozialdemokratie [„Bremer Bürger-Zeitung“, Nr. 205-207 und 212, 2., 3., 5. und 10. September 1910] I. Die politische Situation Das Reich macht eine Krisis durch. Das weiß jetzt jeder Zeitungsschreiber, jeder Parlamentarier, und selbst Herr Bethmann-Hollweg weiß es. Der einzige Trost der bürgerlichen Parteien und der Regierung inmitten der zerfahrenen Situation ist der Zwist, der jetzt innerhalb der Sozialdemokratie entbrannt ist. Mit der größten Spannung verfolgen sie es, ob die Geschlossenheit der Sozialdemokratie, in der sie angesichts ihrer eigenen Zersplitterung die größte Gefahr erblicken, aufgegeben werden würde. Hätten unsere Gegner mehr geschichtliches Verständnis, so würden sie begriffen haben, dass auch unsere Divergenzen das Ergebnis sind der widerspruchsvollen Entwicklung, die das Reich durchmacht. Aber während die staatserhaltenden Elemente enttäuscht und verärgert einander gegenüberstehen, weil sie den Glauben an sich selbst und das Vertrauen der Regierung verloren haben und nicht mehr wissen, wie sie sich helfen sollen, streiten wir uns darüber, wie wir die politische Situation, die für uns unzweifelhaft äußerst günstig ist, am besten ausnützen könnten. Sucht man nach einer allgemeinen Idee, um die politische Situation vom Gesichtspunkte des proletarischen Klassenkampfes zu charakterisieren, so wird man als ihren hervorragendsten Zug die Lockerung der Staatsgewalt anerkennen müssen. Äußerlich steht der Apparat mit seinen Armeen, Panzerschiffen und seiner zentralen Kommandogewalt groß und mächtig da, aber im Innern treten starke Reibungen, Lockerungen hervor, da liegt die Schwäche, die Autorität ist geschwunden, und der Staat zeigt sich nicht mehr imstande, jenen alles bestimmenden Druck nach Innen auszuüben, an den man besonders in Deutschland gewöhnt ist. Das ist aber zunächst keine spezifisch deutsche Erscheinung. In der ganzen kapitalistischen Welt, in Westeuropa vor allem, sehen wir die gleiche Inkongruenz zwischen der äußeren Machtfülle und der inneren Zersetzung des Staats, nur dass in den anderen parlamentarischen Staaten die Regierungen längst die Konsequenz daraus gezogen haben in der Gestalt von Konzessionen an die Demokratie. Der Umschwung geschah im Ausgang der 90er Jahre und bedeutet eine Wendung innerhalb einer Entwicklung, die bis auf 1848 zurück datiert. Die blutige Niederlage des französischen Proletariats in der Revolution hatte die preußischen Siege zur Folge, diese — eine lange Periode politischer Stagnation, der ganz Europa verfiel. Sie setzte sich zusammen aus der Furcht der Bourgeoisie vor dem Proletariat und dem großen Respekt aller vor der bewaffneten Macht, deren Hauptrepräsentant Preußen war. In Europa herrschte „die starke Faust“ oder, wie in Frankreich, die Sehnsucht danach. So bis in die 90er Jahre, dann trat der Zusammenbruch ein. Die Niederlagen und der Sturz Bismarcks im Reich, Massenkämpfe in Belgien, Italien, Österreich, eine turbulente Staatskrisis in Frankreich gingen ihm voran. Selbst in England, das eine gleichmäßigere politische Entwicklung aufzuweisen hat, gingen das starre Regime Salisbury und der Burenkrieg seiner jetzigen neodemokratischen Ära voran. Die Änderung geschah also nirgends spontan, sie ist das Ergebnis großer politischer bzw. parlamentarischer Kämpfe, in denen die in der Politik wirkenden sozialen Kräfte sich gemessen hatten und die zum Teil direkt von Massenaktionen und Straßenschlachten begleitet waren. Gegenwärtig sehen wir in allen Industrieorten um das deutsche Reich herum, neben einem ausschweifenden Imperialismus, ein ostentatives Werben der Regierungen um die Gunst der Massen, das, je nach der bisherigen Entwicklung, der Initiative und Energie, die die Volksmassen zu entwickeln verstehen, zu mehr oder weniger bedeutenden demokratischen Konzessionen führt. Europa geht seine eigenen Wege, Deutschland mit seinem preußischen System steht isoliert da und findet nur noch Verständnis beim Zaren, der, noch immer erschreckt durch Revolution, das Schreckensregime braucht, um nicht zu verzagen. Die Taktik des Staats dem Proletariat gegenüber ist jetzt eine andere als vor 10 bis 15 Jahren. Während wir damals in allen Dingen auf den erbittertsten materiellen und ideellen Widerstand stießen, finden wir jetzt äußerlich Anerkennung, das Proletariat wird also geradezu umschmeichelt, man lässt es aber doch nicht zur Geltung kommen und gibt sich alle Mühe, die Arbeiter durch Scheinkonzessionen abzuspeisen. Wir hatten früher die nackte Gewalt vor uns und haben jetzt Gewalt gepaart mit List — das diktiert auch uns eine kompliziertere Taktik. Der Änderung der Staatspolitik entspricht auch eine Umstimmung der öffentlichen Meinung. Diese entspringt verschiedenen Quellen. Zunächst sind 60 Jahre Furcht vor der Revolution gerade ausreichend, um dies Furcht etwas verblassen zu lassen. Die Pariser Kommune hat allerdings die rote Angst der Bourgeoisie wieder aufgefrischt — aber die Kommune blieb eine Episode in der Geschichte Europas. Die russische Revolution hat die Bourgeoisie der ganzen Welt mit Schrecken erfüllt, doch sie scheint überwunden zu sein, und man gedenkt ihrer nicht mehr. Die türkische Revolution betrachtet die europäische Bourgeoisie nahezu als ihr eigenes Werk. Die Angst vor der proletarischen Revolution ist deshalb gewiss noch lange nicht geschwunden, sie führt noch gelegentlich zu einem Ausbruch wilder Leidenschaft der Eigentumsbestie, aber sie ist nicht mehr der konstante Faktor, der alles politische Denken und Wirken der Bourgeoisie beherrscht, wie in den siebziger und achtziger Jahren. Die Bourgeoisie selbst hat sich in ihrer sozialen Zusammensetzung geändert. An Stelle der Handwerker und Kaufleute der Provinzstädte ist die moderne großstädtische Bevölkerung getreten — für diese ist der entwickelte Parlamentarismus mit seinem ganzen Apparat des politischen und kulturellen Liberalismus ebenso eine politische Notwendigkeit wie die städtische Kanalisation eine sanitäre; sie kann sich ohne diesen gar nicht ausleben und sie besitzt ganz andere politische Interessen und einen ganz anderen Betätigungsdrang als die Kleinstädter von ehemals. Andererseits hat das Bauerntum seine politische Rolle in Westeuropa ausgespielt; es war jenes soziale Element, das die meiste Konfusion in die Revolution hineintrug und am letzten Ende die breite Grundlage der Reaktion abgab. Das Bauerntum wirkte aber zugleich innerhalb des Parlamentarismus als Ballast der kapitalistischen Politik; dies um so mehr, als das Agrarkapital sich auf die politische Agitation verlegte, seinen wirtschaftlichen Einfluss, seine persönlichen Beziehungen und die kulturelle Rückständigkeit des Bauerntums benützte, um eine parlamentarische Kraft zu bilden. Die Agrarzölle Europas sind ein eklatanter Beweis dafür. Und nun sehen wir jetzt, dass der Kampf der großstädtischen Bevölkerung um den Liberalismus zugleich ein zu einer Auseinandersetzung zwischen den städtischen Konsumenten, der Industrie einerseits und dem Agrarkapital andererseits wird. Die Teuerung, dieses große Ergebnis der kapitalistischen Weltmarktentwicklung, verschärft diese Kämpfe und erweitert sie zu Gegensätzen, von denen man in den 70er und 80er Jahren, ja noch vor wenigen Jahren, sich kaum eine Vorstellung machen konnte. Eine tiefe Spaltung geht durch die besitzenden Klassen und ihren sozialen Anhang, und diese Spaltung bedingt mit dem zaghaften und vorsichtigen Auftreten der Regierungen den Arbeitermassen gegenüber. Dann auch noch der Militarismus und Marinismus mit ihren steigenden Lasten und ihrer steigenden Erbitterung, der Imperialismus mit seinen Kriegstendenzen, für die er die Volksmassen braucht. Als letztes, aber entscheidendes Moment das zielbewusste Auftreten des organisierten Proletariats. In seinen Massenaktionen der letzten 15 Jahre hat das Proletariat nirgends den Staat niederzwingen können, überall musste es am letzten Ende zurückweichen; aber es zeigte sich auch überall, dass diese Kämpfe den Staat in seinen Grundlagen erschüttern und eine politische Zersetzung schaffen, die vor allem seine Widerstandsfähigkeit nach außen schwächen, wenn nicht lahmlegen, und aus diesem Grunde sahen sich die Staaten zu Konzessionen und zu einer Änderung ihrer Politik der Sozialdemokratie gegenüber veranlasst. Das sind allgemeine Erscheinungen, die für alle entwickelten kapitalistischen Länder gelten. Es kommen noch andere hinzu, so die gewaltige Konzentration des kapitalistischen Besitzes, die neben dem Proletariat auch andere soziale Schichten zur Auflehnung gegen das Großkapital treibt und die Regierungen selbst in Zweifel bringt. Sollen wir nun annehmen, dass diese Momente der politischen Zersetzung in Deutschland, das von ganz Europa in den letzten Jahrzehnten die stärkste kapitalistische Entwicklung durchgemacht hat, weniger wirken als anderswo? Das wäre ein Nonsens. Aber hier kommen sie weniger zum politischen Ausdruck, weil die starke und unabhängige Zentralregierung sie daran hindert. Darum müssen sie sich hier erst Bahn brechen im Kampf gegen die Regierung. Das gerade macht die Situation im Reich besonders kritisch. Bevor ich zur Betrachtung der Reichspolitik übergehe, möchte ich an dieser Stelle nur noch eins hervorheben: ebenso wenig wie die Zusammenschweißung der Bourgeoisie zu einer „einzigen reaktionären Masse“ und die Entwicklung einer starken Regierungsgewalt, kann der jetzige Zustand der politischen Zersetzung von ewiger Dauer sein. Zugleich mit den Massen, die von unten herauf drängen und unter der Führung des Proletariats darauf hinauskommen müssen, mit Hilfe der Staatsmacht sich die wirtschaftliche Macht zu erobern, arbeitet das Großkapital daran, mit Hilfe seiner wirtschaftlichen Machtmittel den Staat sich anzugliedern. Die Kämpfe des Imperialismus werden ausgekämpft werden, die handelspolitischen Auseinandersetzungen werden ihre Lösung finden, und aus den Kartellen, Großbanken und dem Staat wird eine Macht zusammengeschweißt werden, die dem Kapitalismus wieder Stabilität sichern wird, wenn nicht das Proletariat seinen Willen durchsetzt. II. Die Kämpfe im Reich Das neue deutsche Kaiserreich hat keine Tradition, wohl aber eine doppelte Autorität in die Waagschale zu werfen: die militärische Macht und den Erfolg. Beides wurde von der Bourgeoisie idealisiert., und die Ideen wurden personifiziert. Die Namen der Personen waren: Moltke und Bismarck. In diesem Zeichen und im Zeichen der Sozialdemokratie vollzog sich die politische Entwicklung Deutschlands seit 1860. Zwischen Bismarck und Sozialdemokratie erblühte der Nationalliberalismus. Er war groß in Zugeständnissen und seine Entwicklung bestand in seinem Zerfall, aber gerade dadurch erfüllte er seine geschichtliche Mission. Die Bourgeoisie musste Konflikte mit der Regierung vermeiden, da ihr die Aufgabe zufiel, die nationale Macht des neugebildeten Staats in Kapital zu verwandeln. Sie erreichte dieses Ziel vorzüglich, indem sie die Autorität des Staats nach außen zur Erweiterung ihrer Handelsbeziehungen, die nationale Regierung zum Ausbau der Großstädte, vor allem Berlins, ausnützte und sich auch direkt von Staatsaufträgen sowohl auf dem Kapitalmarkt wie auch auf dem industriellen Markt — man denke an die Eisenbahnen, die Geschütz- und Panzerplattenlieferungen — bereicherte. Darum suchte die Bourgeoisie sich an die Regierung anzuschmiegen. Die Feigheit der deutschen Bourgeoisie während der Märzrevolution war Klasseninstinkt, ihre Feigheit nach der Reichsgründung war Berechnung. Was sie früher nicht wagte, das wollte sie jetzt nicht wagen. Diese Taktik musste sie aber den Volksmassen entfremden, und so waren die Bedingungen ihres geschäftlichen Erfolges zugleich Bedingungen ihres politischen Niedergangs. Obwohl die Sozialdemokratie mitbestimmend war für die Entwicklung des Nationalliberalismus, wurde sie doch selbst von den gleichen politischen Verhältnissen mitbestimmt, die den Nationalliberalismus herausbildeten. Schwach entwickelt und politisch isoliert konnte die Sozialdemokratie auf keinen Fall eine Generalschlacht gegen die in der ganzen Frische der materiellen und ideellen Macht des neuen Staates stehende Reichsregierung wagen. Darum entsprach der Anschmiegepolitik der Bourgeoisie die Ausharrungs- und Ausweichtaktik der Sozialdemokratie. So entstand jene „Ermattungsstrategie“, die K. Kautsky jetzt glorifiziert, indem er aus der Not eine Tugend macht, der geschichtlichen Entwicklung die nachträgliche Erkenntnis, den Dingen die Personen, den Personen die Idee vorausschickt, und nachdem er den ideologischen Schattenwurf der Ereignisse von seiner Umgebung losgelöst hat, diesen in dem luftleeren Raum des abstrakten Denkens zu einer Theorie verallgemeinert, die dann allerdings ebenso abgeschlossen wie ausschließend erscheint und infolgedessen so konservativ erscheint, dass er selbst sich beeilt, sie für die Zukunft zu durchlöchern — indessen aber hat er sich durch diesen Sprung in die Vergangenheit und aus der Vergangenheit in das Jenseits der Tatsachen, aus dem Jenseits in die Zukunft über die Lücken der Gegenwart hinweggeholfen. Nationalliberalismus und Ermattungsstrategie gehören zusammen, sie sind das Produkt der gleichen Zeit und müssen weichen, wenn sich die Verhältnisse ändern. Die selben sozialen Kräfte, die den Regierungen in dem ganzen kapitalistischen Europa dem Proletariat gegenüber — und in der Militärsprache unseres bedeutendsten marxistischen Geschichtsschreibers sich auszudrücken — an Stelle der bisher beliebten Niederwerfungsstrategie die Beschwichtigungs-, Ermattungs- und Auskneifetaktik diktieren, müssen auch in Deutschland dem Liberalismus als kulturelle Richtung und politisches Ideensystem zum Durchbruch verhelfen. Nur sind hier viel größere Widerstände zu überwinden. Zunächst der Widerstand der Regierung, die als selbständige und unabhängige Macht auftritt. Daneben aber auch die politische Tradition des Nationalliberalismus und die allgemeine politische Tradition im Reich, die keine entscheidenden politischen Kämpfe kennt. Ich sage: allgemeine politische Tradition — denn auch das Zentrum verdankt ja in Deutschland seine Erfolge der „Ermattungsstrategie“. Begreift man erst, dass das kein sozialdemokratisches Spezifikum ist, so wird man auch den Zusammenhang dieser Taktik mit den Verhältnissen zu würdigen wissen. Wenn man die „Ermattungsstrategie“ ihres theoretischen Aufputzes entkleidet, so entpuppt sie sich als einfach das: man hat die Regierung nicht niederzwingen können, aber man hat sich von ihr auch nicht unterkriegen lassen. Dies ist nun aber in der Vorstellung der politischen Partei zu einer Regel geworden, weshalb der Kampf gegen die Tradition innerhalb der bürgerlichen Parteien zugleich zu einem Kampf der jüngeren Generation gegen die ältere wird. Schließlich fehlt dem entschiedenen Liberalismus in Deutschland der Erfolg, der der Vater jeder großen Handlung ist. Darum brauchte dieser Liberalismus erst die Anerkennung der Regierung, um sich mit größerer Energie gegen de Regierung zu wenden. So schwachgemut und farblos der Bülowsche Liberalismus war, befand er sich doch schon im Gegensatz zu dem herrschenden System. Bülow selbst versicherte es unzählige Male, dass seine Scheinkonzessionen immer die größte Mühe kosteten und die Kundgebungen der letzten Tage bestätigen das ja vollkommen. Aber der Liberalismus begann sich zu fühlen — das erklärt viel mehr als die Schicksale der Finanzreform, dessen energischeres Hervortreten nach dem Sturz Bülows. Wir haben solche Farcen eines Regierungsliberalismus in Russland vor der Revolution kennen gelernt, mit dem gleichen Erfolg der steigenden Gärung. Sie sind überhaupt kennzeichnend für jede vorrevolutionäre Periode. Während die Großstädte um den Liberalismus kämpfen, kämpft die eigentliche Bourgeoisie um die leitenden Staatsangestellten, die jetzt der preußische Adel hält. Der Kampf um die Verbürgerlichung des Staats wird dank der eigenartigen Stellung Preußens im Reich und dem Dreiklassenwahlrecht zu einem Kampf um das preußische Wahlrecht. Dieser wiederum erweitert sich zu einem Kampf gegen das Agrarkapital. Wir wollen uns nicht dabei aufhalten, wie der neue deutsche Zolltarif zustande kam; ich erinnere bloß daran, dass er die gewaltige Opposition im ganzen Reich aufgelöst hatte. Seitdem hat die Teuerung die Verhältnisse ungemein verschärft. Zu dieser — noch die handelspolitische Misere, die noch nie im Reich so groß war, wie jetzt. Wir sehen denn auch neben den Konsumenten immer schärfer die Industrie hervortreten in dem Kampf um günstigere Handelsverträge, die nur durch agrarpolitische Konzessionen zu erlangen sind. In der Landwirtschaft selbst tritt dabei, abgesehen schon von den brotkaufenden Massen, ein Gegensatz hervor zwischen den viehzüchtenden Bauern und den Gutsherren. Diese Gegensätze, die das Lebensinteresse der Massen und das grundlegende Konkurrenzinteresse der Industrie erfassen, müssen in den nächsten Jahren an Schärfe und Umfang noch gewinnen und können durch keine staatserhaltende Erwägungen überbrückt werden. Die Notwendigkeit einer Wendung in der Handelspolitik ist so evident, dass die Regierung selbst bis zu einem gewissen Grade es nicht ungern sieht, dass dem Agrariertum ein Gegengewicht geschaffen wird. Mit der Entwicklung einer Weltindustrie treten für das deutsche Reich die Weltzusammenhänge der kapitalistischen Produktionen in den Vordergrund. Das Reich fasste bis jetzt die Sache nur vom militärischen Gesichtspunkte auf und baute Kriegsflotten. Allein jede Weltherrschaft ist zugleich eine ideelle Herrschaft. Es war kein Zufall, dass Großbritannien mit den billigen Waren auch die Ideen des Parlamentarismus in der Welt verbreitete; und wie die Entwicklung der Kolonien ihm Demokratie einpaukte, zeigen die Beispiele Nordamerikas, Australiens und das jüngste Beispiel Südafrikas. Andererseits zeigt das Beispiel Russlands, das trotz seiner außerordentlich günstigen geographischen Lage aus Asien zurückgedrängt wird, wie politische Rückständigkeit wirkt. Will Deutschland die Welt beherrschen, so muss es sich an die Spitze der politischen Entwicklung der kapitalistischen Welt setzen. Mit der Weltindustrie verlässt auch die deutsche Bourgeoisie ihren nationalen Boden. Sie brauchte den Nationalismus, um die Industrie zu entwickeln — um ihr eine Weltherrschaft zu sichern, [jetzt] braucht sie den Liberalismus und zwar sowohl in den Handelsbeziehungen wie in der allgemeinen Politik. Ohne diesen wird sie weder jene materiellen noch jene ideellen Kräfte entwickeln können, die dazu im 20. Jahrhundert erforderlich sind. Die deutsche Weltpolitik hat aber bis jetzt sich nicht die Sympathien der Völker erobert, sie hat nur Feindschaft und Misstrauen erzeugt. So in China, in Japan und auch in der Türkei wo die deutsche Freundschaft die letzte Stütze des alten Regimes bildete. Man sucht in der deutschen Politik nur noch Eigennutz und Anmaßung. Das ließ man sich gefallen, so lange die politische Autorität des Reiches intakt blieb. Allein sie ist jetzt in der äußeren Politik stark verbraucht. Innerhalb weniger Jahre — seit dem russisch-japanischen Krieg — hat ein totaler Umschwung stattgefunden. Das Deutsche Reich ist aus seiner führenden Stellung in Europa herausgedrängt worden und hat einen harten Kampf zu bestehen, um sich politisch geltend zu machen. Es fällt ihm nichts mehr von selbst zu mit dem Recht des Mächtigeren — um den kleinsten Erfolg muss es ringen und das Größte wagen. Die Schwächung der politischen Autorität des Reichs nach außen ist ein weiteres Moment, das die Autorität der Regierung im Innern untergräbt. Von den zwei Komponenten ihrer Macht ist der Erfolg durch die veränderte Stellungnahme Europas ausgeschaltet worden, und die bewaffnete Macht, die untätig bleibt, macht sich nur durch ihre Kehrseite fühlbar — den militärischen Druck. Und so sehen wir denn jetzt, dass selbst die süddeutschen Regierungen, die nach der Gründung des Reichs nur noch als Platzhalter Preußens galten, sich dem preußischen Einfluss zu entziehen verstehen und zu einer mehr selbständigen Politik übergehen. Es wirken zentrifugale Kräfte im Reiche, die die Peripherie vom Zentrum loslösen. Die Situation ist jetzt umgekehrt als 1878, da Bismarck, gestützt auf die Macht und Autorität des Staats, die Arbeitermassen provozieren durfte. Ich lasse die Frage beiseite, ob die Regierungen noch im Stande wäre, die Arbeitermassen niederzukartätschen; Tatsache ist, dass sie durch eine solche Gewaltpolitik, durch den offenen Bürgerkrieg die letzten Spuren ihrer Machtstellung in Europa vernichten und das Reich in ein Chaos politischer Kämpfe auflösen würde. III. Der Meinungsstreit Die politische Gärung im Reich findet selbstverständlich in den Arbeitermassen die von vornherein in der schärfsten Opposition zu dem kapitalistischen Staat stehen, ihren stärksten Ausdruck. Die Arbeiter leiden ja auch am meisten unter den Einschränkungen der politischen Freiheit, vor allem des Koalitionsrechts unter der Verteilung der Machtverhältnisse im Reich, die dem Junkertum eine maßgebende Stellung sichern, unter der Machtlosigkeit des Parlaments, dann unter den Steuern, der Teuerung und jenen handelspolitischen Verhältnissen, die die Entwicklung der Industrie hemmen., Außerdem sehen die Arbeiter in den Kartellen und Großbanken eine gewaltige Macht erstehen, deren Druck sie wirtschaftlich und politisch immer mehr zu spüren bekommen. Die Erbitterung der Massen ist aber ein weiterer Faktor der politischen Zersetzung des Reichs. Versuchen wir nun, den Meinungsstreit innerhalb der Partei seinen objektiven Ursachen und Zusammenhängen zu erfassen, so konstatieren wir, dass die Diskussion schon lange nicht, vielleicht nie von solcher politischer Aktualität war wie diesmal. Die Idee des Massenstreiks ist in Deutschland erst 1896 als theoretische Verallgemeinerung und Übertragung der belgischen Erfahrung aufgetaucht. Sie war damals noch rein spekulativ. Der Kampf um das preußische Wahlrecht und die russische Revolution veranlassten die Partei [1905], sie durch Parteitagsbeschluss in die Praxis hinüberzuführen. Jetzt aber tritt uns der politische Massenstreik als nahe politische Möglichkeit entgegen. Das ist es, was dem Meinungsstreit seine Tragweite und seine Schärfe verleiht. Man versperrt sich selbst den Weg zur Lösung des Problems und zur geistigen Einigung der Partei, wenn man den Streit, wie dies schon gelegentlich seitens der „Neuen Zeit“ und des „Vorwärts“ geschah, auf die polemische Verbissenheit einer einzelnen Person zurückgeführt. Schon der äußere Verlauf der Diskussion schlägt dem ins Gesicht. Lange noch vor Luxemburg tauchte die Idee des Demonstrationsstreiks an verschiedenen Orten in der Partei auf, wurde in der Presse und in den Organisationen diskutiert — bezeichnenderweise ebenso von der radikalen wie von der sogenannten opportunistischen Richtung — dann kam R. Luxemburg mit ihren Artikeln und ihrer Agitationstour, und nun entfaltete sich das Ganze unter Beteiligung der gesamten Parteipresse zu einer Massenbewegung. Am allerwenigsten geziemt es dem wissenschaftlichen Organ der Partei, den aus der sehr komplizierten Situation sich ergebenden Ideenkampf in eine ebenso kleinliche wie persönliche gehässige Polemik hinauslaufen zu lassen; es untergräbt dadurch selbst das Vertrauen in die Objektivität und folglich Wissenschaftlichkeit seines Urteils. Die Frage des Massenstreiks ist durch die politische Entwicklung auf die Tagesordnung gebracht worden, und es ist für den Streik eine starke Stimmung in den Arbeitermassen vorhanden. Damit soll aber noch keineswegs gesagt werden, dass wir dieser Stimmung blindlings zu folgen haben. Die Stimmung der Massen ist nur ein politischer Faktor, den wir mit in Erwägung zu ziehen haben — neben anderen. Man gelangt zu verschiedenen taktischen Resultaten, je nachdem man zur Ausgangspunkt seiner Betrachtungen nimmt: entweder die revolutionäre Stimmung der Massen, oder die politische Situation oder die parlamentarische Konstellation. Jeder dieser Gesichtspunkte ist einseitig; jede dieser Einseitigkeiten fand Wortführer, die die taktischen Schlussfolgerungen ihres Gesichtspunktes zogen; und der Gegensatz dieser Einseitigkeiten zu einander bildet den Inhalt der Diskussion. Es gilt aber, ihre Relativität zu erkennen, vom Gesichtspunkte der sozialrevolutionären Entwicklung sie gegeneinander abzuwägen und zu einer höheren Einheit zusammen zu fassen. Die Taktik der Sozialdemokratie im 20. Jahrhundert ist nicht mehr ein einfaches Klassenschema, sondern eine komplizierte Bildung. Die Stimmung der Massen nimmt R. Luxemburg zu ihrem Ausgangspunkt. Sie macht der Parteileitung den Vorwurf, dass diese die erbitterte Stimmung der Massen nicht zu einem Demonstrationsstreik ausgenützt habe. Allein die Stimmung der revolutionären Arbeitermassen war nicht erst im Februar und März 1910 kampfesfreudig. Wollten wir nur auf diese achten, so hätten wir oft genug Gelegenheit zum politischen Streik. Geschehen ist aber bis jetzt nichts. Haben wir also nichts anderes zu sagen, so hat die Partei nicht bloß dieses Mal gesündigt, sondern viele Male schon. Gibt es nun einen Unterschied zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit, oder gibt es keinen? Die Stimmung der Massen zeigte sich in der großen Demonstrationsbewegung. Haben wir aber nur deshalb den Erfolg gehabt, weil wir uns endlich entschlossen haben zu demonstrieren? Ich behaupte: geschweige schon vor zehn oder fünfzehn, noch mehr vor wenigen Jahren hätten unsere Demonstrationen bei weitem nicht jenen Umfang annehmen können wie diesmal. Unter dem Jubel der Bourgeoisie würde man uns beim ersten Anlauf schon durch das Militär auseinander jagen. Die Bourgeoisie hat gewiss auch jetzt eine große Angst vor den Arbeiterdemonstrationen, aber eine noch größere vor einem offenen Zusammenstoß zwischen den Massen und der Staatsgewalt, und in der letzten Zeit unter Bülow suchte auch die Regierung diesem auszuweichen. Wenn auch zwischen Furcht und Hoffnungen schwebend, steht die große Öffentlichkeit den Wahlrechtsdemonstrationen wohlwollend gegenüber; bis zu einem gewissen Grade haben wir sie durch die Tat selbst an diese gewöhnt. Unzweifelhaft erfasst das Interesse für das preußische Wahlrecht soziale Schichten, die bis dahin passiv blieben. Das ergibt sich aus der politischen Situation. Und die politische Situation erzeugt auch den revolutionären Drang der Massen. Darum: die Massendemonstrationen sind mitbestimmend für die politische Situation, und doch verdanken wir ihren Erfolg zu einem bedeutenden Teil der politischen Situation. Weil aber R. Luxemburg den Zusammenhang zwischen der politischen Situation und der Massenstimmung außer acht lässt, erscheint ihr diese als Zufall, und sie mahnt uns, das Glück zu erfassen, solange es uns nicht entschlüpft ist. Deshalb die Zuspitzung des Problems: jetzt oder niemals! Äußerlich revolutionär, offenbart diese Denkweise in Grunde ein geringes Vertrauen in die revolutionäre Entwicklung und kann leicht in ihr Gegenteil ausschlagen — wofür Präzedenzfälle genug vorliegen. Ist die Stimmung der Massen so, dass sie von heute auf morgen sich verflüchtigen kann, dann dürfen wir den Kampf unter keinen Umständen wagen; ist sie aber wirklich revolutionär, dann ergibt sie sich aus der politischen Entwicklung und kann nur steigen, bis die politische Lösung der schwebenden Probleme gefunden ist. Tatsächlich zeigt eine Analyse der politischen Entwicklung, dass die Arbeitermassen in eine immer schärfere Kampfesstellung gebracht werden. Sollte uns zum politischen Massenstreik nichts anderes fehlen als die revolutionäre Energie der Massen — die revolutionäre Energie der Massen kann unter diesen Umständen nicht ausbleiben. Die parlamentarische Konstellation konnte, bei den politischen Verhältnissen des Reichs, nur in Süddeutschland tonangebend für die Taktik der Partei werden. Süddeutschland befand sich stets in einer Opposition zu Preußen. Jetzt wird es auch in seiner industriellen Entwicklung — sowohl durch neue Beziehungen des Weltmarkts wie durch neue technische Bedingungen — auf eigene Wege zugeführt. Diese Momente und das Sinken der Autorität des Reiches entfachten aufs neue das Selbständigkeitsgefühl der süddeutschen Regierungen, die deshalb auf der andern Seite nach Popularität streben und ein vertragliches Verhältnis mit der Sozialdemokratie herbeischaffen möchten. Gewiss muss auch unsererseits diesen Umständen Rechnung getragen werden. Das wird uns noch dadurch erleichtert, dass durch die Reichsverfassung die politischen Funktionen der süddeutschen Staaten stark eingeschränkt worden sind, so dass sie als Vasallenstaaten, als Provinzverwaltungen mit einer eigenen Regierungsmaschinerie jetzt dastehen. Unsere Parteivertretungen im Süden haben es denn auch bereits verstanden, durch ihre Tätigkeit sich eine freiere Entwicklung zu verschaffen; es muss anerkannt werden, dass sie damit sowie durch die Schwächung des preußischen Einflusses nützliche Arbeit für die Gesamtentwicklung der Partei leisten. Doch einleuchtend ist zunächst, dass die Unterstützung der süddeutschen Opposition nicht in eine Förderung des Separatismus ausarten darf, denn die Tendenz der politischen Entwicklung Deutschlands und damit der Sozialdemokratie liegt nicht in der Aufrechterhaltung, vielmehr in der Beseitigung der politischen Überbleibsel der Kleinstaaterei: Es zeigt sich aber in Süddeutschland das Bestreben, sich vor der übrigen Partei politisch einzukapseln, die Partei in einen föderalistischen Verband zu verwandeln, und das angesichts der Tatsache, dass die Herrschaft Preußens noch keineswegs gebrochen ist. Man beginnt, sich immer mehr als badische, bayerische, schwäbische, hessische Partei zu fühlen. Man glaubt, weil man im eigenen Landtage eine günstigere parlamentarische Konstellation hat, eigene Wege gehen zu können. Man kann aber vom Gesichtspunkte des badischen oder bayerischen Landtags weder die Taktik der Gesamtpartei noch selbst ihre Taktik in Baden oder Bayern bestimmen. Sollen wir denn jetzt noch wieder den Nachweis führen, dass selbst die vollkommenste Demokratie uns nur ein Mittel zum Zweck sein kann? Das Beispiel der naheliegenden Schweiz zeigt, wie wenig man durch Demokratie allein gegen den Kapitalismus aufkommt. Und dieselbe Schweiz zeigt uns, dass man zur Entwicklung des proletarischen Klassenkampfs vor allem des Großstaats bedarf. Das deutsche Reich ist aber vor allem bereits ein wirtschaftlich und politisch geeintes Land — darum sind in ihm die großen politischen Interessen maßgebend auch für seine einzelnen Teile. Die Tätigkeit der süddeutschen Landtage samt und sonders wird durch die Bedeutung der Fragen der Teuerung, der handelspolitischen Verhältnisse, des Militarismus und des Imperialismus auch für Süddeutschland weit in den Schatten gestellt. Und die ganze süddeutsche Demokratie steht auf schwachen Füßen, so lange die Herrschaft Preußens verbleibt — nicht viel anders wie die Demokratie Finnlands neben dem russischen Zarismus. Preußen steht aber nicht müßig da, es benutzt seine politische und seine wirtschaftliche Macht, um durch Verbindung mit dem kartellierten Kapital, mit der Großfinanz, durch Staatsmonopole seine Machtstellung zu erweitern. Darum liegt die Entscheidung über die Taktik auch für Süddeutschland in diesem Moment in Preußen. Der Kampf, den die deutsche Sozialdemokratie um das preußische Wahlrecht führt, muss mitbestimmend sein für das Verhalten der Partei im ganzen Reich. Dieser Kampf erfordert aber eine Massenaktion des Proletariats, ein geschlossenes Auftreten der Sozialdemokratie. Nicht auf die parlamentarische Konstellation in den Landtagen, nicht auf wohlwollende Ministerreden, auf fürstliche Leutseligkeit, auf die politische Rückständigkeit indifferenter Massen — auf die Erfordernisse des großen proletarischen Massenkampfes, den die Partei in Preußen führt, muss in erster Linie Rücksicht genommen werden. Zieht man das in Betracht, so wird man es unbegreiflich finden, wie man in Baden zu einer demonstrativen Abstimmung hat kommen können, die die Einheitlichkeit der Aktion der Partei stört. Ich lasse die theoretischen Bedenken beiseite; es bleibt noch immer der schwere politische Vorwurf gegen die Badenser, dass sie eine badische Separattaktik schaffen wollen in einem Augenblick, da die Partei mehr denn je ihre Geschlossenheit braucht. Darum verstößt auch der Antrag aus Bayern und aus Hessen, die Nürnberger Resolution einer Revision zu unterwerfen, gegen die primitivsten Anforderungen einer praktischen Parteipolitik. Dass der Antrag auf diesem Parteitag keine Mehrheit finden kann, dürfte doch den Antragstellern selbst klar sein. Welchen anderen Erfolg kann er dann haben, als Uneinigkeit in die Partei zu bringen? Und das jetzt, da uns die Einigkeit am meisten Not tut und angesichts der Zerwürfnisse innerhalb der staatserhaltenden Elemente unsere Autorität hochhält und uns unmittelbaren politischen Nutzen bringt! Wie bei der Stimmung der Massen, so fürchtet man auch bei der parlamentarischen Konstellation, diese könnte uns entschlüpfen. Denn hier wie dort ignoriert man die geschichtlichen Zusammenhänge der politischen Situation, berücksichtigt nur die Statik, nicht die Dynamik, nicht den Zustand, nicht die Entwicklung, kennt nur den äußeren politischen Ausdruck des Vorhandenen, nicht die bewegenden Kräfte des Werdenden. Wir haben keine Veranlassung, unsere Zustimmung den süddeutschen Landtagen auf dem Präsentierteller entgegen zu bringen. Unsere Erfolge in Süddeutschland sind das Ergebnis der gesamten Machtstellung der Partei. Braucht man uns jetzt schon im Süden, so wird man uns demnächst hier wie im Reich erst recht brauchen. Andererseits ohne innigen Zusammenhang mit der Gesamtpartei würden unsere süddeutschen Vertretungen auch in ihren eigenen Ländern an Einfluss bald einbüßen, sie würden dann dem Schicksal der Süddeutschen Volkspartei verfallen. Und haben wir erst eine erfolgreiche Massenaktion in Preußen hinter uns, dann wird unser Einfluss in Süddeutschland sicher mehr steigen, als man es durch parlamentarische Konzessionen je erreichen könnte. IV. Alte und neue Taktik Hält man sich von dem Drum und Dran der Polemik das Auge frei, so besteht R. Luxemburg darauf, dass die Partei den revolutionären Augenblick verpasst habe, während K. Kautsky mit Recht darauf verweist, dass die gesamte politische Situation revolutionär sei und fürs nächste verbleiben werde. Allein, wenn auch die Zuspitzung der Taktik auf den Moment charakteristisch ist für die politische Richtung, die R. Luxemburg vertritt, so bildet sie doch nicht ihren wesentlichen Inhalt. Wenn uns R. Luxemburg sagt, wir hätten streiken sollen, so will sie damit offenbar sagen: wir werden demnächst energischer vorgehen und bei der Gelegenheit, die sich uns bieten wird, streiken müssen. Und auch K. Kautsky sagt, es könne demnächst Umstände eintreten, die uns den Massenstreik aufnötigen und zweckmäßigen erscheinen lassen werden. Ist man nun im Grunde einig? Nein, durchaus nicht; man hat nur die Streitfrage auf der einen Seite viel zu scharf zugespitzt, auf der anderen abgestumpft, um — in diesem Fall nicht ohne gewissen Erfolg — die „Ermattungsstrategie“ anzuwenden. K. Kautsky beruft sich auf die revolutionäre Situation nur, um ein nicht revolutionäres Vorgehen zu rechtfertigen, unsere Taktik leitet er nicht von dieser ab — sie soll erst später eine Änderung der Taktik erforderlich machen — er leitet sie von unserer alten Taktik ab. Er kennt überhaupt keine neue Taktik, sondern nur die alte — altbewährte. Die Kämpfe der Gegenwart sind ihm nur die direkte Fortsetzung der Kämpfe der Vergangenheit. Aber dieser Zusammenhang ist viel zu allgemein, er lässt deshalb gerade das Verschwinden, was für die Taktik maßgebend sein muss — die besonderen Verhältnisse der Gegenwart. Aus allen Betrachtungen Kautskys über die politische Situation, über die Vergangenheit und Zukunft bleibt uns denn auch als Direktive für die Gegenwart doch nur — die „Ermattungsstrategie“, die, nach Kautsky, die Quintessenz unserer alten Taktik darstellt. Der Gesichtspunkt der politischen Situation, getrennt von anderen, führt nur zum politischen Fatalismus, zu einer Taktik des Gehenlassens. Es gilt aber vor allem, an der politischen Situation die revolutionäre Energie der Massen, die parlamentarische Konstellation und die alten taktischen Regeln zu überprüfen. Ändert sich die politische Situation, so muss auch die Taktik geändert werden. Wie sich das aber Kautsky denkt, dass wir in der Ermattungsstrategie fortfahren und dann auf einmal die Massen in die Entscheidungsschlacht führen, ist es die reinste Verschwörerromantik. So lassen sich heutzutage nicht einmal Armeen kommandieren; der proletarische Klassenkampf ist aber gegenwärtig eine gewaltige politische und kulturelle Bewegung, bei der die Initiative der „Unterführer“ und das Bewusstsein der einzelnen eine große Rolle spielen. Die Änderung der politischen Situation geschieht auch niemals mit einem Schlage, sie ist vielmehr das Produkt einer Entwicklung, die erst allmählich, mit vielen Schwankungen und Abweichungen, zu einer entscheidenden Wendung gelangt; auf dem ganzen Wege dieser Entwicklung zwingen die neuen Verhältnisse zu taktischen Abweichungen, denen die politische Tradition im Wege steht, bis schließlich mit dieser gebrochen wird. So ist auch innerhalb der deutschen Sozialdemokratie die Praxis, der politischen Entwicklung folgend, längst über die alte Taktik hinausgewachsen, wir stehen nicht vor einem Bruch mit der alten Taktik, sondern vor einem Bruch mit der Tradition, die der revolutionärer Zusammenfassung der neuen Praxis zu taktischen Regeln im Wege steht. Um aber die vollzogenen Änderungen in der Betätigung der Partei zu begreifen, muss man erst die alte Taktik vom richtigen Gesichtspunkte ins Auge fassen. K. Kautsky wird vor allem der alten Taktik der Partei nicht gerecht. Er stutzt sie einseitig nach seinem augenblicklichen Bedarf zu, wie der Schuster, der das Stück Leder zuschneidet, bevor er es auf den Leisten bringt; und Kautsky schlägt mit Gewalt die gesamte Entwicklung der Partei seit dem Sozialistengesetz über einen Leisten. Als die Partei sich überzeugt hatte, dass sie der Regierung keine Generalschlacht liefern konnte, verlegte sie sich mit aller Energie darauf, die vorhandenen Möglichkeiten der Organisation auszunützen, um eine Macht zu bilden, die sie in den Stand setzen würde, einst den entscheidenden Kampf zu wagen. Das war die alte Taktik. Keinen Augenblick dachte man daran, dass die Regierung je „ermatten“ würde, dass man durch die Fortentwicklung der Partei allein politische Erfolge erreichen könnte. Man erwartete große Kämpfe und rüstete zu diesen — das war alles. Die alte Taktik setzte sich aus zwei Teilen zusammen: 1. Der entscheidende Kampf in der Zukunft, 2. Die Sammlungsarbeit in der Gegenwart. Der entscheidende Kampf verschmolz sich ideologisch in der Vorstellung mit dem Kampf um das Endziel, mit der sozialen Revolution. Das Proletariat — argumentierte man — stehe allein, der Widerstand des Staats, der seine Armee gegen die Arbeiter ins Feld führen will, sei so groß, dass die größte Energie des Proletariats dazu gehöre, ihn zu überwinden; dann aber handle es sich offenbar um die Existenz der kapitalistischen Gesellschaft. Man kannte also nur einen Kampf — den letzten; vorher — die Agitation. Ich erinnere daran, dass noch auf dem Parteitag in Halle als der eigentliche Inhalt der parlamentarischen Tätigkeit die Agitation hingestellt wurde. Man war also weit von der Idee entfernt, durch eine „Ermattungsstrategie“ dem Staat Konzessionen abringen zu können; es war vielmehr der alten Taktik eine allgemeine Unterschätzung sowohl der Gegenwartserfolge wie der Gegenwartskämpfe eigen. Die alte Taktik hatte ihre großen Vorteile. Sie war einfach und klar und führte zur revolutionären Einigung der Massen. Aber sie war argwöhnisch gegen alles, was nicht direkt Endziel oder Partei war. Schon in den letzten Jahren unter dem Sozialistengesetz erwies sie sich als viel zu eng für die Tätigkeit des Proletariats. Sie war das Produkt der wirtschaftlichen Stagnation und der politischen Reaktion, die den Arbeitern tatsächlich für einige Jahre alle Wege versperrten. Schon der wirtschaftliche Aufschwung der achtziger Jahre brachte eine erfolgreiche Streikbewegung mit sich und mit den Streiks kamen die Gewerkschaften auf. Aber diese Entwicklung fand bereits keinen Platz innerhalb der alten Regel, darum mussten die Gewerkschaften erst die politische Tradition der Partei überwinden. Man glaubte nicht an den Erfolg der Gewerkschaften, weil man von der kapitalistischen Gegenwart überhaupt kaum etwas erwartete; man sah dagegen in den Gewerkschaften, zumal als sie zur Zentralisation übergingen, eine mit der Partei konkurrierende Organisation. Dies die Meinungskämpfe der 90er Jahre. Die „Neue Zeit“ hat damals sehr geschickt ihr Schiffchen für Szylla und Charybdis gelenkt; sie unterstützte die Gewerkschaften, und doch fanden die Gewerkschaften darin nicht viel, worauf sie sich stützen konnten. Die Gewerkschaften gelangten vielmehr dahin, dass sie, um ihre Gegenwartskämpfe zur rechtfertigen, die Bedeutung der „positiven Arbeit“ in der Gegenwart überschätzten. Die Entwicklung der Gewerkschaften hat der Exklusivität der alten Taktik einen Stoß versetzt, von dem sie sich nicht mehr hat erholen können. Wirtschaftlich kämpft das Proletariat ganz eminente Gegenwartskämpfe, wobei je nach den Umständen die Offensive mit der Defensive abwechselt, es hat beachtenswerte Erfolge erzielt und ist zu einer bedeutenderen Macht geworden. Diese Gegenwartsarbeit hat nicht zur Abstumpfung der Massen geführt, sie hat vielmehr ihr Selbstgefühl gehoben und muss sie, indem sie ihre Gegenwartsforderungen steigert, dazu bringen, die Änderung der Produktionsweise selbst als Gegenwartskampf zu erfassen. Die Entwicklung einer Idee kann der geschichtlichen Entwicklung vorauseilen, aber die Geschichte operiert nicht mit Begriffen, sondern mit materiellen Kräften, darum muss sie sich von der Voraussetzung bis zur Schlussfolgerung durch die Gegenwart durchkämpfen. Auch die Genossenschaften haben gegen die Parteitradition kämpfen müssen. Die Resolution des Berliner Parteitages 1892, die durchaus die Anerkennung der „Neuen Zeit“ fand, ist ein anderer Beweis dafür, wie das, was ich an anderer Stelle den „Revolutionismus der letzten Tage“ genannt habe, die Aussichten für die Möglichkeit versperrte. Das wissenschaftliche Organ der Partei hat eine gewaltige Arbeit der Propaganda der Ideen des Marxismus geleistet, aber politische Initiative hat es äußerst selten entwickelt. K. Kautsky selbst überhaupt niemals — resolut war er nur in Zurückweisungen, wenn es galt, die Abweichung von einer übernommenen Regel festzustellen. Im Zusammenhang mit der Vorstellung von dem letzten und einzigen der eigentlichen Kämpfe und den gleichen Verhältnissen entspringend wie diese, lebte in der Partei auch noch lange Jahre nach dem Fall des Sozialistengesetzes ein Gefühl der Unsicherheit. Das war sogar hinderlich für den inneren Ausbau der Partei. Ich erinnere nur an die Bewegung zur Errichtung eigener Zeitungsdruckereien, in der die großartige Entwicklung der Parteipresse ihre materielle Grundlage fand. Diese ganze Entwicklung wurde der Initiative einzelner Personen und Organisationen überlassen und vollzog sich zum Teil direkt in Auflehnung gegen die Meinung der Parteileitung. Man lebte für den Tag und fürchtete den nächsten Tag. Das nennt Kautsky „Ermattungsstrategie“! In dem Kampf um das preußische Wahlrecht dieselben hemmenden Kräfte. Erst ist man dem Kampf überhaupt ausgewichen. Was sollte man sich noch um Preußen kümmern, da man im Reich auf die große Entscheidung hinarbeitete? Der preußische Staat fühlte sich durch diese Taktik nicht „ermattet“. Man musste zum Angriff übergehen. Das erste war darum die Beteiligung an den Wahlen. Da kam aber, gedeckt von dem Mantel des großen revolutionären Entschlusses, die große Unschlüssigkeit wieder auf. Man glaubte nicht an die Möglichkeiten des Erfolges und fürchtete die Ablenkung von dem großen Ziel und von dem großen letzten Kampf. Was Wunder, dass wir jetzt, da wir vor einer Entfaltung unserer Offensive in Preußen stehen, wiederum auf die Tradition der alten Taktik stoßen! Sie tritt aber jetzt lange nicht so abgeklärt und selbstbewusst auf wie früher; sie ist nur noch Stimmung, die die Entscheidung möglichst hinausschieben möchte. Die alte Taktik beruht auf der Defensive; die neue Taktik betont den Übergang zur Offensive. Die alte Taktik kannte nur die Agitation und die Organisation der Massen; die neue Taktik geht darauf hinaus, die angesammelte Energie der Massen zu betätigen. Die Partei wird dazu zunächst durch ihre eigene Entwicklung, ihr Wachstum, die Erfolge der gewerkschaftlichen Kämpfe, das steigende Machtbewusstsein und die Kampfesstimmung der Massen gedrängt; es kommen ihr aber dabei die politische Situation und die parlamentarische Konstellation zugute. Die Massenaktion hat aber auch noch ihre eigenen Quellen. Die Massen treten überhaupt im 20. Jahrhundert in einer Weise hervor wie noch niemals. Wo haben wir je daran denken können, dass die Konsumenten sich zu Massenaktionen werden zusammenfassen lassen? Wir haben aber jetzt selbst ein organisiertes Auftreten der Mieter gesehen. Und doch befindet sich all das noch in seinen ersten Anfängen. Die Generationen, die in der Großstadt unter dem Parlamentarismus, in politischer Freiheit aufgewachsen sind, Massen, die eng beisammen wohnen, die alten Wirtschaftsformen nicht mehr kennen und ihrem engen Gesichtskreis entwachsen sind, die den Kapitalismus von Kindesbeinen auf kennen gelernt haben, sie entwickeln eben die ihnen eigene politische Initiative. So gelangen wir aus dem Parlamentarismus, der auf der politischen Vertretung beruht, in eine Zeit der direkten Massenaktionen. Unter den Arbeitermassen muss sich aber dieser Drang mehr geltend machen als in allen anderen sozialen Schichten. Diese Stimmung kam auch bei der jetzigen Diskussion zum Ausdruck. Es ist, neben anderen, ein großes Verdienst der Genossin R. Luxemburg, durch ihr energisches Auftreten die vorwärts drängenden Kräfte enthüllt zu haben. Man braucht auch kein Prophet zu sein, um vorauszusagen, dass die Entscheidung des Parteitages in der Richtung einer stärkeren Offensive und direkten Betätigung der Massen liegen wird. Wohl aber muss man sich in Acht nehmen, die Offensive als den einen entscheidenden Angriff, die Massenkämpfe als die eine, entscheidende Massenaktion aufzufassen. Wir werden wiederholt vordringen müssen, und es wäre töricht, nicht damit zu rechnen, dass wir auch gelegentlich zurückgeschlagen werden. Was speziell den Demonstrationsstreik anbetrifft, so kann ich mich für ihn nicht erwärmen, er erscheint als Kompromissgedanke: für eine Demonstration stellt er zu viel auf die Karte, für einen Massenkampf entwickelt er zu wenig Kraft. Ich habe aber auch nicht den Eindruck, dass die rein politischen Demonstrationen in Deutschland bereits verbraucht sind. Das höchste bleibt hier vielleicht noch zu leisten, nur darf man sich durch keine Drohungen, durch nichts abschrecken lassen — ebenso wie man sich in Belgien, Italien, Österreich oder Russland durch nichts hat abschrecken lassen. Die Demonstrationen sind auf der Tagesordnung; nicht bloß beim preußischen Wahlrecht, auch bei anderen Angelegenheiten, so vor allem im Kampf gegen die Teuerung, müssen sie an Anwendung gebracht werden. Die Regierung pocht auf die bewaffnete Macht. Allein auch in der Armee wirkt neben der Disziplin die Tradition. Die Armee ist gewohnt zu gehorchen. Die Regierung ist mehr als wir daran interessiert, diese Macht der Tradition bis zu einem entscheidenden Kampf aufrecht zu erhalten. Führt sie die Armee gegen das Volk, so wird sie damit ihre Machtstellung nach außen erschüttern, die Erbitterung in den Massen steigern, die Disziplin lockern, den Zwang gegen das Volk in einen verhassten Zwang über die Armee verwandeln und dadurch schließlich ihre eigene Autorität untergraben. Sie wird dadurch unsere späteren Kämpfe nicht erschweren, sondern erleichtern. Und es ist nun einmal so, dass wir unseren Weg zum Sieg nicht abseits von der Armee einschlagen können. Wir können nur die Taktik bestimmen, nicht den Kampf. Dieser selbst wird in seiner ganzen Tragweite von den Verhältnissen bestimmt. Die Verhältnisse können sich zuspitzen auf dem Gebiete der wirtschaftlichen Kämpfe, auf jenem der Handelspolitik, der inneren politischen Entwicklung oder auch der äußeren Politik. In diesem Augenblick liegt der kritische Punkt im Orient. Hier können Ereignisse eintreten, die eine Wendung in der politischen Geschichte Europas nach sich ziehen würden. Nur wenn wir energisch in der Gegenwart kämpfen, würden wir imstande sein, den großen Kampf der Zukunft mit der größten Energie durchzuführen. |