Franz Mehring 19060718 Nichts gelernt und nichts vergessen!

Franz Mehring: Nichts gelernt und nichts vergessen!

18. Juli 1906

[Die Neue Zeit, 24. Jg. 1905/06, Zweiter Band, S. 545-548. Nach Gesammelte Schriften, Band 8, S. 96-100]

In etwa einem Vierteljahr kehrt der Tag von Jena zum hundertsten Male wieder. Während die bürgerliche Presse, die früher nicht oft genug die „Schmach von Jena" den Junkern unter die Nase reiben konnte, sich noch sehr still verhält, sind die Junker eifriger auf dem Plane, um allen unangenehmen Erinnerungen vorzubauen. Statt sich in Würde zu fassen und etwa zu sagen: Ja, es war ein furchtbarer Sturz, aber wir haben als demütige Christenmenschen daraus gelernt, des schönen Bibelwortes gedenk: Wen Gott lieb hat, den züchtigt er, sind sie vielmehr auf den pfiffigen Gedanken verfallen, zu sagen: Die Geschichte war gar nicht so schlimm, eigentlich war alles in bester Ordnung, bloß die verdammte Aufklärung und Humanität, die von der bürgerlichen Kanaille aufgebracht worden war, hatte die Edelsten und Besten ein wenig angesteckt, und hauptsächlich aus diesem Grunde ging die Sache schief.

Eine wahre Perle dieser junkerlichen Literatur ist ein dickes Buch, das Freiherr v. d. Goltz, General der Infanterie, unter dem Titel „Von Roßbach bis Jena und Auerstedt" kürzlich hat erscheinen lassen. Es ist insofern nicht ganz neu, als derselbe Verfasser, der damals Major im Generalstab war, schon vor dreiundzwanzig Jahren eine Studie über Roßbach und Jena veröffentlicht hat, die gelegentlich auch in unseren Spalten erwähnt worden ist. In dieser Studie suchte Herr v. d. Goltz nachzuweisen, dass alle preußischen Reformen, die nach Jena ins Werk gesetzt wurden, schon vor Jena in vollem Gange gewesen seien und nur durch den Einbruch des Feindes unterbrochen worden wären; er milderte die scheußlichen Misshandlungen, die in dem friderizianischen Heere gang und gäbe waren, auf „Fuchtelhiebe" herab, „die gelegentlich auf den Rücken eines trägen Rekruten fielen", und begründete die militärischen und sonstigen Vorrechte des ostelbischen Adels damit, dass dieser Adel „zu jener Zeit den gebildeten Teil der Nation fast ausschließlich repräsentiert" habe, und dieser Bildung sei mit Recht ein vorzüglicher Wert beigelegt worden, „weil sie die Grundlage für veredelte moralische Eigenschaften ist". Das war damals selbst für die preußische Militärliteratur etwas zu starker Tabak, und ihre Kritiker ersuchten Herrn v. d. Goltz, mit aller einem königlich-preußischen Major gebührenden Ehrerbietung, aber doch mit hinreichender Deutlichkeit, nicht solch tolles Zeug in den Tag hinein zu schreiben.

Geholfen hat diese Kritik indessen nicht viel. Herr v. d. Goltz hat inzwischen die türkische Armee reorganisiert und ist jetzt kommandierender General in Königsberg, der Stadt Kants, wo er die verheerenden Wirkungen der Aufklärung und Humanität auf das eherne Gefüge des friderizianischen Heeres ja auch an erster Quelle studieren kann. In seiner neuen Schrift, einer erweiterten Auflage der früheren, hat er zwar die allergröbsten Herausforderungen an den gesunden Menschenverstand und die historische Wahrheit gestrichen, aber im Wesentlichen ist sie noch immer auf einen Ton gestimmt, der darauf hinausläuft, dass wir eigentlich nichts Klügeres tun könnten, als die Kant und Lessing, die Goethe und Schiller aus der Ruhmeshalle der deutschen Nation zu entfernen und dafür die Helden von Jena hineinzustellen. Herr v. d. Goltz beklagt „die Einwirkung des in seichter Aufklärung, falscher Humanität, Genuss- und Selbstsucht entarteten Zeitgeistes auf das Heer, das des Kriegsfeuers entbehrte und friedensselig geworden war", aber er findet, es sei mitten in einer Reform gewesen, deren erster größerer Teil bereits vollbracht gewesen sei, als Jena kam. „Vielleicht hat ihn Napoleon allein richtig erkannt und daher Preußen vorzeitig in die Entscheidung getrieben." Die geistvolle Originalität dieser Auffassung kann entschieden nicht überboten werden; welch ein Scheusal, dieser Korse, der den braven Friedrich Wilhelm und seine braven Junker heimtückisch überfiel, um ihre großartigen Reformen zu vereiteln!

Eine Hauptursache der Niederlage von Jena sieht Herr v. d. Goltz darin, dass die preußischen Junker vor Jena den entarteten Bürgern hätten den Vortritt lassen müssen. Ganz so schlimm wie in Sachsen sei es freilich nicht gewesen, aber auch in Preußen „hatte der Offizier bei einem Konflikt mit dem Bürger oder einer Zivilbehörde gegründete Aussicht, unter allen Umständen schlecht wegzukommen". Das schlägt nun zwar aller historischen Wahrheit ins Gesicht, denn nichts ist so tausendfältig bezeugt, selbst durch königliche Kabinettsorder, als die nichtswürdigen Plackereien, mit denen die bürgerliche Bevölkerung von dem Junkerpack kujoniert wurde. Deshalb ging auch nach Jena ein frohes Aufjauchzen durchs ganze Land, was Herr v. d. Goltz nicht bestreiten kann, aber natürlich als schamlose Frucht der Aufklärung und Humanität registriert. Wie nun beweist Herr v. d. Goltz seine grundstürzende Behauptung? Er hat nur einen Zeugen, aber dafür einen Löwen, nämlich Scharnhorst, den „niemand aristokratisch-militärischer Vorurteile zeihen wird". Scharnhorst soll nämlich „dazumal", das heißt im Preußen vor 1806, geschrieben haben, was Herr v. d. Goltz mit gesperrten Lettern also verkündet:

Wenn ein Offizier mit dem Bürger Streit bekommt und nicht gleich nachgibt, wenn er gegen die Zivilobrigkeit einen kleinen Fehler macht, wenn er einmal mit den Studenten sich schlägt, mit einem Worte, wenn er einmal von der angeborenen und ihm als Soldaten eigenen Heftigkeit des Temperaments sich etwas merken lässt, so wird er weit stärker als der Bürger bei gleichen Vergehen bestraft."

Dazu bemerkt Herr v. d. Goltz in einer Fußnote: „Kriegsarchiv D I, 117." Das sieht ungeheuer gelehrt aus, wirft das glänzendste Licht auf die „archivalischen Studien" dieses kommandierenden Generals und schlägt somit alle Zweifel nieder.

Nun liegt von vornherein auf der Hand, dass hier irgendein Hokuspokus getrieben wird. Man braucht noch nicht allzu tiefe Kenntnisse der preußischen Geschichte zu haben, um zu wissen, dass Scharnhorst und seine Freunde nach der Schlacht bei Jena sich in erster Reihe angelegen sein ließen, die Rüpeleien des Offizierskorps gegen die bürgerliche Bevölkerung auszurotten, worin sie mit Recht eine Hauptursache der Niederlage sahen. Und wenn man ein wenig genauer mit der preußischen Geschichte vertraut ist, so löst sich der ganze Hokuspokus alsbald in blauen Dunst auf. Dann verschwindet das „Kriegsarchiv D", und an seiner Stelle erscheint das „Neue Militärische Journal"; dann verschwindet das Jahr 1806, und an seiner Stelle erscheint das Jahr 1797; dann verschwindet der preußische Offizier Scharnhorst, und an seiner Stelle erscheint der hannoversche Offizier Scharnhorst.

Nämlich als hannoverscher Offizier, ehe er die preußischen Junker kannte, veröffentlichte Scharnhorst im Jahre 1797 einen Aufsatz unter dem Titel: „Entwicklung der allgemeinen Ursachen des Glückes der Franzosen in dem Revolutionskriege", und zwar im „Neuen Militärischen Journal", das er mit seinem Freunde v. d. Decken herausgab1. Eine jener Ursachen fand er in der Energie, womit die Jakobiner unfähige Generale und Offiziere kassierten. Auf [der] Seite der deutschen Gegner sah er dagegen schmähliche Konnexion und Nepotismus im Offizierskorps; man habe eine Menge höherer Offiziere gehabt, die unfähig gewesen seien, selbst nur Unteroffiziersdienste zu leisten; man habe Offiziere gesehen, die weder lesen noch schreiben konnten; allgemein ergäben sich die jungen Offiziere dem Müßiggang und der Libertinage. Und in diesem Zusammenhang sagt nun Scharnhorst, wenn ein Soldat mit seinen Kameraden oder einem Bauer oder einem Bürger Streit bekomme, so bestrafe man ihn nach der Strenge; dass er aber seine Waffen in einem unglücklichen Gefecht weggeworfen habe, dass er davongelaufen sei, das übersehe man. Wenn ein Offizier mit dem Bürger Streit bekomme und nicht gleich nachgebe, wenn er der Zivilobrigkeit gegenüber einen kleinen Fehler mache, wenn er einmal mit den Studenten sich schlage, wenn er überhaupt von der angeborenen und ihm als Soldaten unentbehrlichen Heftigkeit des Temperaments sich etwas merken lasse, so werde er weit strenger als der Bürger bestraft, wogegen sein zweideutiges Betragen vor dem Feinde, seine Unwissenheit bei der Verteidigung eines Postens, seine angebliche Krankheit in misslichen Zeitpunkten ununtersucht und unbestraft bleibe. Unbegreiflich zwecklos gehe man in diesem Stücke überall zu Werke.

Aus diesen Ausführungen Scharnhorsts hat sich Herr v. d. Goltz das Zeugnis zurecht destilliert, wodurch er beweisen will, dass eine Hauptursache der Niederlage von Jena die Zurücksetzung des Adels hinter das Bürgertum gewesen sei. Von ähnlichen Zitierkunststücken wimmelt das Buch, und man ist im ersten Augenblick erstaunt, wie Herr v. d. Goltz damit der bürgerlichen Kritik sich unter die Augen traut. Jedoch als kommandierender General weiß er recht gut, dass er dem heutigen Bürgertum ebenso alles bieten darf, wie seine Ahnen von 1806 dem damaligen Bürgertum alles geboten haben. Kein bürgerliches Blatt hat den Mut zu einem zornigen Protest gegen diese Geschichtsmache auf bürgerliche Unkosten gehabt, aber sehr viele, und darunter auch liberale, haben es als eine rieselnde Quelle lauterer Weisheit gepriesen.

Jedoch so völlig wertlos das Buch vom wissenschaftlichen Standpunkt aus ist, so hat es doch einen bedeutenden politischen Wert. Es zeigt ebenso den Niedergang der junkerlichen Klasse wie vor fünfzig Jahren das Buch des Obersten Höpfner2, das zuerst klares Licht über die Niederlage von Jena verbreitete, seinen nochmaligen Aufstieg singt. Engels schreibt einmal: „Eine große Armee, wie jede andre große gesellschaftliche Organisation, ist nie besser, als wenn sie nach einer großen Niederlage in sich geht und Buße tut für ihre vergangenen Sünden. So ging es den Preußen nach Jena, so nochmals nach 1850, wo sie zwar keine große Niederlage erlitten, wo aber doch ihr gänzlicher militärischer Verfall ihnen selbst und der Welt in einer Reihe kleinerer Feldzüge – in Dänemark und in Süddeutschland – und bei der ersten großen Mobilmachung von 1850 handgreiflich klar gemacht, und wo sie selbst einer wirklichen Niederlage nur entgangen waren durch die politische Schmach von Warschau und Olmütz. Sie waren gezwungen, ihre eigene Vergangenheit einer schonungslosen Kritik zu unterwerfen, um das Bessermachen zu lernen. Ihre militärische Literatur, die in Clausewitz einen Stern erster Größe hervorgebracht, seitdem aber unendlich tief gesunken war, hob sich wieder unter dieser Unumgänglichkeit der Selbstprüfung. Und eine der Früchte dieser Selbstprüfung war das Höpfnersche Buch'."3 So tief aber wie in dem Buche des Herrn v. d. Goltz ist die militärische Literatur in Preußen noch nie gesunken gewesen, es sei denn in den Tagen vor Jena.

Wenn es wenigstens das Motto trüge: Nichts gelernt und nichts vergessen! Dann wäre doch ein wahres Wort daran. Allein wenn das preußische Junkertum unter diesem Zeichen den Jenaer Tag feiern will, uns soll's recht sein, und wir registrieren mit hoher Befriedigung das geistige Armutszeugnis, das ihm die Schrift des kommandierenden Generals v. d. Goltz ausstellt; ein hohlerer Hochmut hat sich vor hundert Jahren auch nicht gespreizt.

1 Scharnhorst war 1778-1801 Offizier in der hannoverschen Armee und Begründer und Mitherausgeber des von 1788-1793 und von 1797-1805 erschienenen „Neuen Militärischen Journals", das Aufsätze über kriegsgeschichtliche Probleme besonders der französischen Revolutionskriege enthielt. Der genaue Titel des von Mehring angeführten Aufsatzes von Scharnhorst lautet: Entwicklung der allgemeinen Ursachen des Glücks der Franzosen in dem Revolutionskriege und insbesondere in dem Feldzug von 1794. In: Neues Militärisches Journal, 1797, Bd. 1.

2 Gemeint ist das Buch: Der Krieg von 1806 und 1807. Ein Beitrag zur Geschichte der Preußischen Armee, nach den Quellen des Kriegsarchivs bearb. von Eduard von Höpfner, Generalmajor und Direktor der Königlichen Allgemeinen Kriegsschule, 4 Bde., Berlin 1850.

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