Franz Mehring 19060217 Heinrich Heine

Franz Mehring: Heinrich Heine

16. Februar 1906

[gez.: F. M., Leipziger Volkszeitung Nr. 39, 16. Februar 1906. Feuilleton-Beilage. Nach Gesammelte Schriften, Band 10, S. 637-643]

Ich bin das Schwert, ich bin die Flamme.

Ich habe euch erleuchtet in der Dunkelheit,

und als die Schlacht begann, focht ich voran, in der ersten Reihe.

Rund um mich her liegen die Leichen meiner Freunde, aber wir haben gesiegt. Wir haben gesiegt, aber rund umher liegen die Leichen meiner Freunde. In die jauchzenden Triumphgesänge tönen die Choräle der Totenfeier. Wir haben aber weder Zeit zur Freude noch zu Trauer. Aufs Neue erklingen die Trommeten, es gilt neuen Kampf. Ich bin das Schwert, ich bin die Flamme.

Heinrich Heine

„… alle Verleumdungen, die seit vielen Jahren in so reichlicher Fülle gegen mich zum Vorschein gekommen und die ich mit Geduld und Stolz ertrage. Ich sage: mit Stolz, denn ich konnte dadurch auf den hochmütigen Gedanken geraten, dass ich zu der Schar jener Auserwählten des Ruhmes gehörte, deren Andenken im Menschengeschlecht fortlebt und die überall neben den geheiligten Lichtspuren ihrer Fußtapfen auch die langen kotigen Schatten der Verleumdung auf Erden zurücklassen." So schrieb Heinrich Heine im Jahre 1837 gegen den Denunzianten Menzel, und wir wüssten seiner mit keinem treffenderen Worte zu gedenken, zum 17. Februar dieses Jahres, dem fünfzigsten Jahrestage seines Todes.

Lassen wir jedoch in den langen kotigen Schatten der Verleumdung, wem immer darin wohl sein mag: wir freuen uns um so mehr der Lichtspuren, die Heines Fußtapfen hinterlassen haben, und wir nehmen ihn gern, wie er war, ohne auch nur das Geringste von dem abzustreiten, was die ganzen und halben Dunkelmänner jeglichen Kalibers an ihm auszusetzen haben. Eben dass sie ihn heute, ein halbes Jahrhundert nach seinem Tode, mit der ganzen wilden Glut hassen, als wandelte er als ein Lebender noch unter uns, eben dies ist uns die untrüglichste Bürgschaft dafür, dass Heine ein großer Vorkämpfer der großen Sache war, für die auch wir in Waffen und Wehr stehen. Käme der Tag, und dank unsern Kämpfen wird er kommen, wo die deutsche Nation frei und freudig anerkennen würde, was sie an Heine besessen hat, so hätte die deutsche Kultur und Zivilisation einen unermesslichen Fortschritt gemacht, aber ehe dieser Tag anbricht, ist es tausendmal besser, dass Heines Name ein Feldruf bleibt, der die Guten und die Schlechten trennt, als dass er im Schlamm des Philistertums versänke, wie leider das Andenken unsrer Klassiker, deren Namen – wir haben es vor Jahr und Tag bei der Schillerfeier gehört – der gute Patriot mit dünner Fistelstimme preist, weil er ihre Werke nicht kennt.

Ein Mann wie Marx wusste wohl, weshalb er über Heines Schwächen sehr nachsichtig urteilte. Alle großen Kämpfer, die auf der Grenzscheide zweier Welten die Träger der neuen Fackeln sind, kommen zu kurz, wenn man sie an der Philisterelle misst; aus jedem von ihnen lässt sich mit leichter Mühe ein groteskes Zerrbild machen. Das gilt von Hutten und Voltaire nicht minder als von Heine; ja, ja, alle wütenden Anstrengungen seiner Hasser können aus Heine nicht einmal eine solche Teufelslarve zurecht kneten, wie die römischen Bonzen aus Luther zurecht geknetet haben. Wie das gemacht wird, hat Heine selbst einmal sehr drastisch geschildert; er sagt von einer Schrift, die ein patriotischer Philister bei seinen Lebzeiten gegen ihn gerichtet hatte: „Das Beste an der ganzen Abhandlung ist der wohlbekannte Kniff, womit man verstümmelte Sätze aus den heterogensten Schriften eines Autors zusammenstellt, um demselben jede beliebige Gesinnung oder Gesinnungslosigkeit aufzubürden. Freilich, der Kniff ist nicht neu, doch bleibt er immer probat, da von Seiten des angefochtenen Autors keine Widerlegung möglich ist, wenn er nicht etwa ganze Folianten schreiben wollte, um zu beweisen, dass der eine von den angefochtenen Sätzen humoristisch gemeint, der andre zwar ernst gemeint sei, aber sich auf einen Vordersatz beziehe, der ihm eben seine richtige Bedeutung verleiht; dass ferner die aneinandergereihten Sätze nicht bloß aus ihrem logischen, sondern auch aus ihrem chronologischen Zusammenhang gerissen werden, um einige scheinbare Widersprüche herauszuklauben; dass aber eben diese Widersprüche von der höchsten Konsequenz zeugen würden, wenn man Zeitfolge, Zeitumstände, Zeitbedingungen bedächte – ach! wenn man bedächte, wie die Strategie eines Autors, der für die europäische Freiheit kämpft, wunderlich verwickelt ist, wie seine Taktik allen möglichen Veränderungen unterworfen, wie er heute etwas als äußerst wichtig verfechten muss, was ihm morgen ganz gleichgültig sein kann, wie er heute diesen Punkt, morgen einen andern zu beschützen und anzugreifen hat, je nachdem es die Stellung der Gegenpartei, die wechselnden Allianzen, die Siege oder die Niederlagen des Tages erfordern." Man braucht diese seine Schilderung des „wohlbekannten Kniffes" nur zu lesen, um zu erkennen, dass er auch heute noch eine Hauptwaffe der Dunkelmänner ist; sie sind immer dieselben, denn in ihrer zornigen Borniertheit gibt es keine Entwicklung.

Eine andre ihrer Hauptwaffen – die Maske der sittlichen Entrüstung, die den Hass gegen den historischen Fortschritt verdecken soll – ist gerade auch gegen Heine in überreichlichem Maße angewandt worden. Dieselben Tugendhelden, die über die Mätressenwirtschaft ihrer offiziellen Größen gleich beide Augen zudrücken, haben von jeher ganze Katarakte moralischer Empörung über Heine ergossen, weil er nach altem Dichterrechte manche losen Dirnchen in seinen Gedichten verewigt hat. Nach altem Dichterrechte, von dem kein Dichter einen ausgiebigeren Gebrauch gemacht hat als der römische Hofpoet Horaz, an dessen Oden die patriotischen Philister ihre halbwüchsigen Jungen erziehen lassen. Ja, sie haben es sogar fertig gebracht, eine horazische Ode an irgendeine willige Lalage (Integer vitae scelerisque purus) zu einem feierlichen Grabgesang zu machen, den sie in getragener Melodie in ihren bewegtesten Stunden anstimmen. Aber was an dem Hofpoeten so überschwänglich bewundert wird, das muss natürlich an dem Volksdichter ebenso überschwänglich getadelt werden.

Eine dritte Hauptwaffe, die von den beschränkten Spießbürgern gegen Heine geschwungen wird, hat er selbst schon in dem geflügelten Wort verspottet: Ein Talent, doch kein Charakter! Er war ein großer Künstler, aber ebendeshalb war er kein Politiker, der auf die Paragraphen eines Parteiprogramms eingeschworen werden konnte oder sich auch nur darauf einschwören zu lassen brauchte; die verrottete Welt, die er bekämpfte, griff er nicht mit politischen Waffen an; von seinem Lebenswerke gilt dasselbe, was er von den aristophanischen Lustspielen sagt, dass „die tiefe Weltvernichtungsidee darin wie ein phantastisch-ironischer Zauberbaum emporschießt mit blühendem Gedankenschmuck, singenden Nachtigallnestern und kletternden Affen". Jedoch als großer Künstler ist Heine auch ein großer Charakter gewesen; sein Dichterleben hat nicht jenen Bruch, der an dem Leben nicht aller, aber vieler unsrer Klassiker als ein trauriges deutsches Erbteil erkältet.

Ein geistreicher Franzose hat einmal von dem alternden Goethe gesagt, er gleiche einem ehemaligen Räuberhauptmann, der sich vom Handwerk zurückgezogen habe, unter den Honoratioren eines Provinzialstädtchens ein ehrsam bürgerliches Leben führe, aufs kleinlichste alle Philistertugenden zu erfüllen strebe und in die peinlichste Verlegenheit gerate, wenn zufällig irgendein wüster Waldgesell aus Kalabrien mit ihm zusammentreffe und alte Kameradschaft suchen möchte. Das aber lässt sich von Heine nicht sagen; er ist immer der alte Räuberhauptmann, immer der große Spötter geblieben, von den „Reisebildern" bis zum „Romanzero". Ja, seine letzte Gedichtsammlung, die ihm in der grauenvollen „Matratzengruft" erstanden ist, mag leicht sein größtes Kunstwerk sein; so souverän wie in ihr hat er vielleicht selbst in seinen gesündesten Tagen nicht mit Welt und Leben gespielt! Und einem Dichter, der in dem qualvollen Todesringen langer Jahre sich und seiner Kunst bis zum letzten Hauche treu geblieben ist, wagen die neudeutschen Zionswächter den Charakter abzusprechen! Immerhin vielleicht nicht ohne Recht, wenn das Charakter sein soll, was sie unter Charakter verstehen. Heine selbst dachte darüber anders und größer, und mit gerechtem Selbstbewusstsein durfte er sich die Grabinschrift setzen:


Verlorner Posten in dem Freiheitskriege,

Hielt ich seit dreißig Jahren treulich aus.

Ich kämpfte ohne Hoffnung, dass ich siege,

Ich wusste, nie komm' ich gesund nach Haus.


Ein Posten ist vakant! – Die Wunden klaffen

Der eine fällt, die andern rücken nach;

Doch fall ich unbesiegt, und meine Waffen

Sind nicht gebrochen. – Nur mein Herze brach.


Wie aber der Dichter Heine darin den meisten unsrer Klassiker überlegen ist, dass er dem Philistertum durchaus keine Zugeständnisse machte, so ist er in dem gleichen Punkte auch den meisten der Modernen überlegen. Wir sind jetzt glücklich wieder bei der, wie Treitschke in seinen jüngeren Jahren sagte, vertrockneten Konrektorenweisheit angelangt, wonach die politische und soziale Dichtung ein Frevel an der Kunst sein soll, wonach der Dichter zwar die duftenden Gelbveigelein und die blühenden Zwetschenbäume und die summenden Maikäfer besingen soll, aber beileibe nicht in den großen realen Interessen des modernen Völkerkampfes das begeisternde Prinzip seiner Kunst erblicken darf, wonach ein Stimmungsbildchen Mörikes oder Storms zwar echte Poesie ist, aber ein klingendes Reiterlied Herweghs oder Freiligraths Sang der „Toten an die Lebenden" nur stotternde Unkunst. Gewiss können die Grenzen der Kunst nach der einen wie nach der andern Seite überschritten werden, nach der Seite der blühenden Gelbveigelein wie nach der Seite der klirrenden Reiterlieder, und gerade der Künstler Heine hat sich gegen die Ausschreitungen nach der einen wie nach der andern Seite sehr schroff gewandt. Aber er hat auch durch sein eignes Beispiel gezeigt, dass echter Kunst nichts Menschliches fremd ist, dass sie überall aus dem vollen wirtschaften kann, auf politischem und sozialem Gebiet nicht minder als auf jedem andern, dass der große Künstler immer mitten in den Bewegungen steht, die seine Zeit erschüttern, dass die Kunst die Tochter der Freiheit ist und in der Sklavengesinnung verschmachten muss, die sich feige von dem Nerv alles menschlichen Lebens abwendet…

Natürlich ist zum fünfzigsten Todestage des Dichters wieder das alte wehleidige Lied angestimmt worden, dass noch kein Denkmal Heines auf deutschem Boden errichtet worden sei. Aber wenn die Junker und Pfaffen und spießbürgerlichen Philister jemals recht gehabt haben, so haben sie es mit der Behauptung: Alles, was uns heilig ist, alles, worauf des neudeutschen Reiches Herrlichkeit beruht, hat Heine verhöhnt und verspottet. Das ist wahr, das ist dreitausendmal wahr, und wer davon auch nur ein Titelchen abdingen will, um irgendwo einen verwitternden Stein mit hoher obrigkeitlicher Erlaubnis als Denkmal Heines aufzustellen, der versündigt sich an Heine mehr, als sich je ein Junker oder Pfaffe oder spießbürgerlicher Philister an ihm versündigt hat. Diese Leute haben dreitausendmal recht, wenn sie sagen: der Boden unsres heiligen Reiches würde durch ein Denkmal Heines entweiht werden.

Will man ihnen entgegentreten, so kann man es nur mit dem durchschlagenden Worte tun, das Ritter Paulet an Maria Stuart richtet: „Was ihn Euch widrig macht, macht mir ihn wert." Wer dazu die Courage nicht hat, der lasse die Hände von Heine. Er hat mit Heine sowenig zu schaffen wie Heine mit ihm. Es ist widerlich, mit anzuhören, wie sogenannte Bewunderer Heines als „Schwächen" an ihm zu entschuldigen suchen, was seines unsterblichen Wesens unsterblichster Teil war. Wir denken deshalb nicht daran, einen politischen Anspruch an Heine zu erheben. Um es noch einmal zu wiederholen: Heine war kein Politiker, sondern ein Poet, und zwar ein großer Poet; er hat kein Parteiprogramm verfochten, sondern seiner Zeit mit den Blicken des Sehers in Herz und Nieren geschaut. In der „Neuen Zeit" hat Schweichel einmal eine Würdigung Heines in den Worten zusammengefasst: „So steht Heine mit der Leier und dem Bogen auf der Grenze einer zum Leben ringenden Welt, ein revolutionärer Dichter." Wer aber den Revolutionär Heine verleugnet, der hat kein Recht, mit dem Dichter Heine zu prahlen; wer seinen Bogen zerbricht, darf seine Leier nicht schmücken; wer die zum Leben ringende Welt verdammt, sollte ihren genialen Propheten nicht auf den Schild erheben.

Bei einem Blick auf die „gebildete" und „freisinnige" Falstaffgarde, die so todesmutig für ein Denkmal Heines kämpft, fallen uns immer Lassalles Worte ein: „Der Bürger schwärmt für unsre Dichter, weil er einige Verse von ihnen zitieren kann, aber sich niemals in ihre Weltanschauung hineingedacht hat." In der Tat, der Gesangverein „Halbe Lunge" singt die „Lorelei" wunderschön, und die höhere Tochter paukt auf dem Klavierzimbel nicht minder wunderschön die „Blume, so hold und schön und rein" oder das „Königskind mit den nassen, blassen Wangen", und wenn's hochkommt würzt man das lederne Geschwätz im Kasino mit ein paar guten Witzen aus den „Reisebildern". Das ist aber nicht einmal der halbe, geschweige denn der ganze Heine; das ist ein genialerer Arnim oder Brentano, wie denn die Lorelei-Sage von Brentano erfunden worden ist und von Heine nur die klassische Form erhalten hat; das ist ein tönendes Echo aus „Des Knaben Wunderhorn", dem unergründlich tiefen Brunnen des Volksliedes, von dem die freisinnigen Biedermänner nun schon gar nichts wissen. Auch „Die beiden Grenadiere" stehen auf dem Repertoire der Gesangvereine, und man verzeiht dem Dichter großmütig die „Schwäche" seines Napoleonkultus. Und doch enthielt dieser Kultus eine Weltanschauung: das leidenschaftliche Bekenntnis zu der bürgerlichen Kultur, die die französischen Bajonette dem Rheinlande gebracht hatten und die ihm nunmehr wieder entrissen werden sollte durch die feudale Unkultur der ostelbischen Schnapsbrenner.

Wir wüssten wohl ein Denkmal, das Heines würdig wäre, ein Denkmal, das, wenn es sich über seinem Grabe erhöbe, den toten Dichter vor heller Lust erwecken könnte. Ein solches Denkmal wäre eine historisch-kritische Ausgabe seiner Werke, die nach Ausscheidung alles Abgestorbenen und Totgeborenen der deutschen Arbeiterklasse das ganze Verständnis des Genius, des Kämpfers, des Märtyrers erschlösse. Man brauchte den Gesangvereinen und den höheren Töchtern ihr erbgesessenes Besitztum gar nicht so sehr zu schmälern; es blieben der reichen Schätze genug. All die mächtige Beredsamkeit über freche Unterdrückung, all der feurige Spott über träge duldende Feigheit, all die seherischen Blicke, die gleich glänzenden Sternen das Dunkel der Zukunft erhellten, all das Tiefe und Wundervolle, was Heine über die deutsche Philosophie und den französischen Sozialismus gesagt hat. Es bliebe „Atta Troll", es bliebe das „Wintermärchen", es bliebe der „Romanzero", es blieben die herrlichen Zeitgedichte aus den dreißiger, vierziger, fünfziger Jahren, die dem guten Ruge, der in den „Hallischen Jahrbüchern" anfangs sehr von oben herab über Heine geurteilt und dafür den Dank des preußischen Kultusministers geerntet hatte, dann doch den begeisterten Schrei entrissen, Heine sei der freieste Deutsche, ein moderner Aristophanes, ein Jüngling ohne Fehl und Tadel, der Tyrtäus der deutschen Völkerschlacht.

Aber die deutsche Arbeiterklasse steht in heißem Kampfe, und dringendere Pflichten hindern sie, ihr geistiges Erbe schon jetzt in vollem Umfange anzutreten. Sie kann warten, aber Heine kann es glücklicherweise auch. Ein halbes, ein ganzes Jahrhundert mehr, und seine Gestalt wird sich nur um so größer am historischen Horizont abzeichnen.

Comments