Franz Mehring: Gedenktage 4. Juli 1906 [Die Neue Zeit, 24. Jg. 1905/06, Zweiter Band, S. 481-484. Nach Gesammelte Schriften, Band 11, S. 457 f. und Band 12, S. 159-162] Am 12. dieses Monats feiert Robert Schweichel seinen fünfundachtzigsten Geburtstag. Unsere herzlichen Glückwünsche grüßen den festlichen Tag. Von den Achtundvierzigern, die sich aus freiem Entschluss unter die Fahne des proletarischen Emanzipationskampfes gestellt haben, ist Schweichel der älteste, wenn auch nicht der einzige; neben ihm steht noch ein anderer Veteran aus dem Jahre der deutschen Revolution, der wie Schweichel zu den treuesten und verdientesten Mitarbeitern unseres Blattes zählt, unser um sieben Jahre jüngerer F. A. Sorge, in dessen gastlichem Heim jenseits des großen Teiches wir vor wenigen Wochen unvergessliche Stunden verlebt haben. Beide sind einst durch das freche Wüten der Gegenrevolution über die deutschen Grenzen gejagt worden, und beide geleitete die Kunst als holde Trösterin in die Schrecken des Exils, den einen die Musik, den anderen die Poesie. In der modischen Literaturgeschichte freilich sucht man den Namen Schweichels vergebens, da er nie einer Mode gefrönt hat, so klappt die Mode schweigend vor ihm ihr Visier zu. Er ist als Dichter vergessen, wenn anders die papiernen Wechsel gelten, welche die bürgerliche Literarhistorie auf die Unsterblichkeit zieht. Aber der Tag wird kommen, wo diese Wechsel mit Protest zurückgewiesen werden, und an diesem Tage wird auch der Dichter Schweichel wieder zu seinem Rechte gelangen. In der literarischen Geschichte der deutschen Arbeiterklasse hat er seinen sicheren Platz, wie ihn Weerth hat, wie ihn andere haben, von denen die deutschen Literaturgeschichtschreiber auch nichts zu singen und zu sagen wissen. Das heißt nicht eine Tendenz mit der anderen vertauschen, sondern es heißt nur, dass zuletzt immer die Schatten weichen, welche die Tendenz auf wirkliche Kunst wirft. Denn ob man nun das dichterische Talent Schweichels höher oder niedriger einschätze: das eine kann ihm nicht bestritten werden, und deshalb sollte es ihm auch nicht bestritten werden, dass es ihm immer ernst um seine Kunst gewesen ist, dass er immer nach künstlerischen Prinzipien gearbeitet hat. An seinem ästhetisch bedeutendsten Werke, den „Falknern von St. Vigil", hat einmal ein jüngerer Ästhetiker eingehend nachgewiesen, wie streng in der umfangreichen Dichtung die Gesetze des epischen Schaffens beobachtet worden sind, wie sicher die künstlerische, im schönsten Ebenmaß gegliederte Schöpfung auf und in sich selber beruht, wie fest und frei sie sich aus eigener Kraft bewegt, so dass sie kaum noch an einer flüchtigen Zeile in ihren drei Bänden durch einen Spinnwebfaden von subjektiver Bemerkung mit ihrem Schöpfer zusammenhängt. Eben das künstlerische Gewissen Schweichels hat ihm auch die durchaus kritische Stellung zu dem modernen Naturalismus angewiesen, der vor zwanzig Jahren aufkam. Nicht als ob er je verkannt hätte, was die Hauptmann und Holz und Halbe an wirklichem, dichterischem Talent besaßen – er hat lange Jahre zu den fleißigsten Arbeitern im Ausschusse der Freien Volksbühne gehört –, aber wohl empfand und erkannte er, dass hier keine neue Morgenröte anbrach, sondern nur ein flüchtiges Farbenspiel einen unaufhaltsamen Untergang belebte. Denn dieser Dichter war immer ein Mann und immer ein Soldat im Befreiungskampf der Menschheit, und er trachtete nach keinem anderen Lorbeer, als der in dem Boden wurzelt, worauf der Kampf „um die Freiheit" geführt wird, wie der Titel seiner letzten großen Dichtung lautet. In diesem Boden wurzelt überhaupt der echteste und unvergänglichste Lorbeer des Künstlers, der an keiner Laune, an keiner Missgunst, an keiner Mode des Tages verdorrt, und währte dieser Tag auch Jahrzehnte. In dem siegreichen Geschlecht der Zukunft wird Schweichel zu seinen verdienten Ehren kommen, als der einfache schlichte Dichter, dessen Kunst der deutschen Arbeiterklasse in dem gewaltigen Ringen ihres Emanzipationskampfes ihre Kämpfe und ihre Leiden verklärt hat. * * * Ein weltgeschichtliches Beispiel dafür, wie sehr der dauernde Nachruhm eines Künstlers bestimmt wird durch seine Stellung zu den Klassenkämpfen seiner Zeit, und wie alles ästhetische Urteil, das diesen sicheren Boden verlässt, in tollem Auf und Nieder schwankt, bietet das Leben des großen Künstlers, dessen dreihundertster Geburtstag in diesen Tagen wiederkehrt. Rembrandt war schon bei seinen Lebzeiten so vergessen, dass sein Todesjahr nur mit größter Mühe hat festgestellt werden können. Heute aber gilt er, nach unseren kunsthistorischen Lehrbüchern, als der „eigenartigste künstlerische Genius, den die germanische Welt hervorgebracht" hat, und vor etwa fünfzehn Jahren richtete ein tollgewordener Deutschtümler ein dickes Buch an die „Besseren unter den Gebildeten Deutschlands" unter dem Titel: Rembrandt als Erzieher, worin die Anbetung Rembrandts als „Pflege der spezifisch deutschen Gesinnung" empfohlen und Rembrandtsche Kunst als der Zopf angepriesen wurde, an dem sich das „geistige Leben des deutschen Volkes" aus dem Sumpfe retten könne, „aus dem Zustand des langsamen, einige meinen auch des rapiden Verfalls". Da der Schmarren die Anbetung Rembrandts mit der Anbetung Bismarcks verkoppelte, so erlebte er in einem Jahre wirklich einige dreißig oder selbst noch mehr Auflagen; heute freilich ist er bis auf die letzte Spur verschollen, und er wird auch nicht wieder aus dem Meere der Vergessenheit auftauchen. Hören wir nun aber über den „eigenartigsten künstlerischen Genius der germanischen Welt" denjenigen Ästhetiker, der, nach unseren kunsthistorischen Lehrbüchern, der „eigenartigste kritische Genius der germanischen Welt" sein soll. Lessing schreibt über Rembrandt: „Die Rembrandtsche Manier schickt sich zu niedrigen, possierlichen und ekeln Gegenständen sehr wohl. Durch den starken Schatten, welcher durch den Vorteil des unreinen Wischens oft erzwungen wird, erraten wir mit Vergnügen tausend Dinge, welche deutlich zu sehen gar kein Vergnügen ist. Die Lumpen eines zerrissenen Rockes würden, durch den feinen und genauen Grabstichel eines Wille ausgedrückt, eher beleidigen als gefallen; da sie doch in der wilden und unfleißigen Art des Rembrandt wirklich gefallen, weil wir sie uns hier nur einbilden, dort aber sie wirklich sehen würden. Hingegen wollte ich hohe, edle Gegenstände nach Rembrandts Art zu traktieren nicht billigen, ausgenommen solche hohe, edle Gegenstände, mit welchen Niedriges und Edles verbunden ist, zum Beispiel die Geburt eines Gottes in einem Stalle unter Ochsen und Eseln und solche, mit welchen die Dunkelheit vor sich verbunden ist." So schrieb nicht etwa der junge und noch unreife Lessing, sondern der hamburgische Dramaturgist, der Verfasser des „Laokoon", der „ekeln und niedrigen" Gegenständen überhaupt nur ein sehr bedingtes Recht in der Kunst zusprach und es gar nicht so uneben fand, dass die alten Griechen die „Kotmalerei" unter polizeiliche Strafen gestellt hatten. Umgekehrt war ein Mann, dem herkömmlicherweise jedes Verständnis für die keuschen und tiefen Geheimnisse des germanischen Wesens abgesprochen zu werden pflegt, ein großer Verehrer Rembrandts, nämlich Napoleon. Er fand in Rembrandt gerade die ungestüme Größe und Kraft, zu deren Darstellung nach Lessings Ansicht die Rembrandtsche Manier nicht taugte. Eine Lieblingsfigur Rembrandts war Simson, der Held des Alten Testaments. So stellte der Maler die Szene aus dem Buche der Richter dar, wie Simson gedachte, zu seinem Weibe in die Kammer zu gehen, aber das Haus verschlossen fand. Auf sein Anpochen hat der Schwiegervater einen Fensterladen im ersten Stock geöffnet, beugt sich heraus und fertigt den Eidam mit den Worten ab: „Ich meinte, du wärest ihr gram geworden, und habe sie einem deiner Gesellen gegeben." Er verrät in seiner Miene und Haltung ebenso viel hämisches Bedauern und heuchlerisches Beileid, wie der wütende Simson in seinem grimmigen Blicke und mit seiner kraftvoll geballten Faust wilde Rachsucht und fürchterlichen Zorn kundgibt. Dies Bild Rembrandts, obgleich es schwerlich zu seinen Meisterwerken zählt und vor hundert Jahren noch dazu die widersinnige Bezeichnung führte: Der Herzog von Geldern bedroht seinen Vater, den er ins Gefängnis werfen ließ, wurde ein Lieblingsbild Napoleons. Er entführte es der Berliner Galerie und schmückte damit sein Arbeitszimmer in Saint-Cloud. Hier fand es Blücher im Jahre 1815, und so gab es den ersten Anstoß dazu, dass die von Napoleon nach Paris verschleppten Kunstschätze wieder herausgegeben werden mussten. Diese hervorstechenden Beispiele zeigen wohl zur Genüge, wie das ästhetische Urteil über Rembrandt hin und her getaumelt ist und wie wenig mit Redensarten wie „eigenartigster künstlerischer Genius der germanischen Welt" gesagt ist. Die eigentümliche Stellung Rembrandts auch in der Kunstgeschichte wird vielmehr dadurch bestimmt, dass er der größte Maler der niederländischen Revolution gewesen ist und insoweit auch ihr beredtester Historiker, als wir aus seinen Werken leibhaftig das Geschlecht kennen lernen, das die erste moderne Revolution geschlagen hat. Alles, was die Kunst Rembrandts in epochemachender Weise von der Kunst seiner Vorgänger unterscheidet, ist revolutionären Ursprungs. Aus dem Selbstbewusstsein und dem Stolze der bürgerlichen Revolution erwuchs die monumentale Kunst der Schützen- und Regentenstücke; der siegreiche Bürger verlangte nicht Schlachten noch feierliche Staatsaktionen von seinen Malern; das Einzelporträt und die Porträtgruppe bildeten das bescheidene Gebiet dieser Historienmalerei, aber man muss mit Treitschke übereinstimmen, wenn er sagt: Welche Fülle historischen Lebens liegt doch in all diesen namenlosen Jan und Maurits, die hier im Zunfthaus Rechnungen prüfen oder festlich geschmückt, zum Schießplatz ausziehen oder bei reicher Mahlzeit das Ende des achtzigjährigen Bürgers feiern. Und so auch wandelte sich der Lebensgehalt der biblischen Stoffe unter den Händen Rembrandts und seiner Schüler. Sie malten keine religiösen Bilder mehr, die bestimmt waren, Altäre zu schmücken und gläubige Verehrung zu erwecken; die bürgerliche Kirche verschmähte die kirchliche Kunst. Ihre religiösen Bilder waren bestimmt, das bürgerliche Haus zu zieren, und unter der leichten Hülle der biblischen Tradition schilderte sie das bürgerliche Leben ihrer Zeit in all seiner mächtig aufquellenden Frische und Kraft. Bis in die malerische Technik Rembrandts hinein erstreckt sich der revolutionäre Ursprung seiner Kunst. Es ist schon ein beträchtlicher Fortschritt über Lessings „unreines Wischen" hinaus, wenn Treitschke das berühmte Helldunkel Rembrandts „auf das Land des halbbedeckten Himmels, der prächtigen Sonnenuntergänge, des ewig wechselnden Lichterspiels" zurückführt. Aber dann entsteht die Frage, weshalb die holländische Natur gerade nur im Jahrhundert der holländischen Revolution die Kunst befruchtet hat, und weder vor- noch nachher. Die richtige Antwort hat schon ein bürgerlicher Kunsthistoriker gegeben, indem er schrieb: „Während Rubens halb der italienischen Welt angehört, steht Rembrandt als der Antipode Michelangelos und Raffaels da. Hatten jene als echte Söhne der Renaissance das Göttliche in der schönen menschlichen Gestalt gemalt, so machte Rembrandt, der Sohn einer Epoche, die Gott in der ganzen Natur sah, die großen kosmischen Gewalten von Luft und Licht zu seinem Ideal. Wie die großen Italiener Formenmassen gruppieren, so gruppiert er Farbenmassen und weiß durch die Harmonie der Töne Einheit und Klarheit in die Komposition zu bringen." In der Tat, Rembrandt war ein Landsmann und Zeitgenosse Spinozas. An seinem dreihundertsten Geburtstag feiern wir ihn nicht als „eigenartigsten künstlerischen Genius der germanischen Welt" – denn das ist eine Redensart wie andere auch –, sondern als den ersten germanischen Künstler, der aus der ersten modernen Revolution unsterbliches Leben geschöpft hat. |
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