Franz Mehring 19061031 F. A. Sorge

Franz Mehring: F. A. Sorge

Oktober 1906

[Die Neue Zeit, 25. Jg. 1906/07, Erster Band, S. 145-147. Nach Gesammelte Schriften, Band 4, S. 486-488]

Vor wenigen Wochen erst besprachen wir die wertvolle Gabe, die unser alter Mitarbeiter und Parteifreund Friedrich Adolph Sorge der internationalen Arbeiterbewegung in seinem Briefwechsel mit Marx und Engels gespendet hat, und heute schon müssen wir dem treuen Manne den Nachruf schreiben.

Dem treuen Manne, denn die Treue war sein innerstes Wesen. Die Treue und mit ihr untrennbar verbunden eine unbestechliche Wahrhaftigkeit. Wie einst die erste Berührung zwischen Marx und Engels unfreundlich war, so auch die erste Berührung zwischen Marx und Sorge. Noch in seinen letzten Lebenswochen erfuhr Sorge ein scharfes Urteil, das Marx in einem Briefe an einen anderen amerikanischen Parteifreund über ihn gefällt hatte. Als er uns diesen Brief nebst anderen übersandte, fügte er hinzu: „Veröffentlichen Sie davon, was Ihnen nützlich erscheint, aber was Marx über mich geschrieben hat, darf nicht fortbleiben. Das mag ich nicht." Er mochte nicht einmal vor sich selbst in den Verdacht einer kleinlichen Eitelkeit geraten, obgleich er wusste, dass Marx durch langjährige Freundschaft seinen anfänglichen Irrtum ausgeglichen hatte.

So war Sorge in allem: treu und wahr und von einer starren Rechtschaffenheit. Aber was sich mit der Starrheit so leicht verbindet, fehlte ihm ganz: die Beschränktheit. Der Sohn eines deutschen Pfarrerhauses, hat er doch nie jene eigentümliche Befangenheit gekannt, die den Pfarrerssohn Albert Lange bei allen sonstigen trefflichen Eigenschaften immer beirrt hat, was sich auch daraus erklären mag, dass Langes Vater ein orthodoxer, Sorges Vater aber ein freidenkender Geistlicher war, einer jener sächsischen „Lichtfreunde", die in dem vormärzlichen Liberalismus eine ganz respektable Rolle spielten. Sorges Vaterhaus bildete eine Station in der unterirdischen Eisenbahn, die von Frankreich und Belgien nach Polen führte; Agenten der polnischen Revolution übernachteten häufig darin und wurden dann fünf bis sechs Meilen weiter befördert zur nächsten Station. Es war die Zeit, wo Robert Blum, der erste revolutionäre Held des Knaben Sorge, in stiller Nacht an dem Schlüssel feilte, der dem polnischen Aufstand die Tore der Krakauer Zitadelle öffnen sollte.

Der sprichwörtliche Kindersegen des protestantischen Pfarrers war auch in Sorges Elternhaus heimisch. Der Vater unterrichtete deshalb die zahlreichen Kinder selbst und brachte die Knaben ziemlich weit in den klassischen Sprachen, in Geschichte und Literatur. Dies Lehrtalent hat sich auf unseren Sorge vererbt, hat ihn aufrechterhalten in allem Elend des Exils. Es litt ihn nicht mehr im Vaterhaus, als Robert Blum in Wien gemordet worden war und auch in Berlin die Gegenrevolution gesiegt hatte; er machte sich auf den Weg in die Schweiz, von wo ihn bald die Nachricht von der badischen Erhebung ins Vaterland zurückrief. Er trat in die Reihen des bewaffneten Aufstandes, kämpfte namentlich bei Ubstadt mit, lebte dann, in der Heimat zum Tode verurteilt, als Flüchtling in Genf und Lüttich, bis ihn polizeiliche Drangsalierungen über den Ozean trieben.

Die Vereinigten Staaten sind ihm dann zur zweiten Heimat geworden. Er hatte eine Antipathie gegen sie gehabt, wegen der Sklaverei in den Südstaaten und wegen des infamen Sklavenflüchtlingsgesetzes; es war seine Absicht gewesen, nach Australien auszuwandern, und mehr nur ein Zufall hatte ihn auf ein Segelschiff geführt, das nach Amerika fuhr. Aber er war damit auf den Boden gelangt, der ihm eine bedeutsame historische Wirksamkeit ermöglichen sollte. Zunächst freilich galt es den Kampf ums nackte Leben. Es macht einen seltsamen Eindruck, wenn der deutsche Kaiser und der Präsident der Union, wie vor wenigen Tagen wieder, klangvolle Reden austauschen über den segensreichen Einfluss der deutschen Auswanderung auf die historische Entwicklung der Vereinigten Staaten. Darüber soll doch nicht vergessen werden, dass diese Kulturträger hüben heraus gepeitscht wurden durch Gewalt und Hunger, drüben aber empfangen wurden als aufdringliche Bettler. Wie Sorge aus seiner Person kein Wesen zu machen liebte, so sprach er auch nicht von den Zeiten der Not. Nur als wir ihm einmal vorschwärmten, wie herrlich der Blick von den Bänken des Battery über den Hafen von New York sei, meinte er trocken: Ja, auf diesen Bänken habe ich manche Nacht hungernd und frierend gesessen.

Gar zu lange kann die Trübsal des Exils doch nicht gedauert haben. Als Gesang- und Musiklehrer schuf Sorge sich eine geachtete Existenz, und schon wenige Jahre nach seiner Landung in Amerika heiratete Sorge eine junge Deutsche, mit der ihn mehr als fünfzig Jahre bis an seinen Tod die glücklichste Ehe verbunden hat. Herbes Leid ist ihm freilich auch in seinem häuslichen Leben nicht erspart geblieben durch den Verlust blühender Kinder. Wie er dann ins öffentliche Leben trat, der erfolgreichste Bahnbrecher der Internationale in Amerika wurde und am Ende ihr letzter Bannerträger, wie ihn nach dem Untergang des großen Arbeiterbundes die innigste Freundschaft und Geistesgemeinschaft mit Marx und Engels verband, das ist in seinem Briefwechsel zu lesen, der eben eingehend in unseren Spalten besprochen worden ist.

Die letzten Jahre seines Lebens hat Sorge in stiller Beschaulichkeit verbracht, vom reichen Schatze seiner Erinnerungen zehrend und im Genuss treuer Freundschaft, wie sie ihm namentlich unsere Genossen Romm und Schlüter entgegenbrachten. Sie pflegten ihn abwechselnd jeden Sonntag in dem stillen Westhoboken zu besuchen, wo er zuletzt wohnte, und das war ihm stets die größte Freude; namentlich an der Genossin Romm hing sein Herz. Nach außen stand er im regsten Verkehr mit den Kindern seines Freundes Dietzgen, die ihm wie eigene Kinder waren.

Immer aber blieb sein regstes Interesse der Arbeiterbewegung zugewandt und vor allem ihrem deutschen Zweige. Mit einer wahrhaft rührenden Gastfreundschaft empfing er uns, als wir ihn im vergangenen Sommer besuchten und unvergessliche Stunden in seinem bescheidenen Heim verlebten, wo im Bibliothekszimmer Marx und Engels von den Wänden grüßten und im Musikzimmer Beethoven und Wagner. Er war all sein Lebtag ein froher Zecher gewesen, und als wir zum Abschied eine letzte Flasche tranken, die ihm von einer Ehrenspende zu seiner goldenen Hochzeit geblieben war, stieß er auf ein frohes Wiedersehen an.

Wie alle Menschen, die auf ein reiches Tagewerk zurückblicken können, lebte er gern und dachte nicht an den Tod. Aber da er einen schlimmen Winter hinter sich hatte und sich dem achtzigsten Lebensjahr näherte, so fürchtete Genosse Romm als sein ärztlicher Berater für den nächsten Winter. Deshalb beeilten die deutschen Freunde, denen er die ehrenvolle Aufgabe anvertraut hatte, das von ihm selbst besorgte Manuskript seines Briefwechsels herauszugeben, nach Möglichkeit die Herstellung des Werkes, aber der Tod ist nun doch schneller gewesen als sie. Sorge hat das fertige Buch nicht mehr gesehen.

Aber sein Name wird in diesem Buche fortleben wie in der Geschichte der Internationalen, und so auch in seinen wertvollen Beiträgen für die „Neue Zeit", die um ihn trauert als um einen treuesten Freund und Leser und Mitarbeiter.


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