Franz Mehring 19061128 Eine historische Aufklärung

Franz Mehring: Eine historische Aufklärung1

28. November 1906

[Die Neue Zeit, 25. Jg. 1906/07, Erster Band, S. 281-283. Nach Gesammelte Schriften, Band 4, S. 424-427]

Die Denkwürdigkeiten Hohenlohes haben zu einer historischen Kontroverse geführt, die schon oft erörtert worden ist und im Grunde eigentlich längst keine Kontroverse mehr bildete, aber bei dieser abermaligen Auffrischung doch einen neuen und nicht uninteressanten Einschlag erhalten hat.

Es handelt sich um den Fall des Sozialistengesetzes und den damit verknüpften Sturz Bismarcks. Bekanntlich wurde dem Kartellreichstag, der in den Faschingswahlen von 1887 gewählt worden war, in seiner letzten Tagung eine Vorlage gemacht, wonach das bis dahin befristete Sozialistengesetz zu einer dauernden Einrichtung umgeschaffen werden sollte. Die Nationalliberalen wollten sich aber nur darauf einlassen, wenn die polizeiliche Ausweisungsbefugnis aus dem Gesetz gestrichen würde. Diese Streichung sollte eine angebliche „Milderung" des Gesetzes darstellen, wodurch seine Verewigung zu beschönigen bezweckt wurde; tatsächlich war sie ein reiner Profit des Polizeistaats, der durch bittere Erfahrungen dahinter gekommen war, dass er mit der polizeilichen Ausweisungsbefugnis sich selbst in die Finger schnitte, und namentlich in Berlin gar keinen Gebrauch mehr davon machte.

Ein glatteres Geschäft, als dieser Gesetzentwurf war, ließ sich also vom reaktionären Standpunkt aus nicht wohl denken. Man konnte die arbeitenden Klassen für immer in die Ketten des Ausnahmegesetzes schmieden, um einen Preis, der angeblich die polizeiliche Praxis mildern sollte, tatsächlich sie aber nur handlicher machen konnte. Dazu war der Kartellreichstag bereit, die saubere Bescherung anzurichten, und sie wäre sicherlich auch angerichtet worden, wenn Bismarck nicht durch delphische Orakelsprüche die Konservativen irregemacht hätte, so dass sie in seinem Sinne zu handeln glaubten, wenn sie gegen das „gemilderte" Gesetz stimmten, mit anderen Worten, auch auf der Beibehaltung der polizeilichen Ausweisungsbefugnis in dem verewigten Gesetz bestanden, womit das durch die Nationalliberalen „gemilderte" Gesetz fiel, um nicht wieder aufzuerstehen.

Nach welcher Taube hat nun Bismarck geschielt, als er den Spatzen flattern ließ, den er schon in der Hand hatte? In seiner Parteigeschichte hat der Schreiber dieser Zeilen die Frage so beantworten zu sollen geglaubt:

Bismarck… wollte weder das ‚gemilderte' Gesetz, das er mit einem einfachen Kopfnicken hätte haben können, noch auch wollte er das ,ungemilderte' Gesetz, das ihm bei einigem Drucke auf die Nationalliberalen auch erreichbar gewesen wäre. Er schob die Dinge so, als ob der Kartellreichstag ohne jede Schuld der Regierung an den Grundlagen von Gesellschaft und Staat gerüttelt, als ob er der Krone die notwendigen Waffen der Abwehr gegen die grundstürzenden Wühlereien der Sozialdemokratie verweigert habe: dann wollte Bismarck, wenn irgendeine Teufelei seiner Spitzelgarde, wie sie deren so unzählige vollführt hat, etwa vom Kaliber des Niederwaldattentats, die nötige Stimmung gemacht hätte, mit tragischer Gebärde über den unbotmäßigen Reichstag neue Wahlen ausschreiben. Erwägt man, dass er bald nachher einmal sagte, er habe zu dieser Zeit nach einem General gesucht, der entschlossen und kaltblütig genug gewesen wäre, die Sozialdemokratie in ihrem Blute zu ersticken, so kann man nicht ohne Schaudern daran denken, was er geplant haben mag, um den alten bonapartistischen Kniff mit originaler Schlagkraft auszustatten."

Hierüber ist nun völlige Klarheit geschaffen: Bismarck hat nach höheren Lorbeeren getrachtet, als sie ihm von seinen Krüger und Stieber um das staatsmännische Haupt gewoben wurden und als selbst sein Vorbild Bonaparte je erstrebt hat. Zu Hohenlohe hat sich, nach dessen Denkwürdigkeiten, der Kaiser am 26. April 1890 dahin geäußert: „Der Kanzler wollte das Sozialistengesetz mit der Ausweisung dem neuen Reichstag wieder vorlegen, diesen, wenn er nicht annehme, auflösen und dann, wenn es zu Aufständen käme, energisch einschreiten." Hohenlohe erzählt dann weiter, der Kaiser habe sich dem widersetzt, aus Gründen, die sich dahin zusammenfassen lassen, dass Wilhelm II. eine begreifliche Abneigung dagegen empfunden habe, seine historische Laufbahn, wie Wilhelm I., als „Kartätschenprinz" zu beginnen.

Damit ist aber Bismarcks Taktik noch immer nicht bis zum Grunde aufgedeckt. Seit zwölf Jahren war die Arbeiterklasse bis aufs Blut gereizt worden, ohne dass sie sich vor die Kleinkalibrigen hätte treiben lassen; speziell hatte sie in den Faschingswahlen von 1887 gezeigt, dass sie sich auch durch die frivolste Auflösung des Reichstags nicht dazu verleiten lasse, das Spiel Bismarcks zu spielen. So fügte denn Professor Hans Delbrück vor einigen Wochen an Hohenlohes Mitteilungen die nähere Aufklärung: „Das Mittelglied, das in der Hohenloheschen Aufzeichnung fehlt und den Gedankengang erst verständlich macht, liegt auf der Hand, und ich bin auch in der Lage, es aus positiver Kenntnis zu ergänzen. Zwei verschiedene Persönlichkeiten haben mir unabhängig voneinander erzählt, dass sie aus des Fürsten Bismarck Munde vernommen hätten, er habe das allgemeine Wahlrecht beseitigen wollen, und die eine fügte sogar hinzu, dass der Fürst auch später noch gewünscht habe, um diese Aufgabe zu erfüllen und weiter nichts, noch einmal ins Amt zurückzukehren. Nur wenn man dieses Mittelglied der Aufhebung des allgemeinen Stimmrechts einschiebt, wird der Zusammenhang der Hohenloheschen Aufzeichnung verständlich." Allerdings.

Gegen diese historische Aufklärung machte natürlich sofort die edle Garde mobil, die sich heute noch von dem nährt, was ihr Bismarck nach seinem Sturze aufgebunden hat, um es zur Betörung der Massen zu verhökern: die Leute der „Hamburger Nachrichten", der „Zukunft", der „Leipziger Neuesten Nachrichten" und dergleichen mehr. Neben dem urkomischen Einwand, dass Bismarck ihnen, nachdem sein Attentat aufs allgemeine Wahlrecht vergeckt war, davon nichts erzählt habe, rüsteten sie sich namentlich, die Gewährsmänner Delbrücks mit einem Sturzbad von Klatsch und Tratsch zu überhäufen. Das ist ja die einzige oder, wenn nicht die einzige, so doch die einzig gefährliche Waffe der „Leute Bismarcks"; von ihnen gilt noch immer, was Marx einmal von den Leuten Bonapartes sagte: „Gegen Wolf und Tiger schützt Pulver und Blei, aber gegen das a posteriori des ,Skunk' ist kein Kraut gewachsen."2 Und wenn die Gewährsmänner Delbrücks in den letzten Wochen etwa die „Zukunft" gelesen haben sollten, so mögen sie Blut geschwitzt haben bei dem Gedanken, was ihrer harre, wenn ihre Namen dieser Meute preisgegeben werden sollten.

Das tut Delbrück im neuesten Hefte der „Preußischen Jahrbücher" nun aber nicht, sondern fertigt den bismärckischen Tross mit einigen lustigen Komplimenten ab, um dann aus der damaligen historischen Situation heraus zu beweisen, dass Bismarck bei dem zweideutigen Benehmen, wodurch er das Sozialistengesetz und dann sich selbst zum Falle brachte, nichts anderes bezweckt habe als das Attentat auf das allgemeine Stimmrecht, als den Staatsstreich, der ihm nach dem völligen Fiasko seiner Politik allein noch übrig blieb, wenn er überhaupt fortwursteln wollte. Beseitigt man die „tragischen" Flitter, womit Delbrück das klägliche Ende des auch von ihm bewunderten „Nationalheros" herauszuputzen sucht, so ist ihm sein Beweis durchaus gelungen, und auf Grund des von ihm beigebrachten Materials kann es nunmehr als unanfechtbare Tatsache gelten, dass Bismarck in der Tat schon die Axt an das allgemeine Stimmrecht gelegt hat, indem er das Sozialistengesetz stürzte.

Delbrück irrt allerdings darin, dass er zum ersten Mal die Tatsache zu veröffentlichen glaubt, der Kaiser habe sich mit aller Kraft für die Verewigung des Sozialistengesetzes ins Zeug gelegt. Die Tatsache ist schon vor Jahren festgestellt und niemals bestritten worden. Aber neu ist, wenn Delbrück erzählt, Bismarcks Widerspruch habe die Differenz so verschärft, dass der Kanzler bei dieser Gelegenheit die erste Andeutung erhalten habe, seines Bleibens sei vielleicht nicht mehr lange. Dennoch traten die Minister auf die Seite Bismarcks, was den Kaiser nur noch mehr erbitterte und seine Äußerung zum Großherzog von Baden veranlasste: „Das sind ja nicht meine, das sind des Fürsten Bismarck Minister." Womit übrigens das von Bismarck und seinen Leuten seit fünfzehn Jahren tot gepeitschte Märchen beseitigt ist, wonach er durch die Intrigen anderer Minister gestürzt worden sein soll.

Er stürzte vielmehr über die abenteuerlichen Konsequenzen, die aus der inneren Unvernunft seiner Politik entstanden waren. Er starb am Sozialismus, von dem er zu essen versucht hatte. Er machte sich zum blöden Toren, auch in den Augen eines Kaisers, der ihm gern gewähren wollte, die Arbeiterklasse dauernd durch ein Ausnahmegesetz zu knebeln. Mit dieser historischen Aufklärung können wir allemal zufrieden sein.

1 Zum Sturz des Sozialistengesetzes schrieb Mehring noch die Artikel „Großväter und Enkel" (Die Neue Zeit, 17. Jg. 1898/99, Erster Band, S. 129-132) und „Das Ende des Sozialistengesetzes" (ebenda, 18. Jg. 1899/1900, Erster Band, S. 673-676). Beide Aufsätze stimmen inhaltlich weitgehend mit dem entsprechenden Kapitel des 6. Buches der „Geschichte der deutschen Sozialdemokratie" überein (Bd. 2 der „Gesammelten Schriften", S. 631-652).

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