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Franz Mehring 19120302 Mrs. Partington

Franz Mehring: Mrs. Partington

2. März 1912

[Die Neue Zeit, 30. Jg. 1911/12, Erster Band, S. 801-804. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 577-579]

In der ausgezeichneten Rede, durch die Genosse Wurm die Reichstagsdebatte über das Reichsamt des Innern einleitete, kam er darauf zu sprechen, dass die Sozialdemokratie die Urheberin alles dessen sei, was sich bisher im Reiche an sozialen Reformen durchgesetzt habe. Damit ist er jedoch allen bürgerlichen Parteien ins Fettnäpfchen getreten, auch der Fortschrittlichen Volkspartei, deren Blätter sich über Wurms „kühne Behauptung" mächtig aufregen.

Ihnen stände es nun freilich am ehesten an, hübsch den Mund zu halten. Wollten wir grausam sein und hier zusammenstellen, was die großen Helden der Fortschrittspartei, die immerhin noch ganz andere Leute waren als ihre Epigonen, etwa 1865 in den Verhandlungen des preußischen Abgeordnetenhauses über die Koalitionsfrage oder 1869 in den Verhandlungen des norddeutschen Reichstags über die Gewerbeordnung zusammengeredet haben, so würde dieser gehässige Galimathias heute wie ein Echo aus dem Narrenhaus klingen. Diesen Kummer wollen wir den neuen „Freunden" lieber nicht antun, aber wenn sie sich gar zu mausig machen, so gehört sich schon ein kleiner Klaps auf ihre vorwitzigen Finger.

Es sei deshalb nur in Kürze daran erinnert, wie die Fortschrittspartei schon beim ersten Auftauchen der Koalitionsfrage im Jahre 1864 durch den würdigen Gneist die Arbeiter zu nasführen suchte, indem sie ihnen „Schutzmaßregeln" gegen den Missbrauch der Koalitionsfreiheit als notwendig einreden wollte, oder wie sie Männer vom Schlage F. A. Langes aus ihren Reihen fortekelte, weil er verlangte, dass sie eine halbwegs objektive Haltung zu der Agitation Lassalles einnehmen sollte, oder wie sie in den siebziger Jahren die so genannten „Kathedersozialisten", Professoren, die just nicht auf jedes blödsinnige Schlagwort des Manchestertums schwören mochten, den Kultusministerien denunzierte, oder wie noch in den achtziger Jahren ein großes Fortschrittslicht verwundert fragte, was denn die Arbeiter viel zu klagen hätten, da ja die Kinder der Hohenzollern auch ein Handwerk erlernen müssten, und ein noch größeres Fortschrittslicht, kein Geringerer als der große Eugen Richter, den Widerstand Bismarcks gegen den gesetzlichen Schutz der Kinderarbeit mit dem Jubelschrei begrüßte, wenn der Herr Reichskanzler immer so vernünftig sein wolle, würde er keine getreueren Mannen finden als ihn und seinesgleichen. Nun hat zwar Herr Doormann als fortschrittlicher Redner neulich im Reichstag die jahrzehntelangen Traditionen seiner Partei in dieser Frage verleugnet, aber auf dies erste leise Zeichen einer ungemein verspäteten Besserung sich nun gleich als Triebrad der Sozialreform auszuspielen, das will uns doch etwas verwegen erscheinen.

Es steht nicht anders mit den anderen bürgerlichen Parteien, auch wenn sie sich nicht mit der banausischen Beschränktheit eines Eugen Richter zu den Problemen der Sozialpolitik verhalten haben. Ja, unter gewissem Gesichtspunkte könnte man selbst sagen, dass jene banausische Beschränktheit immer noch den sentimentalen Krokodilstränen vorzuziehen sei, die die Landlords über das Elend der Fabrikarbeiter oder die Fabriklords über das Elend der Landarbeiter vergossen. Immer, wo eine bürgerliche Partei mit sozialreformatorischen Redensarten um sich geworfen hat, geschah es zu dem edlen Zwecke, dem guten Freunde und getreuen Nachbarn ein Bein zu stellen; die Wahrheit des englischen Sprichwortes, dass die Barmherzigkeit im eigenen Hause beginnt, blieb ihnen allen verborgen. Endlich die Regierung befand sich stets in gleicher Verdammnis. Sie hat wohl mit dem Feuer gespielt, solange sie es durfte, ohne sich die Finger zu verbrennen, aber sie hat das Feuer nie so weit genährt, dass auch nur der Ärmste sich ein Süpplein daran kochen konnte; erst als die Sozialdemokratie mit der Peitsche hinter sie kam, ist sie auf die Beine gekommen, und auf was für lahme und langsame Beine!

Gesetzt, es hätte nie eine deutsche Sozialdemokratie gegeben, so hätte die deutsche Gesetzgebung noch kein Atom sozialer Reformen gesehen. Und gesetzt, dass die deutsche Sozialdemokratie heute vom Erdboden verschlungen würde, so würde das ganze Gerede von der Sozialreform, worin sich die bürgerlichen Parteien heute berauschen, in demselben Augenblick für sie ein fader Scherz von vorgestern. Dies feststellen heißt nicht einmal einen sittlichen Vorwurf gegen die herrschenden Klassen richten, sondern es heißt nur, ihr historisches Wesen richtig erkennen. Noch nie hat eine ausbeutende, herrschende, unterdrückende Klasse das Los der von ihr ausgebeuteten, beherrschten, unterdrückten Klasse aus freiem Antrieb erleichtert; sie hat es immer nur getan, soweit sie es getan hat, unter dem Drucke der Ausgebeuteten, Beherrschten und Unterdrückten. Und je stärker und unwiderstehlicher dieser Druck war, um so eher hat sie sich dazu bequemt. Hätten die deutschen Arbeiter vor vierzig Jahren den Rat von Rodbertus befolgt, nur „im tiefsten Frieden" mit den herrschenden Klassen an der Hebung ihrer Klassenlage zu arbeiten, so hätten sie heute noch nicht so viel erlangt, wie ein Spatz auf der Spitze seines Schwanzes davontragen kann.

Wenn es anders keine Regel ohne Ausnahme geben soll, so muss auch diese Regel ihre Ausnahme haben, das heißt, die historische Tatsache, von der wir eben sprachen, ist eine Regel, die in aller Geschichte keine einzige Ausnahme hat. Darüber sind sich alle, auch alle bürgerlichen Historiker einig, soweit sie nicht bloß eine gewissenlose Reklame für die herrschenden Klassen betreiben, und für Deutschland hat sich bekanntlich sogar Bismarck dazu bekannt. Es hat früher wohl in der bürgerlichen Geschichtsschreibung einzelne Pracht- und Prunkstücke gegeben, durch die bewiesen werden sollte, dass herrschende Klassen freiwillig auf ihre Vorrechte verzichtet hätten, um im heroischen Schwunge ihre Klasseninteressen dem nationalen Interesse zu opfern. Aber je genauer man diese Herrlichkeiten geprüft hat, um so weniger ist von ihnen übrig geblieben. Es sei nur an das berühmteste Beispiel dieser Art erinnert, die Augustnacht der französischen Nationalversammlung von 1789, von der Genosse Cunow in seinem Buche über die Französische Revolution urkundlich nachgewiesen hat, dass sie kein leuchtender Flammenstoß antiken Heroismus, sondern eine eigensüchtige Tragikomödie gewesen ist, durch die die Junker nur preisgaben, was für sie längst verloren war, um noch zu guter Letzt die Bauern gründlich übers Ohr zu hauen.

Ist dem nun aber so, wie kommen die bürgerlichen Parteien dazu, sich als die Urheberinnen der Sozialreform aufzuspielen, die es im Deutschen Reiche gibt? Erkennt man den richtigen Zusammenhang der Dinge, so ist die Sache sehr einfach. Da sie sich nur unter einem unwiderstehlichen Drucke von außen her an solche Aufgaben begeben, so tun sie nicht mehr, als sie nach ihrer Meinung schlechterdings tun müssen; sie bemessen das Nötige aufs knappste und ganz unzulängliche Maß oder richten es in höchst unpraktischer Weise ein oder stellen gar nur ein Schaugericht her, das scheinbar die Interessen des Proletariats, tatsächlich aber die Interessen des Kapitalismus fördert. Vergebens weisen die sozialdemokratischen Abgeordneten hin auf den richtigen Weg; sie haben, solange es eine sozialdemokratische Reichstagsfraktion gibt, keine Mühewaltung gescheut, die bürgerlichen Parteien eines Besseren zu belehren, aber gewöhnlich ganz ohne Erfolg. Das erklärt sich wiederum einfach genug. Die bürgerlichen Parteien werden nur durch die Angst vor den aufrührerischen Massen gebändigt, und wo diese Angst aufhört, würde selbst die Beredsamkeit eines Demosthenes an ihren Klasseninteressen scheitern. So flicken und stückeln sie denn sozialpolitische Gesetze zusammen, die den berechtigten Forderungen der arbeitenden Klassen weitaus nicht entsprechen oder ihnen selbst überwiegend widersprechen, so dass die sozialdemokratischen Abgeordneten gezwungen sind, gegen sie zu stimmen. Und daher stammt die wunderbare Mär, dass die bürgerlichen Parteien von sozialreformatorischem Drange überfließen, ihn aber nur unter dem Widerstand der Sozialdemokratie betätigen können.

Das einzig Erfreuliche an diesem Schwindel ist, dass er auf die arbeitenden Klassen niemals den geringsten Eindruck gemacht hat. Er ist gar zu durchsichtig und schon vor achtzig Jahren, lange ehe es eine deutsche Arbeiterbewegung gab, von einem englischen Politiker in einer witzigen Parabel gebrandmarkt worden. Es handelte sich damals um die Reformbill von 1832, die von den privilegierten Klassen in ähnlicher Weise verkümmert werden sollte wie heute die sozialen Forderungen der arbeitenden Klassen, soweit sie überhaupt die Berücksichtigung der besitzenden Klassen finden, von diesen verkümmert zu werden pflegen. Daraufhin sagte Sydney Smith in einer Arbeiterversammlung in Taunton: „Im Winter 1824 gab es großen Sturm in Sidmouth, die Flut stieg zu unglaublicher Höhe, die Wellen stürzten sich auf die Häuser und bedrohten alles mit Verderben. Inmitten dieses erhabenen und furchtbaren Unwetters sah man Madame Partington, die am Strande lebte, vor der Türe ihres Hauses mit Scheuerlappen und Überschuhen das Seewasser auswringen und eifrig den Atlantischen Ozean fortfegen. Der Ozean wütete. Auch Mrs. Partington war im Zorn, aber ich brauche Ihnen nicht zu sagen, dass es ein ungleicher Kampf war. Der Atlantische Ozean schlug Mrs. Partington. Sie war unübertrefflich in einer Pfütze oder Lache, aber mit dem Sturm hätte sie sich nicht einlassen sollen. Meine Herren, seien Sie getrost, seien Sie ruhig und fest. Sie werden Mrs. Partington schlagen." Die Arbeiter hörten auf diesen Rat, und durch einige revolutionäre Stöße brachten sie die Reformbill in den Hafen.

Die bürgerliche Sozialpolitik in Deutschland ist nun auch so eine richtige Mistress Partington. Mit ihren Scheuerlappen und Überschuhen will sie diese oder jene Lache austrocknen, aber sie sollte sich nicht lächerlich machen, indem sie dadurch den Sturm der revolutionären Arbeiterbewegung überflügelt haben will.

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