Franz Mehring: Der Moabiter Prozess 7. Januar 1911 [Die Neue Zeit, 29. Jg. 1910/11, Erster Band, S. 505-508. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 525-528] Nach einer Dauer von zwei Monaten neigt sich der Prozess wegen der Moabiter Krawalle seinem Ende zu. Nachdem gegen 700 Zeugen abgehört worden sind, haben die Staatsanwälte gesprochen und ungeheuerliche Strafen gegen die Angeklagten beantragt, haben die Verteidiger in glänzenden Reden die Ungeheuerlichkeit der staatsanwaltlichen Kampagne dargetan. Es steht nur noch das Urteil des Gerichtshofs aus, das die zerschmetternde Niederlage, die die Regierung in diesem Prozess erlitten hat, einzig und allein bestätigen kann, gleichviel ob es den Anträgen der Staatsanwaltschaft folgt oder den Anträgen der Verteidigung. Denn mehr noch gilt von diesem Prozess als ehedem von dem Kölner Kommunistenprozess: Die Angeklagten freisprechen heißt die Regierung verurteilen, während die Verurteilung der Angeklagten nur das letzte und grellste Licht auf die krampfhaften Anstrengungen werfen würde, womit die Regierung auf den Gerichtshof gedrückt hat, um ihn zu beeinflussen: von der berufenen Rede des Reichskanzlers im Reichstag bis zu der offiziellen Verkündigung des reichen Ordenssegens, der sich über die Polizeibeamten ergossen hat, die in diesem gerichtlichen Verfahren durch einwandfreie Zeugen der unverantwortlichsten und widergesetzlichsten Handlungen überführt worden sind. Für jeden, der die preußische Geschichte auch nur einigermaßen kennt, ist das Gerede von der Unabhängigkeit der preußischen Richter längst abgetan; immerhin aber wird sich auch aus der preußischen Geschichte schwer ein Beispiel nachweisen lassen, wo der Druck von oben so ungeniert gehandhabt worden ist wie in diesem Falle. Dass sie dadurch selbst das gerichtliche Urteil, falls es in ihrem Sinne ausfällt, von vornherein vollständig entwerten, das ist ein Gedanke, der borussischen Bürokraten- und Polizeiseelen vollkommen fern liegt. Sie bilden sich ein, mit einem „unparteiischen Richterspruch" alle ihre Sünden aus der Welt schaffen zu können, und wenn man auch ihnen gerecht werden will, so muss man anerkennen, dass sie damit bei den deutschen Spießbürgern allzu lange Glück gehabt haben. Über den Kölner Kommunistenprozess konnte Marx noch schreiben: „Das nachträgliche liberale Geheul über eine Reaktionsepoche ist stets um so lauter, je maßloser die liberale Feigheit war, die der Reaktion das Feld jahrelang unbestritten überließ. So scheiterten zur Zeit des Kölner Prozesses alle meine Versuche, Stiebers Trugsystem in der liberalen preußischen Presse bloßzulegen."1 In dieser Beziehung ist nun allerdings ein gewisser Fortschritt zu verzeichnen. Der Krug, der so lange zu Wasser gegangen ist, beginnt nun doch zu zerbrechen; auch den liberalen Philistern, die sich allzu lange haben übertölpeln lassen, gehen endlich die Augen auf, und unter ihnen ist die Empörung über die Enthüllungen des Moabiter Prozesses vielleicht noch größer als unter den Arbeitern, die die preußische Polizei zu gut und zu lange kennen, um sich über ihre nackte Schönheit allzu sehr zu entsetzen. Im Allgemeinen stirbt die Reaktion nicht an der sittlichen Entrüstung des biederen Bürgersmannes. Das weiß sie selbst nur allzu gut. Aber es gibt auch hier gewisse Grenzen, die Lassalle einmal mit den drastischen Worten gekennzeichnet hat, wenn die Regierung ein Gesetz erlassen wollte, das den Diebstahl nicht am Diebe, sondern am Vater des Diebes strafe, so würde das im Winde wogende Schilf der so genannten öffentlichen Meinung sich wohl als eine unzerbrechliche Mauer des Widerstandes erweisen. Man kann diese Grenzen noch ein wenig enger ziehen als Lassalle und etwa sagen, dass auch der friedfertigste Patriot rebellisch wird, wenn er nicht nur sich selbst, sondern auch seine Frau und Kinder von infamen Lockspitzeln umgarnen und von brutalen Säbeln niedermetzeln lassen soll, auf dass sein höchst berechtigter Groll über die Plünderungspolitik des Schnapsblocks in eine wilde Hetzjagd auf die schärfsten und stärksten Gegner dieser Plünderungspolitik abgelenkt werde. Hierin möchten wir das unterscheidende Kennzeichen des Moabiter Prozesses von den zahlreichen Vorgängern erblicken, die er in der preußischen Geschichte hat. Die polizeilichen Listen und Künste, die in ihm enthüllt wurden, sind nicht neu und oft schon dagewesen, wenn auch vielleicht nicht in ihrer Quantität, so doch in ihrer Qualität. Auch das Lockspitzelwesen ist eine ständige Eigentümlichkeit des preußischen Staatswesens, seitdem der fromme Friedrich Wilhelm IV. es zum ersten Male einsegnete für den Kölner Kommunistenprozess. Aber dass diese Listen und Künste auch beim schläfrigsten Philister nicht mehr verfangen, das ist ein erfreulicher Fortschritt; dass eine mit allen offiziellen Mitteln und Mittelchen eingeleitete Haupt- und Staatsaktion unter allgemeinem Hohngelächter endet, zeigt den braven Bürger, der absolut sei' Ruh' haben will, doch schon, wie er seine Schlafmütze lüftet, um sich nachdenklich am Kopfe zu krauen. Die Größe der Niederlage, die das borussische Regierungssystem durch den Moabiter Prozess erlitten hat, verrät sich nicht zum wenigsten darin, dass seine Urheber jetzt heftig ableugnen, der Sozialdemokratie an den Kragen gewollt zu haben. Um alles in der Welt möchten sie vertuschen, dass sie in eine Grube gefallen sind, die sie anderen gegraben haben, dass Untreue den eigenen Herrn geschlagen hat und wie diese Sprüche uralter Volksweisheit sonst noch lauten, die Herr v. Bethmann über seinen philosophischen Studien ganz vergessen zu haben scheint. Aber es gelingt nicht und kann auch nicht gelingen, denn noch trieft ja von den Stirnen all dieser Staatsmänner der Schweiß der Strapazen, womit sie die „Verbindung" zwischen den wirklichen oder auch nur angeblichen Vergehen der Angeklagten hergestellt haben, um sie vor eine Strafkammer zu bringen, die in dem begründeten oder unbegründeten Rufe besonderer „Zuverlässigkeit" steht. Wenn alles das, was sich eben vor aller Augen abgespielt hat und noch aus niemandes Gedächtnis geschwunden sein kann, nun auf einmal nicht wahr sein soll, so kann man daraus ermessen, wie zerschmettert die würdigen Retter des Vaterlandes sich selbst fühlen. Dass sie aus ihren trüben Erfahrungen lernen werden, steht freilich nicht zu erwarten. Und es wäre auch durchaus nicht zu wünschen. Sowenig wie die preußische Wirtschaft vor Jena kann die preußische Wirtschaft von heute Reformen vertragen; sie muss gebrochen und zertrümmert werden, und wenn sie sich selbst auf den Standpunkt stellt: Je toller, um so besser!, so haben wir allen Anlass, ihr unseren Segen mit auf den Weg zu geben. Und der Weg geht recht hübsch bergab, wenn wir nur auf die letzten Wochen blicken. Ein freisinniger Politiker, der im Kampf um sein gutes Recht einen pommerschen Landrat auf die junkerlichen Hühneraugen getreten hat, wird zu einem Jahre Gefängnis verurteilt sowie zu sämtlichen Gerichtskosten, die sich auf 50.000 Mark belaufen; ein Geistlicher, der die seiner Fürsorge anvertrauten Kinder gepeitscht hat, wie nie ein Sklavenvogt seine Sklaven peitschte, erhält nur acht Monate Gefängnis; ein adliger Fahnenjunker, der in nervöser Schneidigkeit einen armen und völlig schuldlosen Familienvater niedergeknallt hat, wird gar freigesprochen. Verböte es nicht das einfachste menschliche Mitgefühl mit den Angeklagten, die entweder völlig unschuldig sind oder für überaus leichte Vergehen durch das langwierige Prozessverfahren schon überhart gestraft sind, man möchte wünschen, dass in dem Moabiter Prozess die Bluturteile gefällt würden, die der Staatsanwalt verlangt, derweil die drei- oder zehnmal so Schuldigen den Gerichtssaal verlassen, mit Orden geschmückt, deren flittriger Glanz doch nicht das echte rote Blut zu verbergen vermag, womit ihre Kleider gefärbt sind. Für diesen Hinweis ist Genosse Rosenfeld als Verteidiger der Angeklagten mit einer Ungebührstrafe von 100 Mark belegt worden. Für eine bittere Wahrheit immerhin ein billiger Preis, aber der Zwischenfall zeigt aber- und abermals, dass unsere Bürokratie nichts lernt und nichts vergisst. So war sie immer; taub gegen ihre eigenen Sünden, und wenn sie zum Himmel schreien, jedoch von mimosenhafter Empfindlichkeit gegen den, der das Messer der Kritik an ihre Sünden legt. Was sie damit bekundet, ist nicht ihr Selbst-, sondern ihr Schuldbewusstsein, und mit den 100 Mark, die sie vom Genossen Rosenfeld einzieht, unterstreicht sie nur hundertmal das, was er gesagt hat. Aber noch einmal – möge sie nur auf diesem Wege weiterwandeln! Wäre sie besserungsfähig, umso besser für sie; ist sie nicht besserungsfähig, umso besser für uns! Sollten wir durch diese frommen Wünsche eine „moralische Mitschuld" an ihrem Untergang auf uns laden, so bekennen wir uns dazu gern. Die Schuld aber an den Moabiter Krawallen fällt allein auf die Schultern der Regierung, von ihrem Haupte bis zu ihren letzten Gliedern, vom Philosophen Bethmann Hollweg bis zu jenen würdigen Patrioten, die ihre Knüppel schwangen und „Bluthunde" schrien, aber mit dem Sesam-Worte: Halt, Kollege! den für Thron und Altar gezogenen Säbel der wackeren Schutzmannschaft wieder in die Scheide bannten. |
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