Franz Mehring: Buridans Esel 19. November 1910 [Die Neue Zeit, 29. Jg. 1910/11, Erster Band, S. 241-244. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 517-520] Wenn es in unseren trüben Zeitläuften einen halbwegs erheiternden Anblick gibt, so ist es die politische Taktik der liberalen Bourgeoisie. Durch die traurige Politik eines halben Jahrhunderts hat sie sich so tief heruntergebracht, dass sie auf ihre eigene Kraft nicht mehr trauen darf, aber ob sie nun rechts oder links ihre Bundesgenossen suchen soll, das ist die Frage, die ihr verzweifeltes Kopfzerbrechen verursacht, und wie Buridans Esel zwischen zwei Bündeln Heu, steht sie schwankend und unschlüssig, jeder eigenen Willenskraft beraubt. Für ihre Verhältnisse ist das in gewissem Sinne allerdings schon ein Fortschritt. So über alles Maß heruntergekommen ist sie eben dadurch, dass sie seit den Märztagen von 1848 ohne langes Besinnen immer auf die rechte Seite fiel. Aus Angst vor dem Proletariat, das zunächst gar nichts anderes begehrte, als ihr selbst die Kastanien aus dem Feuer zu holen, spielte sie immer wieder das Spiel der Krone und der Junker, die nie an etwas anderes gedacht haben, als ihr den Daumen aufs Auge zu drücken. Alle Mahnungen und Warnungen, diese selbstmörderische Politik aufzugeben, prallten wirkungslos an einer Beschränktheit ab, die sich stolz mit dem „Kampfe gegen zwei Fronten" brüstete, während sie tatsächlich zwischen zwei Mühlsteinen zerrieben wurde. In diesem nicht tragischen, aber allerdings sehr trübseligen Schicksal hat die liberale Bourgeoisie nun endlich ein Haar gefunden. Die Junker haben in ihrer dreisten und gottesfürchtigen Art den Bogen so überspannt, dass ihre Herrschaft als ein allzu drückendes Joch auch von ihren bisher getreuesten Helfershelfern empfunden wird. Die braven Liberalen sehen endlich ein, dass die famose „Sammelpolitik", die Vereinigung aller „ordnungsliebenden" Elemente zum Schutze von Thron und Altar, nichts als ein Mittel gewesen ist, sie selbst über den Löffel zu barbieren. Im Hansabund haben sie eine ähnliche kampffähige und kampftüchtige Organisation auf die Beine zu bringen gesucht, wie die Junker im Bunde der Landwirte besitzen, und wenn anders zum Kriegführen Geld, Geld und abermals Geld gehört, so ist der Hansabund gewiss für noch so langwierige Feldzüge gerüstet. Und wie Odysseus gegen den Sang der Sirenen, verstopft er seine Ohren einstweilen gegen die holde Melodie der „Sammlungspolitik", so eifrig ihn auch die „Kreuz-Zeitung", die „Deutsche Tageszeitung" und andere Organe des Junkertums deshalb des schnödesten Verrats an allen heiligen Gütern des Vaterlandes bezichtigen. Das ist insoweit anzuerkennen. Aber von da bis zu einer ehrlichen und konsequenten Politik ist noch ein weiter Weg. Wenn die liberale Bourgeoisie aus guten Gründen den Geschmack daran verloren hat, immer auf die rechte Seite zu fallen, so hat sie noch lange nicht den Geschmack daran gelernt, zur linken Seite abzuschwenken. Es ist wahr, dass die Sibyllinischen Bücher seit sechzig Jahren wesentlich im Preise gestiegen sind; die Arbeiterklasse ist weit entfernt davon, der Bourgeoisie die uneigennützigen Dienste zu leisten, die sie ihr im Jahre 1848 und selbst noch im Jahre 1863 zu leisten bereit war. Ein Sieg der Bourgeoisie, an dem nicht das Proletariat seinen vollgerüttelten und -geschüttelten Anteil hat, ist für alle Zukunft unmöglich, und dies ist beiläufig auch der Grund, weshalb die heutige Bourgeoisie einen so ehrlichen und tiefen Abscheu vor Revolutionen hat. Ehedem, als sie noch die ganze Beute bis auf den letzten Heller einstreichen und das Proletariat, das ihren Sieg erkämpft hatte, mit Kartätschen abspeisen konnte, hat sie diesen Abscheu nie gekannt. Aber bei alledem – da sie aus eigener Kraft nicht siegen kann, so muss sie sich zwischen rechts und links entscheiden, und es ist possierlich, zu sehen, wie sie sich in dieser Zange dreht und windet. Herr Rießer, der Vorsitzende des Hansabundes, hat jüngst in einer Rede ausgeführt, dass er und die Seinen nur „unter ganz bestimmten Bedingungen" den „Sammlungsaufruf" unterschreiben könnten. Das „Bürgertum" müsse die Bürgschaft haben, dass es nach erfochtenem Siege – nämlich über den „Umsturz" – nicht um die Früchte des Sieges betrogen, dass nicht „die frühere Politik" vielleicht „mit verdoppeltem Ungestüm" fortgesetzt, sondern dass eine „gerechte Politik" getrieben werden würde. Da Herr Rießer als hervorragender Politiker sicher so viel wissen wird, wie jedem Spatzen bekannt ist, dass nämlich das Junkertum, seit es durch die „Sammlungspolitik" wieder das Heft in die Hand bekommen hat, die „frühere Politik" mit allem „Ungestüm" fortsetzen wird, so sollte man meinen, dass er mit der Phantasmagorie, die er an die Wand malte, nur seinen Linksabmarsch habe etwas pompös dekorieren wollen. In der Tat meint die reaktionäre Presse, Herr Rießer habe sich durch diese Rede die Sozialdemokratie warm halten wollen, um sie als Kampfgenossen zu gewinnen. Allein Buridans Esel dreht den Kopf nur nach links, um ihn alsbald wieder nach rechts zu drehen. Er hat nicht nur nach rechts, sondern auch nach links seine „Bedingungen" zu stellen, die das „Berliner Tageblatt", ein Hauptorgan des Hansabundes, in den schnarrenden Kommandoruf zusammenfasst: Ruhe im Glied! Nämlich die Sozialdemokraten müssen Ruhe halten, wenn sie anders der Ehre gewürdigt werden sollen, die Kandidaten des Hansabundes bei den nächsten Wahlen herauszuhauen. Das „Berliner Tageblatt", das sich etwas darauf zugute tut, die gemeine Philisterangst vor dem „roten Gespenst" abgestreift zu haben, fühlt sich durch die polizeilichen Exzesse in Moabit, über die augenblicklich vor dem hiesigen Landgericht verhandelt wird, und durch das Gerücht, dass irgendwo hinten in der Polackei Herr v. Heydebrand angeblich durch einige Arbeiter molestiert worden sein soll, dermaßen beunruhigt, dass es die Sozialdemokratische Partei im Kasernenhofstil anfährt, solche Dinge dürften nicht vorkommen, wenn nicht, ja, wenn nicht in den nächsten Wahlen die liberale Bourgeoisie in geschlossener Front – wie ohne dieses! – gegen sie mobil machen solle. Immerhin hat diese gloriose Drohung nicht nur eine sehr komische, sondern auch eine etwas ernsthafte Seite. Es hieße Wasser in die Spree tragen, wenn hier erst nachgewiesen werden sollte, dass ein Wahlbündnis zwischen Liberalismus und Sozialdemokratie, bei dem jener sich erlauben dürfte, den anmaßenden Schulmeister über diese zu spielen, ein für allemal ausgeschlossen ist. Was aber möglich und, da beiden Teilen am Sturze der Junkerherrschaft gelegen sein muss, auch nützlich ist, das wäre ein friedlich-schiedliches Abkommen für gegenseitige Unterstützung bei den Stichwahlen. Das ist von sozialdemokratischer Seite hundertmal gesagt worden, und von dieser Seite liegt gar kein Hindernis vor, ein solches Abkommen praktisch durchzuführen. Anders auf liberaler Seite, selbst wenn man bei ihr den ehrlichen Willen voraussetzt, auf ein solches Übereinkommen einzugehen. Wie oft ist namentlich vom Freisinn, wenn ihm seine Gewohnheit, bei Stichwahlen lieber den reaktionären als den sozialdemokratischen Kandidaten zu wählen, zum Vorwurf gemacht wurde, darauf erwidert worden: Ja, wenn die Führer auch wollten, die liberalen Wähler stimmen nun einmal nicht für sozialdemokratische Kandidaten; gegen diese force majeure ist nichts zu machen. Unter diesen Umständen gehörte es zu den ersten Pflichten der liberalen Bourgeoisie, soweit es ihr wirklich um einen ernsthaften Kampf gegen das Junkertum zu tun ist, ihren Wählern die philisterhaften Vorstellungen vom „roten Gespenst" zu benehmen. Aber das „Berliner Tageblatt", das sich so erhaben dünkt über diese Vorstellungen, weiß nichts Besseres zu tun, als sie durch seinen drohenden Hinweis auf den Moabiter Krawallprozess zu befestigen. Wenn man anders wieder voraussetzen darf, dass diesem hervorragenden Organ des Hansabundes so viel bekannt ist, wie jeder Spatz vom Dache pfeift, so muss es wissen, dass der Moabiter Krawallprozess nicht angestrengt worden ist, um die Arbeiterbewegung zu schädigen – denn so viel haben auch die Bethmann und die Jagow nachgerade gelernt, dass die sozialdemokratische Agitation durch solche Prozesse nur gekräftigt wird –, sondern um die Philister vor der Arbeiterbewegung kopfscheu zu machen. Und diesen edlen Zweck zu fördern, hält sich dasjenige freisinnige Blatt für berufen, das sich wer weiß wie viel darauf zugute tut, nicht mehr das Brett vorm Kopfe zu tragen, das die Stirn von Eugen Richters sei. Erben schmückt! Es ist in der Tat ein Elend mit Buridans Esel; er kann den Kopf nicht nach links wenden, ohne ihn sofort wieder nach rechts zu drehen. Inzwischen hat der Moabiter Krawallprozess unter allen seinen bemerkenswerten Seiten nicht zuletzt auch die, gewissermaßen eine Generalprobe für die nächsten Wahlen zu sein. Eine plumpe Wahlmache der Reaktion, ist er eben dadurch ein Prüfstein für die liberale Bourgeoisie geworden, die nicht vergessen haben sollte, dass einst das Sozialistengesetz das Proletariat nur gestählt, aber sie selbst entnervt hat. Bringt es Buridans Esel gegenüber diesem Prozess nur zu einem bedachtsam-staatsmännischen Schütteln seiner langen Ohren, so kann man mit tödlicher Sicherheit darauf rechnen, dass er bei den nächsten Wahlen wieder zur Rechten treten wird. |
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