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Franz Mehring 19060119 Unsere Antwort

Franz Mehring: Unsere Antwort

19. Januar 1906

[ungezeichnet, Leipziger Volkszeitung Nr. 15, 19. Januar 1906. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 132-134]

Die Polizei ist die Seele des Bürgertums und aller guten Ordnungen.

Zar Peter I.

Wenn der Leipziger Oberstaatsanwalt sein Handwerk recht verstünde, so würde er jetzt gegen Herrn Bretschneider, den Polizeidirektor der Stadt Leipzig, das Verfahren wegen Vergehens gegen Paragraph 130 des Strafgesetzbuchs einleiten, denn eine stärkere, den öffentlichen Frieden mehr gefährdende Art und Weise, verschiedene Klassen der Bevölkerung gegeneinander öffentlich aufzureizen, als sich das Leipziger Polizeiamt durch sein neuestes Versammlungsverbot geleistet hat, können wir uns schlechterdings nicht denken. Was sind unsre schönsten Leitartikel doch für elende Stümpereien im Vergleich zu den Beiträgen, die das Leipziger Polizeiamt für unser Blatt leistet! Es versteht sich daher, dass wir diesen Kabinettstücken der Volksaufreizung stets die erste Seite der „Leipziger Volkszeitung" einräumen. Wissen wir doch, dass wir unsre Aufgabe, die Leipziger Arbeiterschaft aufzurütteln, niemals wirkungsvoller erfüllen, als wenn wir Herrn Bretschneider das Wort geben, der schon seit Wochen zu unsern bevorzugtesten Mitarbeitern gehört.

Um zu seiner Vergewaltigung der Leipziger Arbeiterklasse zu kommen, musste das Polizeiamt erst die Logik und den gesunden Menschenverstand vergewaltigen. Wir hatten in dem Aufruf vom letzten Sonnabend auseinandergesetzt, dass die sächsische Arbeiterklasse ihren kleinen Kampf gegen das sächsische Landtagswahlunrecht mit derselben Hingabe, Opferfreudigkeit und Entschlossenheit führen werde wie die russische Arbeiterklasse ihren großen Kampf gegen den Zarismus. Was macht das Leipziger Polizeiamt daraus? Es behauptet, dass wir „demnach" – dieses „demnach" ist ein prächtiges Beispiel für die sächsische Polizeilogik! – die Versammlungsbesucher zur gewaltsamen Umänderung des Landtagswahlrechts nicht nur, sondern überhaupt der Staatsverfassung auffordern wollten! Das ist nun zum Entzücken gar. Wenn wir sagen, die Leipziger Polizei vertritt die Sache der sächsischen „Ordnung" mit genau derselben Hingabe und Entschlossenheit wie die russische Polizei die Sache der russischen „Ordnung", sagen wir damit, dass die Leipziger Polizei mordet und stiehlt, sich an die Spitze der schwarzen Banden stellt, die Judenhäuser plündert und Frauen vergewaltigt? –

Doch die Gewalt war niemals stark in der Logik, und wie einst Kaiser Sigismund sich als erhaben über die Regeln der lateinischen Grammatik erklärte, eben weil er Kaiser sei, so erklärt sich die Leipziger Polizei als erhaben über die Regeln der menschlichen Vernunft, eben weil sie Polizei ist. In demselben Atemzuge, mit dem sie erklärt, die „Leipziger Volkszeitung" reize zu offener Gewalt auf, muss sie erklären, die „Leipziger Volkszeitung" reize nicht zu offener Gewalt auf. Aber, fügt sie hinzu, das „ändert an der Sachlage nichts". Natürlich! Wie könnte denn für die Leipziger Polizei der Umstand etwas an der Sachlage ändern, dass in der Volkszeitung just das Gegenteil von dem drin steht, was sie herausliest. So haben bisher noch immer die Gewalthaber argumentiert, in deren Augen es kein größeres Verbrechen für den Beschuldigten gab, als eben das – kein Verbrechen begangen zu haben.

Hat somit dies neueste Polizeiopus an logischem Gewicht noch nicht einmal die Schwere des Papiers, auf dem es geschrieben, so wiegt es allerdings in sozialer Hinsicht umso schwerer. Es bedeutet die Aufhebung des Versammlungsrechts für die Arbeiterschaft Leipzigs. Und hier zeigt sich deutlich, mit welcher unwiderstehlichen Kraft die angeblichen Gesetzeswächter von einer Ungesetzlichkeit zur andern gedrängt werden, wie sie die bestehende Ordnung nur schützen können, indem sie ununterbrochen gegen diese Ordnung verstoßen. Die ursprüngliche Gesetzmäßigkeit war das alte Wahlrecht zur sächsischen Kammer. „Diese Gesetzmäßigkeit tötet uns!" schrien die Vertreter der „Ordnung", und durch einen Federstrich stieß man die gesamte alte Ordnung um. Die arbeitenden Klassen protestierten dagegen durch ruhige gesetzmäßige Straßendemonstrationen. „Diese Gesetzmäßigkeit tötet uns!" schrien die Vertreter der „Ordnung" von neuem, und von neuem stieß man die bisherige Gesetzmäßigkeit um. Man erklärte, was in allen Ländern unter der Sonne erlaubt ist, ist bei uns verboten, und man stellte allenthalben „Schutz"leute auf, mit deren Hilfe es bald gelang, aus friedlichen Straßendemonstrationen gewaltsame Zusammenstöße zu machen. Die Arbeiter verzichteten auf diese Demonstrationen und beschränkten sich auf gesetzmäßige Versammlungen. „Diese Gesetzmäßigkeit tötet uns!" schrien die Vertreter der Gesetzmäßigkeit zum dritten Mal, und zum dritten Mal stieß man die bisherige Gesetzmäßigkeit um. So wurden die bürgerlichen Helden von 1896, die auszogen, um die Gesetzmäßigkeit zu retten, Schritt für Schritt gezwungen, die Gesetzmäßigkeit zu opfern, sie konnten die Ordnung nur retten, indem sie sie vernichteten, die grundlegendsten Gesetze zerrissen und an ihre Stelle die Diktatur des Polizeisäbels proklamierten. Kann man sich eine prächtigere Illustration des bekannten Wortes von Friedrich Engels denken: „Die Ordnungsparteien, wie sie sich nennen, gehen zugrunde an dem von ihnen selbst geschaffenen gesetzlichen Zustand. Sie rufen verzweifelt mit Odilon Barrot: la légalité nous tue, die Gesetzlichkeit ist unser Tod, während wir bei dieser Gesetzlichkeit pralle Muskeln und rote Backen bekommen und aussehen wie das ewige Leben. Und wenn wir nicht so wahnsinnig sind, ihnen zu Gefallen uns in den Straßenkampf treiben zu lassen, dann bleibt ihnen zuletzt nichts anderes, als selbst diese ihnen so fatale Gesetzlichkeit zu durchbrechen".1 – Diese Worte wurden im Jahre 1895 geschrieben. Ein Jahr später trat in Sachsen bereits das ein, was Engels als letztes Stadium der Klassenherrschaft bezeichnet: Die „fatale Gesetzlichkeit" wurde von den herrschenden Klassen durchbrochen.

Wo aber bleibt die „sittliche" Grundlage des Rechtsstaates, wenn die regierenden Schichten auf diese Weise selber vor aller Welt eingestehen, dass sie das bestehende Recht nur so lange achten, wie es ihnen passt? Hat nicht auch Fürst Bülow erst vor wenigen Tagen im Reichstage erklären lassen, die Gesetze seien nur für die große Masse da, er und seine Standesgenossen nähmen jederzeit das Recht für sich in Anspruch, sie zu übertreten? Und da glaubt man, die Arbeiter würden aus dieser Situation nicht die Konsequenzen ziehen? Natürlich nicht in dem Sinne, dass sie etwa den immerwährenden Rechtsbruch von oben mit einem immerwährenden Rechtsbruch von unten beantworten würden. Im Gegenteil! Je brutaler die Gewalthaber Recht und Gesetz misshandeln, desto unerschütterlicher wird die Arbeiterklasse auf dieses Recht und Gesetz bestehen, desto leichter wird ihr der Beweis sein, dass die Ordnungsleute die eigentlichen Umsturzleute sind, dass die Majestät des Gesetzes von heute sich in die Dirne der Gewalt von morgen verwandelt und dass die Behörden des „Rechtsstaates" keine andern Funktionen haben, als die gesetzmäßigen Proteste der ausgebeuteten Massen gegen die Rechtsbrüche dieses „Rechtsstaates" mit Gewalt niederzuhalten.

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