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Franz Mehring 19060502 Steigende Angst

Franz Mehring: Steigende Angst

2. Mai 1906

[Die Neue Zeit, 24. Jg. 1905/06, Zweiter Band, S. 177-180. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 163-166]

Das Maifest hat in diesem Jahre alle Erwartungen erfüllt, mit denen man ihm entgegensehen durfte; es ist allgemeiner und begeisterter gefeiert worden als jemals früher, und nicht zum wenigsten durch die würdigste Art seiner Feier, durch die Arbeitsruhe. Nunmehr sind hoffentlich alle Anfechtungen beseitigt, die es aus Arbeiterkreisen selbst erfahren hat, und um die Spöttereien der bürgerlichen Welt braucht man sich nicht zu kümmern. Sie sind völlig gleichgültig oder in dem für sie günstigsten Falle ein Beweis mehr dafür, dass die Maifeier marschiert.

Um überhaupt davon zu reden, so ist es ein bemerkenswertes Zeichen der Zeit, dass der Ton der bürgerlichen Presse gegen die Sozialdemokratie gemeiner ist als jemals früher, vielleicht die ersten Jahre der Arbeiterbewegung abgerechnet, wo der biedere Bürgersmann in ihr überhaupt nur einen Wust von Nichtswürdigkeit und Unverstand sah. Mindestens aber seit Erlass des Sozialistengesetzes und namentlich seit Aufhebung dieses Gesetzes haben die bürgerlichen Gegner nicht in so niedriger Weise gekämpft wie nunmehr schon seit geraumer Zeit. Die Verfolgung von Parteiangehörigen durch die Justiz und die Polizei hat freilich wohl niemals die Seelenruhe der Patrioten beeinträchtigt und mag sie auch früher schon heimlich erfreut haben. Jedoch ehedem wahrten sie wenigstens den äußeren Schein und prunkten nicht mit ihrer Schadenfreude einher; ja sie erhoben wohl einen platonischen Protest gegen gar zu unbeschämte Leistungen der Klassenjustiz, schon aus Rücksicht an der Selbsterhaltung. Alles das hat jetzt vollständig aufgehört, und von allen bürgerlichen Pressorganen beobachtet, soviel wir sehen, nur die „Frankfurter Zeitung" in dieser Beziehung noch eine gewisse Rücksicht.

Die einzige Kampfmethode, worin sich die Gegner noch gefallen, ist die persönliche Schmähung einzelner Parteimitglieder, in dem persönlichsten Sinne des Wortes. Würde dabei ein wenig Witz aufgewandt, so müsste man gern mit sich reden lassen, denn man braucht keineswegs für eine übertriebene Zimperlichkeit des politischen Kampfes zu schwärmen.

Ganz im Gegenteil! Allein was soll man dazu sagen, dass bürgerliche Organe die Person der Genossin Zetkin mit blöden Schimpfworten überschütteten, als eine – glücklicherweise stark übertriebene – Nachricht von ihrer drohenden Erblindung in die Öffentlichkeit gelangte? Noch ärger ist der Genossin Luxemburg mitgespielt worden. Während sie längst in Warschau war, wurde sie monatelang in der bürgerlichen Presse verhöhnt wegen ihrer angeblichen Feigheit, die sie hinter dem sicheren Ofen in Berlin sitzen ließe, und als dann die Nachricht kam, dass sie in die Hände der russischen Henker gefallen sei, ging ein Geschimpfe und ein Getobe los, von dem man ohne jede Übertreibung sagen darf, dass es noch die schmutzigste Revolverpresse entehrt hätte. Gleichwohl als das Gothaer Parteiblatt eines dieser edlen Organe mit dem Namen nannte, der ihm gebührte, wurde es gar noch vom Staatsanwalt belangt wegen „Beleidigung" eines Subjekts, das seinen patriotischen Sinn nicht anders zu betätigen wusste als durch verleumderische Nachreden gegen eine wehrlose Gefangene.

Doch genug dieser Einzelheiten, so reichlich sie sich vermehren ließen. Es versteht sich, dass sie hier nicht vorgebracht werden im Sinne irgendeiner Beschwerde über eine Kampfweise, die denen zur Ehre gereicht, gegen die sie sich richtet. Wir weisen nur darauf hin als auf ein charakteristisches Zeichen für die zunehmende Schärfe des Kampfes, den die Bourgeoisie gegen das Proletariat führt, eine Schärfe, die sich gemäß dem historischen Wesen der Bourgeoisie eben als wachsende Verrohung geltend machen muss. Diese Verrohung ist umso charakteristischer, je mehr sie sich auch in Organen der bürgerlichen Presse zu zeigen beginnt, die im Kampfe mit der Sozialdemokratie bisher ein gewisses Maß von sachlicher Haltung zu beobachten gewohnt waren. Auch ihnen betäubt mehr und mehr die Angst vor der steigenden Flut die letzten Regungen des Gewissens und der Scham, und sie bequemen sich nachgerade auch zum Gebrauch von Waffen, die nur Schelme führen und von denen nur Narren annehmen können, dass sie treffen und verwunden.

In anderer Weise zeigt sich dieselbe Erscheinung bei der Nachwahl in Darmstadt-Gerau. In den Händen der Vereinigten Liberalen (Demokraten, Freisinnige, Nationalsoziale) liegt hier die Entscheidung zwischen dem sozialdemokratischen und dem angeblich nationalliberalen, tatsächlich reaktionären Kandidaten. Die Führer der Vereinigten Liberalen haben sich nun entschlossen, zur Stimmabgabe für den sozialdemokratischen Kandidaten aufzufordern: Natürlich nicht aus Liebe für die Sozialdemokratie, sondern, wie sie in einem ganz verständigen Aufruf darlegen, weil der nationalliberale Kandidat ein Gegner des allgemeinen Stimmrechtes ist und in allen praktischen Fragen, die den Reichstag bis zum Ablauf der gegenwärtigen Legislaturperiode beschäftigen werden, mit den Reaktionären stimmen würde, während ihnen der sozialdemokratische Kandidat für das Gegenteil alle wünschenswerten Bürgschaften bietet. Fern von jeder sentimentalen Schwärmerei für die Sozialdemokratie, wollen sie ihre eigenen Parteiinteressen wahren, was nicht nur ihr gutes Recht, sondern auch ihre verdammte Pflicht ist.

Hiergegen erhebt sich aber die freisinnige Presse mit donnerndem Protest. Selbst die „Vossische Zeitung", die immerhin zu den besseren ihrer Art gehört, überschlägt sich fast jeden Tag in schönem Zorn über die freiheits- und vaterlandsverräterische Taktik der Vereinigten Liberalen in Darmstadt-Gerau. Sie verlangt Abstimmung für den reaktionären Kandidaten, nicht weil sie sich über dessen reaktionäre Gesinnung irgendwie täuschte, sondern um die kindischen Vorurteile nicht zu verletzen, die in den Köpfen der bürgerlichen Philister über die Sozialdemokratie spuken. Wie könne man mit der Parole, für einen sozialdemokratischen Kandidaten zu stimmen, den Fabrikanten, den Kaufmann, den Handwerker, den Intellektuellen an die Wahlurne bringen? Es ist dieselbe geistreiche Redensart, womit ehedem Eugen Richter die freisinnigen Mannen regelmäßig bei Stichwahlen in den reaktionären Heerhaufen einschwenken ließ. Was wir beim Tode Eugen Richters sagten, dass er nicht die Freisinnige Partei nach seinem Ebenbild geschaffen, sondern dass sie ihn zu ihrem Führer gewählt habe, weil sie in ihm ihr treffendstes Ebenbild sah, findet schnelle Bestätigung. Der „Kampf gegen zwei Fronten" war nicht Richters individuelle Schrulle, sondern er ist die verheuchelte Formel der in jeder deutschen Philisterbrust schlummernden, aber schon von Lassalle enträtselten Sehnsucht: Lieber den Despotismus als die Revolution!

Nun ist keineswegs ausgeschlossen, dass der Sturm sittlicher Entrüstung, der sich gegen die Wahlparole der Vereinigten Liberalen in Darmstadt-Gerau erhoben hat, schon bei der demnächstigen Wahl in diesem Kreise seine Wirkung ausüben und den Sieg des reaktionären Kandidaten entscheiden wird. Aber auch im anderen Falle würde nur ein Ausnahmefall vorliegen, nach allem, was in letzter Zeit aus den freisinnigen Reihen laut geworden ist. Es ist eine winzige Minderheit des Freisinns, die den berufenen „Kampf gegen zwei Fronten" aufgeben und den deutschen Liberalismus dadurch zu neuem Leben erwecken will, dass sie in erster Reihe die Reaktion bekämpft, auch auf die Gefahr hin, dabei auf derselben Seite kämpfen zu müssen wie die Sozialdemokratie. Das höchste, was sie erreichen kann, ist nicht die Sammlung aller liberalen Elemente um ihre Fahne, sondern die Schaffung eines neuen liberalen Fraktiönchens, das unter den drei oder vier, die wir schon haben, sicherlich das allerkleinste sein würde. Mögen die Barth und Naumann eine demosthenische Beredsamkeit entfalten und alle Batterien der politischen Logik auffahren, die sie ja vom liberalen Standpunkt aus für ihre Taktik auffahren können, so hilft ihnen das gar nichts gegen die Tatsache, dass die Angst des deutschen Spießbürgertums vor der Sozialdemokratie heute größer ist als je.

Diese steigende Angst der Philister ist aber ein schlagender Beweis für das unaufhaltsame Fortschreiten der deutschen Arbeiterbewegung und insofern eine höchst erfreuliche Tatsache. Man hat die Hoffnung, einen Teil dieser Bewegung von ihrem revolutionären Ziel ablenken zu können, endlich aufgeben müssen, und eben die Wut darüber erzeugt jene beispiellos niedrige Kampfweise gegen diejenigen Parteimitglieder, denen man törichterweise die Schuld an dem Scheitern so törichter Hoffnungen zuschreiben zu sollen glaubt. Insofern kommen die Philister denn freilich auch zu ihrem Rechte, zwar nicht gegen die Sozialdemokratie, aber doch gegen diejenigen Liberalen, die sich noch mit der Hoffnung schmeicheln sollten, dass sie durch eine von ihrem Standpunkt aus ganz verständige Politik etwa abwiegelnd auf die sozialdemokratische Politik wirken könnten. Den Vereinigten Liberalen in Darmstadt-Gerau lässt sich dieser Vorwurf nicht machen, wenigstens nicht nach Sinn und Wortlaut ihres Wahlaufrufs, aber es gibt sonst wohl Leute, die sich gern der Sozialdemokratie annehmen möchten, dabei aber wie weiland Wallenstein sorgen:

Von dieser Schweden Gnade leben,

Der Übermütigen? Ich trüg' es nicht,

ohne dass ihnen ein Mo antworten könnte:

Kommst du als Flüchtling, ihre Hilf erbettelnd?

Du bringest ihnen mehr, als du empfängst.

Dieser liberalen Staatsmänner spotten die liberalen Philister nicht ohne Grund, indem sie sagen: Es hilft ja doch nichts.

Nein, es hilft nichts, weder so noch so. Oder genauer: Es hilft ihnen nichts, weder so noch so. Denn der Sozialdemokratie helfen die einen wie die anderen, sowohl die liberalen Staatsmänner, die sie nicht mehr als auch die liberalen Philister, die sie mehr denn je zum Teufel wünschen. Einer Bewegung, die aus weltgeschichtlichen Zusammenhängen entspringt, müssen sich alle Dinge zum Besten fügen.

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