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Franz Mehring 19060912 Schwarzseher

Franz Mehring: Schwarzseher

12. September 1906

[Die Neue Zeit, 24. Jg. 1905/06, Zweiter Band, S. 809-812. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 189-192]

Eine Tafelrede, die der Kaiser in Breslau gehalten hat, wird von den bürgerlichen Parteien zum Gegenstand eingehender Betrachtungen gemacht, ohne dass sie zu einem sicheren Ergebnis darüber kommen, was der Kaiser eigentlich hat sagen wollen.

Vornehmlich handelt es sich um das kaiserliche Verdikt über die Schwarzseher. Nicht als ob der sonstige Inhalt der Rede nicht auch mancherlei Zweifel in der Brust der Patrioten erweckt hätte! Aber was sie am meisten kränkt, ist die Erklärung des Kaisers, dass er Schwarzseher nicht dulde, und seine Aufforderung an die Schwarzseher, sich anderswo umzutun, wenn es ihnen in Deutschland nicht gefiele.

Merkwürdig genug, dass sich hierdurch alle bürgerlichen Parteien getroffen fühlen! Sie gestehen dadurch ein, dass sie alle schwarz in die Zukunft sehen, was immerhin ein bemerkenswertes Geständnis ist. Man sollte es eigentlich nicht für möglich halten, dass sie so wenig befriedigt sind von Zuständen, die sie doch selbst geschaffen haben und den Arbeitern stets als vortrefflich, wenn nicht gar als unübertrefflich anpreisen. Das ist noch weit verwunderlicher, als wenn der Kaiser, der seine Kenntnis der deutschen Verhältnisse ja doch nur aus dem Schoße der besitzenden Klassen schöpft, die Dinge in rosenrotem Lichte sieht, deshalb sehr schlecht auf die Schwarzseher zu sprechen ist und sie sozusagen des Landes verweist.

So ist der Reflex der kaiserlichen Rede ungleich bemerkenswerter als die Rede selbst. Der Kaiser spricht gern und viel, noch lieber und häufiger, wenn auch nicht so glänzend wie sein Großoheim, der vierte Friedrich Wilhelm. Und da er am Ende auch nur ein Mensch ist, so ist man wohl noch kein illoyaler Untertan, wenn man nicht jedes Mal, sobald er das Wort ergreift, in seinen Reden den Quell lauterer Weisheit rieseln hört. Gerade bei Festreden und Toasten, die immer durch die augenblickliche Stimmung mehr oder minder stark gefärbt sind, ist es unrecht, jedes Wort auf die Goldwaage zu legen.

Allein das lässt der herrschende Byzantinismus nicht zu, am wenigsten in den freisinnigen Kreisen, die gar zu gern mit ihrem „Männerstolz vor Königsthronen" paradieren. Auch in Breslau hat sich der freisinnige Oberbürgermeister wieder in hässlicher Kriecherei überschlagen, so dass selbst ein reaktionäres Blatt nicht ohne Grund höhnt, man möge gegen das oberbürgermeisterliche Gewinsel doch einmal die Ansprache des kommandierenden Generals halten, die auf diesem Hintergrund sich allerdings noch sehr männlich ausnimmt.

Es sind auch freisinnige Blätter, in denen sich die wundersame Mär findet, der Kaiser habe mit den „Schwarzsehern" den kommandierenden General v. d. Goltz in Königsberg gemeint und dabei dessen Schrift zum Säkulartag der Schlacht bei Jena ins Auge gefasst. Wir haben die Schrift vor einiger Zeit an dieser Stelle besprochen und im einzelnen nachgewiesen, dass aus ihr ein Hochmut des militärischen Junkertums spreche, wie er hohler selbst in den Tagen von Jena nicht dagewesen sei. Die Unterstellung, dass sie dennoch für den Geschmack des Kaisers die Katastrophe, die vor hundert Jahren über den altpreußischen Staat hereinbrach, noch nicht rosenfarben genug schildere, ist völlig unglaublich; wäre sie richtig, so würde sie allerdings höchst eigentümliche Perspektiven eröffnen. Aber sie ist nicht richtig und kann unmöglich richtig sein; sie ist eben auch nur ein Produkt des ängstlichen Suchens nach denen und nach dem, was der Kaiser unter den Schwarzsehern und dem Schwarzseher verstanden haben mag.

Es versteht sich, dass wir uns an diesem Forschen und Suchen nicht beteiligen. Mag immer der Kaiser gemeint haben, wen und was er will, uns interessiert nur das allgemeine Bekenntnis, das sämtliche bürgerlichen Parteien bei diesem Anlass ablegen: „Die Schwarzseher sollen verbannt werden? Aber da müssen wir doch sehr bitten; dann würde ja das Reich bald entvölkert sein." Das ist denn doch eine arge Übertreibung, die ein wenig an die bekannte Parabel Saint-Simons erinnert. Die Arbeiterklasse gehört durchaus nicht zu den Schwarzsehern; sie blickt vielmehr in eine helle Zukunft, und sie fühlt die Kraft in sich, diese Zukunft zu verwirklichen; mag die Gegenwart noch so schwer auf ihr lasten, so lässt sie sich ihre feste Hoffnung und Zuversicht nicht rauben. Würden sich also die Schwarzseher aus dem Reiche trollen, so würde das Proletariat doch Kopf bei Kopf darin erhalten bleiben, und es würde dann nur offenbar werden, dass Deutschland durch diesen Auszug nicht nur nichts verloren hat, sondern dass die Dinge ungleich besser gingen als vordem.

Woher kommt es nun aber, dass die bürgerlichen Parteien so energisch auf ihrem Rechte bestehen, schwarz in die Zukunft zu sehen? So aus heiler Haut die Unglückspropheten zu spielen ist doch sonst ihre Art nicht. Aber sie stecken in keiner gesunden Haut mehr, und die Erinnerung an Jena, die sich in dieser Zeit an ihr banges Herz drängt, mag denn auch dazu beitragen, dass sie sich in der Pose besorgter Staatsmänner gefallen. Es gab vor hundert Jahren nur wenige Schwarzseher, und das waren Leute, wie Scharnhorst und Stein, die es sich schon zu kopieren lohnt. Und gibt es nicht so manche Ähnlichkeit zwischen damals und heute? Sind die Manöver des deutschen Heeres mit ihren „glänzenden" Kavallerieattacken, die Im Ernstfall zur völligen Vernichtung der Kavallerie führen müssten, nicht eben dasselbe wie die vor hundert Jahren berühmten Manöver von Potsdam, wo man sich mit Kindereien und Spielereien ergötzte, die im Ernstfall zur völligen Vernichtung des Heeres geführt haben? Und ist das Deutsche Reich im Rate der Völker heute nicht ebenso isoliert wie damals der preußische Staat? Wird es nicht ebenso über die Achsel angesehen, trotz seiner waffenstarrenden Macht, wegen seiner unbeständigen und unzuverlässigen Politik? Trifft es nicht auch heute zu, was damals ein Schwarzseher sagte: Wie ein Handlungshaus, so lebt auch ein Staat von seinem Kredit? Und der europäische Kredit des alt-wilhelminischen Reiches hat sich so bedenklich dem Nullpunkt genähert wie in den Tagen vor Jena der europäische Kredit des alt-friderizianischen Staates.

Freilich in anderer Beziehung ist die damalige und die heutige Lage so unähnlich wie möglich. Der ärgste Schwarzseher war damals der König von Preußen, der Urgroßvater des gegenwärtigen Kaisers, wenn auch kein Schwarzseher aus der Einsicht eines Scharnhorst oder Stein heraus. Als die Wetterwolken des Krieges mit Frankreich heraufzogen, saß er und weinte und sprach von seiner Abdankung; er fühlte im Voraus die Schläge, die er bei Jena empfangen sollte. Diese Schwarzseherei missfiel damals den herrschenden Klassen ebenso, wie ihnen heute der Tadel der Schwarzseher aus dem Munde des Kaisers missfällt; selbst Gardeoffiziere rebellierten; einige von ihnen begehrten Urlaub nach Paris, und als sie angeben sollten, zu welchem Zwecke, antworteten sie: um einen Helden auf dem Throne zu sehen. Sie kamen freilich nicht nach Paris, sondern nur nach Jena, von wo sie in nichts weniger als heldenhaftem Zustand heimkehrten.

Von diesem königlichen Vorbild im Schwarzsehen werden die bürgerlichen Staatsmänner, die sich heute auf den Ruhm des Schwarzsehens versteifen, wohl nichts wissen wollen; sie trachten vielmehr nach den Lorbeeren eines Scharnhorst und Stein. Aber dieses Gelüste sollten sie sich vergehen lassen. Scharnhorst und Stein waren Schwarzseher, nicht weil ihnen die Courage fehlte, einen Sturm zu bestehen, wie dem damaligen König, auch nicht weil sie die Schwüle vor dem Gewitter empfanden – die empfanden noch sehr viel andere Leute, ja im Grunde empfand sie alle Welt, etwa mit Ausnahme der Gardeleutnants, die vergnügt in den Tag hinein lebten wie gedankenlose Fliegen; selbst die Haugwitz und Lombard, die damaligen Leiter der auswärtigen Politik, ahnten allerlei Unheil, nur dass sie es mit diplomatischen Künsten, wie wir sie auch heute bewundern können, immer wieder zu beschwören gedachten – nein, die Scharnhorst und Stein waren Schwarzseher, weil sie genau wussten, was den Staat retten konnte, nämlich die Emanzipation der bäuerlichen und der bürgerlichen Klasse, weil alle Anstrengungen, die sie für diesen Zweck machten, an der bornierten Eigensucht des Junkertums scheiterten, und weil sie sich somit an den Fingern abzählen konnten, dass und beinahe auch wann die Karre unrettbar umkippen müsse.

Schwarzseher in diesem Sinne gibt es heute unter den bürgerlichen Parteien aber durchaus nicht, weder unter denen von rechts noch unter denen von links, noch unter denen von der Mitte, oder wenn einmal einer darunter auftaucht, so wird er so schnell wie möglich heraus gebissen. Heute ist die Emanzipation der Arbeiterklasse das einzige Mittel, um dem Deutschen Reiche wieder das Ansehen zu erwerben, das es durch seine reaktionäre Wirtschaft eingebüßt hat und mit der denkbar höchstgesteigerten Großmäuligkeit sowenig wieder erwerben kann wie mit den denkbar höchstgesteigerten Rüstungen zu Wasser und zu Lande. Der Zusammenhang ist heute noch viel klarer, als er vor hundert Jahren nach dem damaligen Stande der historischen Erkenntnis sein konnte, und eben weil er viel klarer ist, sind die Schwarzseher heute ungleich zahlreicher gesät als damals. Nur ist es eben nicht das Schwarzsehen eines Scharnhorst oder Stein, das der rettenden Einsicht entsprang, sondern ein Schwarzsehen, dessen Mutter die Angst des bösen Gewissens ist. Sie wissen wohl, was sie retten könnte, aber da sie das einzige Mittel der Rettung nicht anwenden mögen, so sehen sie schwarz in die Zukunft.

Jedoch mit dieser Schwarzseherei noch einher zu prunken, das könnten sie sich schenken. Es mag ihnen schwindelig werden, wenn der Kaiser eine Freude an dem Gange der Dinge bekundet, die nur mit der bittersten Enttäuschung endigen kann, und wenn sie in ihren patriotischen Herzen darüber trauern, so lässt sich das verstehen. Aber ihr Schwarzsehen ändert an der historischen Entwicklung auch nicht das Geringste, solange sie sich nicht entschließen, das Notwendige zu tun. Es kann sie sogar noch viel schneller und tiefer in die Tinte reiten als die fröhliche Blindheit, die überhaupt keine Gefahren sieht. Die Schwarzseher sind gewöhnlich die gemeingefährlichsten Reaktionäre.

Allein auch wenn dem nicht so wäre, so trieben sie im günstigsten Falle eine sehr brotlose Kunst, die durch das Pathos, womit sie sich ihrer rühmen, auch nicht erhabener wirkt.

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