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Franz Mehring 19060131 Ohnmacht?

Franz Mehring: Ohnmacht?

31. Januar 1906

[Die Neue Zeit, 24. Jg. 1905/06, Erster Band, S. 601-605. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 135-139]

Das Tohuwabohu, das in der bürgerlichen Presse entstanden ist, dank ihrem heißen Bemühen, sich so oder so mit dem „roten Sonntag" abzufinden, nimmt seinen lustigen Fortgang, doch wüssten wir nichts anderes darüber zu sagen, als wir schon vor acht Tagen gesagt haben. Wir verweilen nur noch bei ein paar bürgerlichen Pressäußerungen, die eine sachliche Auseinandersetzung ermöglichen.

Die eine dieser Äußerungen finden wir in der „Vossischen Zeitung". Man kann diesem Blatte im Allgemeinen nicht abstreiten, dass es bei aller bourgeoisen Gesinnung sich doch von den landesüblichen Gehässigkeiten gegen die moderne Arbeiterbewegung fernhält und das Proletariat nur in einem gewissen gemütlichen Tantenton rüffelt, wenn es ihm über die Stränge zu schlagen scheint. Mit dem ganzen Wohlwollen einer Allerweltstante exzelliert die „Vossische Zeitung" namentlich in der Behauptung, ohne die Unterstützung der Bourgeoisie werde es das Proletariat nie zu etwas bringen, und wenn das Proletariat gar zu kühne Sprünge mache, so werde die junkerliche Reaktion sowohl der Bourgeoisie wie dem Proletariat den Hals umdrehen. In dieser bänglichen Stimmung wird die „Vossische Zeitung" nicht müde, vor dem „Spiele mit dem Feuer" zu warnen, dem sich nach ihrer Ansicht die Sozialdemokratische Partei und namentlich einige sozialdemokratische Blätter ergeben.

So hatte der „Vorwärts" vor einigen Tagen in einer Polemik mit Bernstein, auf die es hier nicht weiter ankommt, folgenden Satz geschrieben: „Will denn Bernstein leugnen, dass Russland faktisch inmitten der Revolution steht? Will er leugnen, dass wir auch im übrigen Europa einem Zeitalter verschärfter Klassenkämpfe, einem revolutionären Zeitalter entgegenzugehen scheinen?" Diesen Satz des „Vorwärts" druckt die „Vossische Zeitung" ab und fügt aus eigenem hinzu:

Was könnte den Scharfmachern, was den Fürsprechern von Ausnahmegesetzen besser in ihren Kram passen als eine solche Erklärung des ,Zentralorgans der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands'? Klipp und klar wird hier gesagt, dass wir einem revolutionären Zeitalter entgegengehen. Das ‚scheint' dem ‚Vorwärts' so; also wird es auch den Machthabern so scheinen dürfen. Wenn es aber den Machthabern so scheint, wird man es ihnen nicht verübeln dürfen, dass sie diejenigen Maßnahmen zur Verhütung oder Niederwerfung der Revolution treffen, die ihnen gut dünken. Wenn der ‚Vorwärts' solche Maßregeln heraufbeschwören, sie herausfordern wollte, er könnte kaum eine andere Sprache führen, als sie ihm gegenwärtig beliebt."

Wir haben diese Sätze wörtlich hergesetzt, in der Sorge, dass, wenn wir ihren Inhalt in unserer Sprache zusammenfassend wiedergegeben hätten, unsere Leser uns in dem berechtigten Verdacht haben würden, politische Gegner blutig zu verhöhnen. Weil der „Vorwärts" in der trockensten Weise die Ansicht äußert, dass Europa einem revolutionären Zeitalter entgegenzugehen scheine, sollen die Scharfmacher das Recht erhalten, soll man es ihnen nicht „verübeln" dürfen, Gesetz und Verfassung über den Haufen zu werfen! Die „Vossische Zeitung" bringt nun doch noch jenen Herzog von Württemberg zu Ehren, der – allerdings mit einem tausendfach schwereren Gewicht von Gründen, als sie gegen den „Vorwärts" aufbietet – dem Regimentsmedikus Schiller nach dessen, wie die Tante Voss zu sagen pflegt, „vorrevolutionären" Leistungen in den „Räubern" verbot, Komödien zu spielen. Man weiß wirklich nicht, ob man lachen oder weinen soll, wenn ein liberales Blatt auf jenen Satz des „Vorwärts" hin den Parteivorstand feierlich auffordert, dem „unsinnigen Treiben" des „Vorwärts" und der „Leipziger Volkszeitung" Einhalt zu tun. Da ist wirklich die vormärzliche Zensur um verschiedene Nasenlängen geschlagen.

Wäre der deutsche Liberalismus nicht längst eine quantité négligeable, so würde es sich einmal lohnen, urkundlich zu untersuchen, in welcher Form er ehedem als politische Organisation des deutschen Bürgertums seine Klasseninteressen vertreten hat. Wir denken dabei gar nicht einmal an die preußische Konfliktszeit oder das Jahr 1848 oder die burschenschaftlichen Demagogen1, sondern an die deutschen Zeitgenossen von 1789 und unter ihnen auch nicht einmal an die Dichter, deren Vorrecht ja ein gewisser Überschwang der Sprache ist. Nehmen wir nur das „vornehmste" Gelehrtenblatt zur Hand, das damals in Deutschland erschien, die Göttinger „Staatsanzeigen" des alten Schlözer, der als der „vornehmste" Gelehrte an der damals „vornehmsten" Universität galt. Er meinte, die Französische Revolution sei eine kräftige Lektion für alle Menschenbedrücker in allen Weltgegenden und unter allen Ständen. „Welcher Menschenfreund wird das nicht sehr schön finden! Eine der größten Nationen in der Welt, die erste in allgemeiner Kultur, wirft das Joch der Tyrannei, das sie anderthalbhundert Jahre lang komisch-tragisch getragen hatte, endlich einmal ab: zweifelsohne haben Gottes Engel im Himmel darüber ein Te deum laudamus angestimmt." Und zu den angeblichen „Gräueln" der Revolution sagte Schlözer: „Wo lässt sich eine Revolution ohne Exzesse denken! Krebsschäden heilt man nicht mit Rosenwasser! Und wäre auch unschuldiges Blut dabei vergossen worden (doch unendlich weniger als das, was der völkerräuberische Despot Ludwig XIV. in einem ungerechten Kriege vergoss), so kömmt dieses Blut auf euch, Despoten, und eure infamen Werkzeuge, die ihr diese Revolution notwendig gemacht habt." So ein deutscher Hofrat vor 120 Jahren. Wenn aber heute ein Arbeiterblatt in gleicher Weise über die russische Revolution schreibt, dann geht das Gewimmer los über die „Revolutionsromantik", das in überaus bedauerlicher Weise selbst hier oder da einzelne Parteimitglieder quält, so sollen die Scharfmacher das historische Recht gewinnen, Gesetz und Verfassung zu zertrümmern.

Für die Selbstentmannung, die der Arbeiterklasse von der „Vossischen Zeitung" zugemutet wird, bietet die gute Tante freilich herrlichen Lohn: die Unterstützung des deutschen Liberalismus bei der Eroberung des allgemeinen Wahlrechtes für die Einzellandtage und die Abwehr jedes Ausnahmegesetzes. Wir sagten schon, dass der deutsche Liberalismus eine quantité négligeable sei, aber wenn er es auch noch nicht wäre, so wäre es eben das. Es gab einmal eine Zeit, wo der deutsche Liberalismus das allgemeine Wahlrecht für den preußischen Landtag erobern konnte, in den Jahren des preußischen Verfassungskonfliktes, aber damals hat er es aufs schnödeste verraten, und speziell die Berliner Fortschrittler warfen die Leipziger Arbeiter, die sie baten, das allgemeine Wahlrecht auf die Fahne zu schreiben, einfach zur Tür hinaus. Es gab auch einmal eine Zeit, wo der Freisinn das Sozialistengesetz stürzen konnte; es war im Jahre 1884, aber damals fiel er mit heroischer Todesverachtung um und verlängerte das Ausnahmegesetz. Um so glorreich bewährte Bundesgenossen zu gewinnen, lohnt es sich wirklich für die deutsche Arbeiterklasse, in hofrätlicher Untertänigkeit ihrer Sprache noch hinter das Jahr 1789 zurückzugehen!

Jedoch wenn sie es nicht tut, so verdammt sie sich selbst zur „Ohnmacht", und dasselbe Lied von der „Ohnmacht" der Sozialdemokratie stimmt die andere der bürgerlichen Pressäußerungen an, auf die wir heute einen Blick werfen möchten: die politische Monatsübersicht der „Preußischen Jahrbücher". Sie enthält, wie gewöhnlich, manches Wahre und manches Falsche, verrät aber immer eine historisch geschulte Auffassung und steht insoweit hoch über der platten Moralpredigt, worin sich die „Vossische Zeitung" gefällt. Sie verlässt sich auch keineswegs auf die Heldentaten des Freisinns, sondern fordert die preußische und sächsische Regierung auf, das Dreiklassenwahlrecht zu reformieren, was sie mit gutem Gewissen und ohne Furcht vor Missdeutung sehr gut tun könnten, da sich die „Ohnmacht" der Sozialdemokratie so drastisch bekundet habe, dass der rote Sonntag zum Spottworte geworden sei.

Die „Ohnmacht" der Sozialdemokratie sehen die „Preußischen Jahrbücher" durch ihre „Ausrede" bewiesen, dass die Regierung am 21. Januar ein Blutvergießen gewünscht und die Partei ihr ein Schnippchen geschlagen habe. Von dieser „Ausrede" ist uns aber nichts bekannt. Was die Sozialdemokratie nicht nur behauptet, sondern auch bewiesen hat, ist nur dies, dass die scharfmacherische Demagogie in der schoflen Absicht, ein Blutvergießen am 21. Januar zu entzünden, das blödeste Zeug über die von der Sozialdemokratie für diesen Tag geplanten Aufruhrshandlungen zusammengeflunkert hat, und dass die Regierung glücklich auf den faulen Zauber hineingefallen ist, dass sie gewaltige Machtmittel aufgeboten hat gegen einen Feind, der weit und breit nicht zu sehen war. Das war kein Beweis für die „Ohnmacht" der Sozialdemokratie, sondern nur ein Beweis für die unglaubliche und beinahe uns selbst überraschende Angst, die die Regierung vor der Macht der Sozialdemokratie hat. Eine solche Blamage vor Aus- und Inland aus heiler Haut auf sich zu nehmen, möchten wir selbst dem Genie des Fürsten Bülow nicht zutrauen.

Nur in einem Falle wäre die „Ohnmacht" der Sozialdemokratie durch den 21. Januar erwiesen worden, nämlich wenn die Partei je die Absicht gehabt hätte, sich an diesem Tage oder sonst jemals in bewaffnetem Straßenkampfe mit der Regierung zu messen, wenn sie sich durch die Machtentfaltung der Regierungstruppen von ihrer Absicht hätte zurückschrecken lassen. Allein diese Absicht der Sozialdemokratie zu unterstellen, haben selbst die unverzagtesten Wahrheitsfreunde der Scharfmacherpresse nicht gewagt. Es wäre auch zu töricht gewesen, denn seit vierzig Jahren hat kein Sozialdemokrat jemals behauptet, dass die besitzlosen Klassen an Kriegs- oder Arbeitswerkzeugen den besitzenden Klassen jemals überlegen werden könnten. Die Sozialdemokratie hat immer nur die Hoffnung ihres Sieges auf die Tatsache gestellt, dass diese Kriegs- und Arbeitswerkzeuge allein durch die Kraft des Proletariats eine kolossale Macht werden, und ihnen diese Kraft zu entziehen die besitzenden Klassen aufs trockene setzen heißt. Die Frage, wer am 21. Januar „gesiegt" hat, löst sich also in die andere Frage auf, für wen der „rote Sonntag" eine werbende Kraft in den breiten Volksmassen entwickelt hat, für die Regierung oder für die Sozialdemokratie.

Die entscheidende Antwort auf diese Frage wird erst die nächste Reichstagswahl geben. Allein es fehlt nicht an Vorzeichen, die sehr deutlich erkennen lassen, wie die Entscheidung ausfallen wird. Gerade aus den Orten, wo die „Sieger" des 21. Januar am heftigsten „gesiegt" haben und noch immer „siegen", aus Königsberg, Hamburg, Breslau, Leipzig, wird gemeldet, dass die Abonnentenziffer unserer Parteiblätter, wir möchten sagen, in fieberhaftem Maße steigt, aber wir haben noch nicht gehört, dass die patriotische Presse seit dem „roten Sonntag" auch nur um die Breite eines Strohhalmes in die Arbeiterwelt vorgedrungen ist. Die „Preußischen Jahrbücher" sagen selbst resigniert genug, alle paar Wochen ließe sich das Berliner Schloss nicht mit Artillerie besetzen; in der Tat könnte ein chronisches „Siegen" dieser Art der Monarchie sehr verhängnisvoll werden. Jedoch ein „Sieg", der als dauerndes Heilmittel nichts taugt, ist am Ende auch als einmaliges Medikament eine fragwürdige Sache.

So schlagen die „Preußischen Jahrbücher" denn vor, „dem großen ehrenwerten Arbeiterstand in Deutschland alles das ehrlich zukommen zu lassen, was ihm von Gottes und Rechts wegen gebührt". Sie meinen, die Sozialdemokratie werde durch dieses Programm nicht befriedigt werden, was wohl richtig sein mag, aber soweit es denn auch nur im Sinne der „Preußischen Jahrbücher" reicht, haben wir gar nichts gegen seine Ausführung einzuwenden. Wir bestreiten „den außerhalb der Parteien stehenden Intellektuellen", die sich eine halbwegs unbefangene Auffassung der Arbeiterfrage bewahrt haben, keineswegs den guten Willen, aber wir bestreiten ihnen die Möglichkeit, auch nur die kleinste Reform des preußischen und sächsischen Wahlrechtes fertig zu bekommen.

Der alte Praktikus Bismarck wusste sehr gut, was allein den Klassenstaat zu politischen und sozialen Reformen treibt, und hat es auch offen ausgesprochen: die Angst vor einer revolutionären Arbeiterpartei. Und die Predigt von ihrer „Ohnmacht" wird diese Partei am wenigsten überzeugen in einem Augenblick, wo schon ein nichtiger Scharfmacherspektakel genügt hat, die Militärmacht des Klassenstaats aufzujagen, als stände Hannibal vor den Toren.

1 Demagogen – nach dem Griechischen: Volksführer; so wurden in den Karlsbader Beschlüssen vom August 1819 (s. Anm. 115) die Teilnehmer oppositioneller Bewegungen der deutschen Intelligenz und studentischer Vereinigungen genannt.

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