Franz Mehring: Komische Tiraden 7. November 1906 [Die Neue Zeit, 25. Jg. 1906/07, Erster Band, S. 177-180. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 196-200] In wenigen Tagen tritt der Reichstag wieder zusammen, unter ganz eigentümlichen politischen Wetterzeichen. Auf der politischen Schlachtlinie der bürgerlichen Parteien sind überall die „Schwarzseher" in eifrigster Tätigkeit; die Organe der junkerlichen Brotwucherer erlassen mehr oder minder geharnischte Proteste gegen das „persönliche Regiment", und die nationalliberalen Mannesseelen erklären mit dem ganzen Brustton ihrer bekanntlich niemals wankenden Überzeugung, dass die bisherige Wirtschaft unmöglich so weitergehen könne. Leider unterlassen sie dabei den ersten Schritt, der zur Besserung führen könnte, nämlich selbst zu abdizieren. Denn die sich heute als Klageweiber über das „persönliche Regiment" aufspielen sind die Hauptschuldigen an diesem Regiment. Sie haben es gefüttert und gehätschelt, sie haben sich allen seinen wechselnden Stimmungen gehorsam unterworfen, sie sind auch jetzt noch unfähig, ihm einen ernsthaften Widerstand zu leisten. Ja, wenn sie heute in der Lage wären, ihm den entscheidenden Todesstoß zu versetzen, sie würden sich wohl hüten, es zu tun, aus dem einfachen Grunde, weil sie nicht wissen, was nach ihm kommt. Von dem „persönlichen Regiment", wie es heute allein möglich und wirklich ist, gilt immer noch, was Karl Marx vor bald sechzig Jahren von dessen erstem Träger sagte: „Bonaparte möchte als der patriarchalische Wohltäter aller Klassen erscheinen. Aber er kann keiner geben, ohne der andern zu nehmen."1 Diese widerspruchsvolle Aufgabe erklärt die Widersprüche der Regierung, das unklare Hin- und Hertappen, das bald diese, bald jene Klasse bald zu gewinnen, bald zu demütigen sucht und alle gleichmäßig gegen sich aufbringt, dessen praktische Unsicherheit einen hochkomischen Kontrast bildet zu dem gebieterischen, kategorischen Stile der Regierungssprache. Sie sind jetzt alle gleichmäßig aufgebracht, weil das „persönliche Regiment" keinem zu halten vermag, was es jedem versprochen hat. Es kann die Ansprüche des Junkertums nicht befriedigen, ohne die Bourgeoisie zu verletzen; es kann die Ansprüche der Bourgeoisie nicht befriedigen, ohne das Junkertum zu verletzen; es kann nicht einmal den bescheidensten Forderungen der arbeitenden Klassen gerecht werden, ohne die Bourgeoisie und das Junkertum zugleich vor den Kopf zu stoßen. Es hat sein Dasein zu fristen gesucht, indem es nach Möglichkeit Bourgeoisie und Junkertum zu gleichen Teilen auf Kosten der arbeitenden Klassen zu sättigen suchte, aber auch diese Politik erlebt den Tag, wo ein Ende mit Grauen naht. Seitdem die Wirkungen des Hungertarifs und der neuen Steuergesetze sich fühlbar zu machen beginnen, geraten die Massen des Volkes in wachsende Aufregung, und es ist diese Tatsache, die in die Stirnen der junkerlichen Brotwucherer konstitutionelle Sorgenfalten schneidet und auf die Zungen der nationalliberalen Mantelträger die Donnerkeile parlamentarischer Beredsamkeit legt. Das „persönliche Regiment" soll als Sündenbock in die Wüste gejagt werden. Aber die arbeitende Klasse hat keinen Anlass, sich ein X für ein U machen, sich die Sünden der herrschenden Klassen wegzaubern zu lassen in die unzureichenden Eigenschaften einer einzelnen Persönlichkeit. Sie hat dem „persönlichen Regiment" nichts zu danken, sondern nur unter ihm gelitten, allein sie braucht sich deshalb nicht über die Ursache ihrer Leiden täuschen zu lassen. Wäre der gegenwärtige Kaiser ein unübertreffliches Muster aller menschlichen Tugenden und ganz frei von jenen Unvollkommenheiten, die jetzt konservative wie liberale Blätter um die Wette an ihm entdecken wollen – wir selbst enthalten uns darüber aus triftigen Gründen jedes Urteils –, so wäre es eben das. Wie alle Menschen hängt der Kaiser viel mehr von den Umständen als von seinem eigenen Wollen ab, und wenn man schaudernd miterlebt hat, wie seit fünfzehn Jahren der Byzantinismus von den herrschenden Klassen gezüchtet worden ist, als Gegengift gegen den Sozialismus, so kann man höchstens voll mitleidiger Verachtung die Achseln zucken über diese Gracchen, die so tränenreich den Aufruhr beklagen, den sie selbst in der raffiniertesten und selbstsüchtigsten Weise angezettelt haben. Sie handeln mit der dummen Pfiffigkeit einer Rotte von Priestern, die den Götzen, den sie selbst fabriziert haben, um das Volk in ihrem Interesse zu betören, nun dem erwachenden Zorn des Volkes über die Streiche, die ihnen gespielt worden sind, als Opfer hinwerfen. An dem „persönlichen Regiment" sollen die hungernden Massen ihre Qualen austoben, auf dass die Fabrikanten des Hungertarifs um so sicherer im Hintergrunde verschwinden können. Das ist aber eine Taktik, die nur bei den ganz Dummen gelingen kann, die Monarchie als solche hat nicht das geringste Interesse an unerschwinglichen Lebensmittelpreisen; ganz im Gegenteil ist sie um ihrer eigenen Existenz willen darauf angewiesen, nach dem Worte des Dichters „dem Volke den sinnlichen Bedarf" nicht zu scharf zu verkürzen. Tut sie es dennoch, so tut sie es nur, gezwungen durch die herrschenden Klassen, wie denn ein Minister des gegenwärtigen Kurses diesen Klassen zurief: „Wir besorgen ja nur Ihre Geschäfte." Man darf sich also über die bürgerliche Opposition gegen das „persönliche Regiment" keinen Augenblick täuschen. Sie hat keinen anderen Zweck, als den bisher politisch toten Volksmassen, die sich endlich den Schlaf aus den Augen zu reiben beginnen, wieder Sand in die Augen zu streuen. Sie rechnet darauf, dass sich sämtliche Philister im Reiche den Schmachtriemen gern enger ziehen, wenn sich jetzt die erprobtesten Vorkämpfer des politischen Eunuchentums im „Männerstolz vor Königsthronen" produzieren. Wer heute an die abgeschmackte Komödie glauben würde, wäre morgen schon in schmählicher Weise verraten. Diese Leute können weder das „persönliche Regiment" abschaffen, noch wollen sie es auch nur abschaffen. Gewiss haben sie mancherlei dagegen auf dem Herzen; jede der herrschenden Klassen hätte lieber selbst das Heft in der Hand. Aber weder gönnt das Junkertum der Bourgeoisie noch die Bourgeoisie dem Junkertum die ausschließliche politische Herrschaft, geschweige denn, dass beide zusammen sie der Arbeiterklasse gönnen. Und was bleibt ihnen dann als das „persönliche Regiment", das ihre widerstreitenden Interessen nach Möglichkeit ausgleicht, um ihre gemeinsamen Interessen auf Kosten der Arbeiterklasse zu befriedigen? Das „persönliche Regiment" ist kein persönlicher Einfall, sondern ein Produkt der tatsächlichen Verhältnisse, das sich nicht ändern kann, ohne dass sich die Verhältnisse als solche geändert haben, ohne dass eine bedeutende Machtverschiebung in den Klassenkämpfen der kapitalistischen Gesellschaft eingetreten ist. Diese Machtverschiebung kann nur herbeigeführt werden durch ein unausgesetztes Wachstum der Sozialdemokratischen Partei. Die ideale Staatsform der ausgebildeten kapitalistischen Gesellschaft ist die bürgerliche Republik; sobald die Bourgeoisie darauf verzichtet und sich in neuer Form zu dem „persönlichen Regiment" bequemt, das im Sinne der alten Monarchie zu überwinden gerade ihre historische Aufgabe war, bekennt sie auch schon, dass sie sich aus eigener Kraft der Arbeiterklasse nicht mehr gewachsen fühlt. Sie kann deshalb gar nicht zu freieren Staatsformen mehr fortschreiten, die auch der Arbeiterklasse eine freiere Bewegung gestatten würden; nichts ist ihr gräulicher als diese Aussicht. Sie ist froh, wenn sie sich mit der Arbeiterklasse noch so nahe das Gleichgewicht hält, dass die Staatsgewalt als scheinbare Vermittlerin momentan eine gewisse Selbständigkeit erhält, was man eben „persönliches Regiment" nennt. Freilich würde sie dies Argument leichter ertragen, wenn es nicht gerade in Deutschland eine so sonderbare Gestalt angenommen hätte: Während der falsche Bonaparte seinerzeit das Proletariat gegen die Bourgeoisie und die Bourgeoisie gegen das Proletariat balancierte, werden in Deutschland von der Ära Bismarck bis zur Ära Bülow deutsche Kapitalisten und deutsche Arbeiter balanciert, um die Taschen der ostelbischen Krautjunker zu füllen. Das ist für die Bourgeoisie eine sehr bittere Seite an dem „persönlichen Regiment", und ebendeshalb schneidet sie ihm jetzt drohende Kapriolen, aber da sie das Junkertum am letzten Ende als Lanzknecht gegen die Arbeiterklasse braucht, so macht sie ihm keinen ernsthaften Krieg. Die Junker ihrerseits haben auch manches gegen das „persönliche Regiment" einzuwenden, eben weil es nicht ihre ausschließliche Herrschaft ist, die ihnen viel lieber wäre. Aber gern oder ungern, mit sauersüßer Miene oder mit heimlichem Zähneknirschen, müssen sie sich der Tatsache fügen, dass die Bourgeoisie den Daumen auf dem großen Geldbeutel hat, ohne den es nun einmal nicht mehr geht. Sie machen auch noch die verhältnismäßig besten Geschäfte unter dem „persönlichen Regiment", das ihnen eigentlich nur deshalb einige Sorge einflößt, weil es, wie gegenwärtig, unter dem gemeinsamen Drucke von Bourgeoisie und Proletariat dem allzu ausgearteten Lebensmittelwucher ein Ziel setzen könnte. Allein da eine ausschließliche Herrschaft der Junker längst eine reaktionäre Utopie geworden ist, so haben sie an dem „persönlichen Regiment" den verhältnismäßig besten Ersatz, den sie historisch überhaupt noch haben können, und sie räsonieren auch nur darüber, um die peinliche Aufmerksamkeit der Volksmassen, die durch die Fleischteuerung gegenwärtig auf sie gelenkt ist, ein wenig auf die Krone abzulenken. So bleibt die Arbeiterklasse als einzige wirkliche Gegnerin des „persönlichen Regiments" übrig. Indem sie sich politisch immer stärker entwickelt, zerstört sie jenes Gleichgewicht der kämpfenden Klassen, worauf der nordische Absolutismus beruht und mit dem er in sich zusammenfällt. Freilich wenden jene Freisinnshelden, die bei dem bloßen Gedanken schon erbleichen, dass sich ihre angeblichen politischen Forderungen jemals praktisch verwirklichen könnten, dagegen ein, ein stärkeres Wachstum der Sozialdemokratie werde das „persönliche Regiment" nur noch steigern, ja werde zum Staatsstreich führen. Und es ist nicht zu leugnen, wenn man anders den Denkwürdigkeiten Hohenlohes trauen darf, dass der Staatsstreich sozusagen der tägliche Unterhaltungsstoff der Kreise ist, die sich um das „persönliche Regiment" scharen. Ja, in den Diskussionen, die durch jene Denkwürdigkeiten angeregt worden sind, ist enthüllt worden, dass Bismarck bereits geplant habe, durch die gewaltsame Vernichtung des allgemeinen Stimmrechts einen gewaltsamen Straßenkampf hervorzurufen und nach einem unter der Arbeiterklasse angerichteten Blutbad den unverhüllten Despotismus zu proklamieren. Allein von derselben Zeitschrift, die diese Enthüllung brachte, wurde daran der schlüssige Nachweis geknüpft, dass wir heute unter „russischen" Zuständen leben würden, wenn Bismarck seinen Staatsstreich hätte ausführen können. Es muss dahingestellt bleiben, ob die herrschenden Klassen sich gerade in so rapider Weise ruinieren wollen. Auf keinen Fall wird die Arbeiterklasse durch das Tun oder Lassen ihrer Todfeinde in dem beirrt, was ihr politisches Recht und ihre politische Pflicht ist. Sie macht dem „persönlichen Regiment" einen ernsthaften Krieg, und ebendeshalb hält sie sich den komischen Tiraden fern, die von den bürgerlichen Parteien gegen dies Regiment aufgeboten werden. |
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