Franz Mehring: Furcht und Schrecken 14. Februar 1906 [Die Neue Zeit, 24. Jg. 1905/06, Erster Band, S. 673-676. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 143-147] Die Verheißung des gegenwärtigen Reichskanzlers von der „rücksichtslosen" und „unerschrockenen" Anwendung der Gesetze gegen die Sozialdemokratie beginnt sich so zu erfüllen, wie sich die Prophezeiungen ostelbischer Junker zu erfüllen pflegen. Den Bluturteilen, die schon in Dresden und in Breslau gegen Angehörige unserer Partei gefällt worden sind, gesellt sich das Schreckensurteil in Leipzig zu, das einen schlagenden Beweis dafür liefert, wie ausgiebig die Ära Bülow mit dem gemeinen Rechte zu leisten vermag, was die Ära Bismarck immerhin nur mit der Kraftanstrengung von schimpflichen Ausnahmegesetzen ins Werk setzen konnte. Der Genosse Heinig ist als verantwortlicher Redakteur des Leipziger Parteiblatts zu einem Jahre und neun Monaten Gefängnis verurteilt worden, weil er fünfmal gegen Paragraph 130 des Strafgesetzbuchs (öffentliche Anreizung verschiedener Klassen der Bevölkerung zu Gewalttätigkeiten gegeneinander) verstoßen und nebenbei auch das sächsische Geldsackparlament beleidigt haben soll. Wir scheiden gleich diesen Nebenpunkt aus, der vom Standpunkt deutscher Rechtspflege aus keinen besonderen Anlass zur Kritik bietet. Eine zutreffende Schilderung des Dresdener Landtags, die sich frei von formalen Injurien hielte, setzt eine Beherrschung der Sprache voraus, wie sie vielleicht einem Goethe oder einem Lessing, aber nicht gewöhnlichen Menschenkindern gegeben ist. Denkt nun die sächsische „Volksvertretung" niedrig genug von sich und läppisch genug von dem Werte der öffentlichen Kritik, um nach dem Muster „beleidigter" Gendarmen und Nachtwächter dem Kadi die Reparatur ihrer ramponierten Reputation anzuvertrauen, so mag man die fünf Monate laufen lassen, die dem Genossen Heinig in diesem Nebenpunkt aufgebrannt worden sind. Von allgemeinem Interesse ist dagegen Heinigs Verurteilung wegen der angeblichen fünf Verstöße, die er gegen den Paragraph 130 begangen haben soll, und von denen jeder mit sechs Monaten Gefängnis vom Gericht bewertet worden ist. Dies allgemeine Interesse wurzelt nicht oder doch nicht vorwiegend in der Höhe der Strafe, die in anderen, immerhin seltenen Fällen, im Verhältnis zu dem angeblichen Vergehen, noch übertreffen worden sein mag. Wohl aber hat sich unseres Wissens noch nie so klar und unverhüllt wie in diesem Falle gezeigt, dass mit dem „rücksichtslosen" und „unerschrockenen" Gebrauch der Rechtspflege für politische Herrschaftszwecke allerdings jedes Ausnahmegesetz überflüssig gemacht werden kann. „Furcht und Schrecken" der besitzenden Klassen: An diesen Maßstäben wird Schuld oder Unschuld derer bemessen, die für die Interessen der arbeitenden Klassen kämpfen. Sie sind geliefert, wenn sie „Furcht und Schrecken" in den besitzenden Klassen zu erregen wissen; im anderen Falle mag man sie dulden als ungefährliche Schwachköpfe. Es war das Verdienst des Oberstaatsanwalts Böhme, von vornherein die Anklage als reinste Tendenzmache zu enthüllen. Er behauptete, dass vom 3. Dezember vorigen bis zum 11. Januar dieses Jahres die „Leipziger Volkszeitung" nicht weniger als fünfundzwanzig Mal, also so ziemlich Tag für Tag, die Sturmglocke geläutet und die Leipziger Arbeiter zum Barrikadenkampfe aufgerufen habe. Freilich zieh er sich selbst damit der sträflichsten Vernachlässigung der gesetzlich ihm obliegenden Pflicht, denn nach Paragraph 23 des Pressgesetzes hätte er bei solchen Verstößen gegen den Paragraph 130 des Strafgesetzbuches, wie er behauptete, dass die „Leipziger Volkszeitung" sie in fünfundzwanzig Fällen begangen habe, in jedem Falle das Blatt konfiszieren müssen. Allein, unbeweglich wie ein Fels im Sturme, hörte Herr Böhme den Barrikadenkampf über einen Monat lang nahezu jeden Tag predigen, bis ihn endlich der patriotische Unwille überwältigte und er der Schuldigen zu donnerte: Quousque tandem, Catilina? Jedoch edler Zorn allein genügt selbst nach Ansicht des Herrn Böhme nicht zur Begründung einer gerichtlichen Anklage, und es überstieg weit die Grenzen seines an sich ja gewiss großen Scharfsinnes, auch nur in einem der fünfundzwanzig Artikel die Kriterien des Paragraphen 130 nachzuweisen. So stellte er die schwindelnd kühne Hypothese auf, dass die fünfundzwanzig Artikel, die beiläufig von den verschiedensten, in ganz Deutschland und über seine Grenzen hinaus, von Leiden bis Warschau verstreuten Verfassern herrühren, eine fortgesetzte Handlung seien und wie die Zähne eines verschmitzt ausgeklügelten Räderwerkes ineinander griffen, um in ihrer Gesamtheit den Tatbestand des Paragraphen 130 zu erschöpfen. Aber damit war auch der juristische Scharfsinn des Oberstaatsanwaltes erschöpft, und er sagte, es käme überhaupt nicht auf den Tatbestand, sondern auf die Höhe des Strafmaßes an, das nicht hoch genug gegriffen werden könne, da die fünfundzwanzig Artikel den besitzenden Klassen Furcht und Schrecken eingeflößt hätten und übrigens auch der „Leipziger Volkszeitung" ihr Hetz- und Schimpfhandwerk gelegt werden müsse. Sie proklamiere den Klassenkampf und die Revolution, wie ihre Sprache überhaupt durch und durch revolutionär sei: Der letzte Punkt war der einzige in der ganzen Anklage, der überhaupt diskussionsfähig war. Die Verteidiger des Genossen Heinig beantragten deshalb die Vernehmung einiger Sachverständiger darüber, dass die „Leipziger Volkszeitung" mit Worten, wie Klassenkampf und Revolution, nicht zum Barrikadenkampf aufgereizt, sondern diese Worte nur in dem Sinne gebraucht habe, der in der historischen und ökonomischen Fachliteratur seit Jahrzehnten herkömmlich geworden sei. Bei der Auswahl der Sachverständigen sahen die Verteidiger selbstverständlich von allen Persönlichkeiten ab, die irgendwie im Verdacht der entferntesten Sympathie für die politischen Ziele der „Leipziger Volkszeitung" stehen konnten; sie beriefen sich in erster Linie auf den Ökonomen Adolf Wagner, der politisch bekanntlich die Auffassung des Hofpredigers Stoecker teilt, und in zweiter Reihe auf den Historiker Hans Delbrück, der in seiner parlamentarischen Zeit ein Fraktionsgenosse Kardorffs war, jenes alten Sünders, der sich tagtäglich nach Ausnahmegesetzen gegen die Sozialdemokratie heiser schreit. Die Verteidiger konnten sich dieses weite Entgegenkommen ohne jede Gefährdung ihres Klienten gestatten, denn das Urteil jedes Sachverständigen über die fünfundzwanzig Artikel, und wenn er selbst von der feindseligsten Gesinnung gegen die Sozialdemokratie erfüllt war, musste zu einem schauerlichen Zusammenbruch der Anklage führen. In dieser richtigen Ahnung sträubte sich der Oberstaatsanwalt Böhme gegen die Ladung der vorgeschlagenen Sachverständigen, indem er dem Gerichtshof das nötige Sachverständnis zusprach. Allein Herr Böhme hat in solchen Dingen kein Urteil, und leider besaß auch die Leipziger Strafkammer nicht das nötige Maß von Selbstkenntnis, um sich selbst den Mangel an Sachkenntnis abzusprechen. Sie lehnte den Antrag der Verteidiger ab, aber nur um durch das von ihr gefällte Urteil zu beweisen, dass sie sich nie – was ja auch keineswegs zu den richterlichen Berufspflichten gehört – um die historische und ökonomische Fachliteratur der letzten Jahrzehnte gekümmert hat. Sie ließ sich nicht auf die staatsanwaltliche Konstruktion einer fortgesetzten Handlung ein, was juristisch ja nur anzuerkennen war, wenn es auch in diesem wunderbaren Prozess den Angeklagten aus dem Regen unter die Traufe brachte. Denn unter der Voraussetzung der fortgesetzten Handlung konnte im schlimmsten Falle nur auf das höchste Strafmaß des Paragraphen 130, auf zwei Jahre Gefängnis, erkannt werden, während, wenn jeder der fünfundzwanzig angeklagten Artikel als selbständige Handlung aufgefasst wurde, auch für jeden auf zwei Jahre Gefängnis erkannt werden konnte. Nun schied das Gericht zwar zwanzig von den fünfundzwanzig angeklagten Artikeln aus, weil es in ihnen keinen Verstoß gegen Paragraph 130 entdecken konnte, aber auf jeden der übrigen fünf wandte es allerdings das Strafmaß dieses Paragraphen an und erkannte je auf sechs Monate, zusammen also auf zweieinhalb Jahre Gefängnis, die dann mit der Strafe für die Beleidigung des sächsischen Landtags zu einer Gesamtstrafe von einem Jahre neun Monaten zusammengezogen wurden. Natürlich hat das Gericht auch in den fünf Artikeln, die es verurteilte, nicht den leisesten tatsächlichen Verstoß gegen den Paragraph 130 zu entdecken vermocht, aus dem einfachen Grunde nicht, weil ein solcher Verstoß nicht vorlag. Das Gericht ist durch die Worte „Klassenkampf" und „Revolution" hypnotisiert worden, weil es ihren historischen Sinn nicht kannte, ähnlich wie jugendfrische Naturvölker von Blitz und Donner hypnotisiert werden und darin nur verheerende Gewalten erblicken, weil ihnen die natürliche Entstehung dieser Naturerscheinungen unbekannt ist. Das Gewitter, das in den fürchterlichen Artikeln des Leipziger Parteiblatts angeblich hat heraufbeschworen werden sollen, hat nicht in den Boden eingeschlagen, in den es hätte einschlagen müssen, wenn es zu Mord und Totschlag kommen sollte; Anklage wie Urteil müssen anerkennen, dass all diese „aufreizenden" Artikel auch nicht einen Leser des Leipziger Parteiblatts im Sinne des Paragraphen 130 „aufgereizt" haben. Aber, so sagen sie, diese Artikel haben Furcht und Schrecken unter den besitzenden Klassen verbreitet, und dadurch haben sie gegen den Paragraph 130 verstoßen. Bewiesen ist auch diese Wirkung nicht, und ihrem Wesen nach kann sie auch nicht bewiesen werden. Man kann die besitzenden Klassen als solche nicht vor die gerichtlichen Schranken stellen und sie fragen: Seid ihr durch diese Artikel in Furcht und Schrecken gesetzt worden? Aber die Möglichkeit, dass die besitzenden Klassen, soweit ihnen alle sozialpolitische Einsicht fehlt, soweit die ängstliche Sorge um ihren Besitz nur ihr böses Gewissen weckt, durch die Artikel eines Arbeiterblatts, ja schon durch die bloße Existenz einer Arbeiterpartei in Furcht und Schrecken gejagt werden können, bestreiten wir nicht, sowenig wie wir bestreiten, dass die Australneger, weil ihnen alle physikalischen Kenntnisse fehlen, durch ein Gewitter in Furcht und Schrecken versetzt werden! Indem das Leipziger Urteil „Furcht und Schrecken" der besitzenden Klassen als bewegenden Hebel der Klassenjustiz in den Vordergrund schob, hat es alle Rätsel dieser Justiz in die einfache Formel aufgelöst: Das böse Gewissen der Bourgeoisie ist das wahre Verbrechen des Proletariats. |
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