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Franz Mehring 19061103 Eine Lehre

Franz Mehring: Eine Lehre

3. November 1906

[ungezeichnet, Leipziger Volkszeitung, Nr. 255, 3. November 1906. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 193-195]

Die Denkwürdigkeiten des Fürsten Hohenlohe sind von der bürgerlichen Presse halb mit wollüstigem Behagen am Klatsch, halb mit sittlicher Entrüstung über die „Indiskretionen" des ehemaligen Reichskanzlers oder wenigstens seiner Erben ausgeschlachtet worden. Einigermaßen über dies Niveau kapitalistischer Staats- und Weltweisheit erhebt sich ein Artikel, den Professor Hans Delbrück im neuesten Hefte der „Preußischen Jahrbücher" veröffentlicht. Und zwar in zweierlei Beziehung.

Zunächst sagt Herr Delbrück über die Aufzeichnungen Hohenlohes: „Es ist die regierende Schicht in Deutschland, von der hier ein Mitglied ein unbewusstes Bild entwirft, und wie viel Kleinliches, Gemeines, Gehässiges kommt zum Vorschein! Wie laufen die Intrigen hin und her, wie urteilen die Regierenden übereinander." Herr Delbrück zitiert dann einige dieser Urteile und fragt: „Was soll das Volk denken, wenn es liest, dass seine Geschicke von solchen Persönlichkeiten und solchen Motiven bestimmt werden?" Aber er beantwortet die Frage alsbald mittelbar mit den Worten: „Die Welt ist nie anders gewesen und wird nie anders sein", und dies Geständnis eines bürgerlichen Historikers verdient immerhin notiert zu werden.

Die Welt, d. h. die Klassengesellschaft. Sie ist im Sinne des bürgerlichen Historikers, der sich jede politische und soziale Verfassung nur in der Form der Klassenherrschaft vorstellen kann, eben die Welt. Wo Klassenherrschaft besteht, da wird sich die „regierende Schicht" immer so darstellen, wie sie in den Denkwürdigkeiten Hohenlohes erscheint; darin hat Herr Delbrück vollständig recht. Es mag dabei Unterschiede im Grade geben; die Fäulnis in der „regierenden Schicht" mag je nachdem abstoßender erscheinen, je nachdem die Klassenherrschaft noch eine historische Berechtigung hat oder nicht mehr hat, aber immer, wo es eine „regierende Schicht" gibt, gerät sie früher oder später in intellektuellen und moralischen Verfall, und es begreift sich dann leicht, dass unter den heutigen Umständen, wo die Klassenherrschaft längst jede historische Berechtigung verloren hat, die „regierende Schicht" so ganz besonders hässlich erscheint wie in den Denkwürdigkeiten Hohenlohes.

Präzisiert man in dieser Weise den an sich ganz richtigen Gedanken Delbrücks, so ergibt sich auch leicht die unmittelbare Antwort auf seine Frage, nämlich was das Volk dazu denken solle, wenn es lese, dass „solche Persönlichkeiten" und „solche Motive" über seine Geschicke bestimmen. Das Volk, soweit es schon aufgeklärt ist, denkt sich dabei, dass mit aller Klassenherrschaft aufgeräumt sein müsse, ehe es dem traurigen Lose entrinnen kann, unter der Herrschaft „solcher Persönlichkeiten" und „solcher Motive" zu stehen. Soweit aber das Volk diese einfache Schlussfolgerung noch nicht zu ziehen vermag, muss es darüber aufgeklärt werden, und diese Aufklärung zu besorgen ist in erster Reihe die Aufgabe der sozialdemokratischen Agitation.

Der zweite Gesichtspunkt, der den Ausführungen des Herrn Delbrück ein gewisses Interesse verleiht, fällt gewissermaßen als Spezialfall unter den ersten, den wir eben erörtert haben. Es war längst bekannt und ist durch die Denkwürdigkeiten Hohenlohes nur von neuem bestätigt worden, dass Bismarck in den letzten Tagen seiner Amtstätigkeit, als der Bankrott seiner Politik offenbar wurde, namentlich der Bankrott der Unterdrückungspolitik, die er gegenüber der Arbeiterbewegung verfolgte, sich mit dem teuflischen Plane trug, ein Blutbad unter dem Proletariat anzurichten. Dies Endziel hat Bismarck wiederholt offen bekannt, und auch der Anfang liegt offen genug da, das verlogene Hin und Her, womit er um die Jahreswende von 1889 und 1890 die Verlängerung des Sozialistengesetzes behandelte, um einen Grund zur Auflösung des Reichstags zu bekommen.

Es fehlte aber noch das „Mittelglied", wie Herr Delbrück treffend sagt, nämlich die Kenntnis des Mittels, durch das Bismarck hoffte die Arbeiter vor die Kleinkalibrigen zu treiben. So viel musste am Ende auch der „Herkules des 19. Jahrhunderts" kapiert haben, dass kleine Mittel für diesen Zweck nicht ausreichten. Und in der Tat hat er nach Herrn Delbrücks Mitteilungen ein großes Mittel im Auge gehabt, nicht weniger als einen Umsturz der ganzen Reichsverfassung durch die Fürsten und Wiederherstellung eines neuen „Reichs" ohne das allgemeine Stimmrecht. Wenn Herr Delbrück in diesem verbrecherischen Plane „Tragik" des „Herrentums" und dergleichen finden will, so ist auf dies dekorative Gerede gewiss kein Pfifferling zu geben; aber es ist im höchsten Grade wahrscheinlich, dass die Tatsache selbst richtig ist. Sie hebt den letzten Schleier von Bismarcks Treiben in der Zeit vor seinem Sturze und erklärt die Widersprüche seines Handelns, die damals in Hohenlohe und vielen indem den Verdacht erweckten, Bismarck sei nicht mehr in ungetrübtem Besitze seiner fünf Sinne.

Da er aus seiner damaligen Absicht, ein großes Blutbad unter den Arbeitern anzurichten, niemals ein Hehl gemacht hat, so wird sein moralisch-historisches Konto durch die Enthüllung Delbrücks eigentlich nicht viel schwerer belastet. Man musste sich immer schon sagen, dass Bismarcks satanischer Zweck ihm auch satanische Mittel heiligen werde. Aber von großem Interesse für die Arbeiterklasse ist, dass Bismarck nicht aus dem Amte gejagt worden ist, weil er sich mit solchen Plänen trug, sondern dass et stürzte, weil er zu früh an der „Tragik" des „Herrentums" erkrankte.

Mögen sich die Arbeiter hüten, dass es für sie nicht heißt: Zu spät!, wenn die „regierende Schicht", die heute dieselbe ist wie zu Bismarcks Zeit und nach Herrn Delbrücks richtiger Annahme immer dieselbe bleiben wird, die richtige Stunde für gekommen erachtet. Gewiss, wäre Bismarcks Plan geglückt, die Arbeiter hätte er damit nicht vor die Kleinkalibrigen gelockt, sondern nur das offizielle Deutschland in russische Zustände gestürzt. Insofern kann die Arbeiterklasse allen „rettenden Taten" der „regierenden Schicht" mit völliger Seelenruhe entgegensehen.

Aber sie darf nie vergessen, dass ihr die Katastrophe unausgesetzt droht, die Bismarck über sie heraufbeschwören wollte, es sei denn, dass sie sich bereitwillig unter das Joch der herrschenden Klassen beugt, was sie nicht tun kann und nicht tun wird. Und je enger sie ihre Reihen schließt, umso elender werden alle Staatsstreiche an ihrer ehernen Phalanx zerschellen.

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