Franz Mehring: Der Anfang vom Ende 22. März 1906 [ungezeichnet, Leipziger Volkszeitung Nr.. 67, 22. März 1906. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 156-158] Vor etwa drei Wochen erwähnten wir, dass Professor Hans Delbrück die gegen unser Blatt gefällten Urteile im Märzhefte der „Preußischen Jahrbücher" „bluttriefende Urteile" genannt und hinzugefügt habe: Die wirkliche moralische Schuld liegt, darüber wollen wir keinen Zweifel lassen, nicht bei den sächsischen Sozialdemokraten, auch nicht bei den Hetzern und Demagogen, sondern bei der sächsischen Regierung und den regierenden Parteien, die nicht einsehen wollen, dass in der industriellen Arbeiterschaft ein Stand um Anerkennung und Teilnahme am öffentlichen Leben ringt, den seine wirtschaftlichen Leistungen und sein moralischer Gehalt zu diesem Anspruch berechtigen. Anscheinend hat dies offene und unbefangene Wort eines Berliner Historikers an gewisser Stelle verschnupft, und Herr Professor Wach, eine juristische Zierde der Universität Leipzig, ist vor einigen Tagen in der Ersten Kammer des sächsischen Landtags empört aufgestanden, um mit der ganzen Wucht seiner Autorität zu bestreiten, dass die sächsische Justiz je „bluttriefende" Urteile gefällt habe. Wir haben über seine Rede bereits in unsrer Nummer vom letzten Sonnabend berichtet, kommen aber noch einmal darauf, da sie in der bürgerlichen Presse mit patriotischer Wonne breitgetreten wird als Beweis dafür, dass es wirklich keine Klassenjustiz gebe, weder in Deutschland noch auch nur in Sachsen. Nun mag Herr Wach ein sehr gelehrter und ein sehr patriotischer Mann sein, wir bestreiten ihm weder das eine noch das andre. Aber trotzdem und im gewissen Sinne auch ebendeshalb ist er in keiner Weise dazu berufen, die Frage zu entscheiden, die er nach dem Jubelschrei der kapitalistischen Presse entschieden haben soll. Denn als gelehrter und patriotischer Mann gehört er selbst zu den Organen der sächsischen Justiz und kann also die Frage, ob diese Justiz „bluttriefende Klassenjustiz" sei, ebenso wenig entscheiden, wie etwa ein des Mordes Angeklagter darüber entscheiden kann, ob er die bluttriefende Tat begangen habe, wegen deren er angeklagt worden ist. Wir hätten allerdings nichts dagegen, wenn in allen politischen Prozessen die Angeklagten zugleich die Richter wären und sich ohne alles Federlesen freisprechen könnten, denn politische Prozesse sind unter allen Umständen ein Unfug und ein Unsinn. Allein da Herr Wach damit keinesfalls einverstanden sein würde, so muss er sich selbst billig sein lassen, was andern recht sein soll. Es ist sein gutes Recht, in der Ersten Kammer des sächsischen Landtags zu bestreiten, dass es eine sächsische Klassenjustiz gebe, ebenso wie es das gute Recht des Hennig ist, zu bestreiten, dass er den Kellner Giernoth ermordet habe, aber in beiden Fällen verteidigt sich nur ein Angeklagter, in keinem dieser Fälle wird ein Urteil gefällt, das irgendeinen Anspruch auf sachliche Richtigkeit erheben kann. Herr Wach ist übrigens auch viel verständiger als seine Bewunderer. Er bestreitet zwar, dass es eine sächsische Klassenjustiz gebe, und er gebraucht damit das unanfechtbare Recht jedes Angeklagten. Jedoch denkt er gar nicht daran, soweit wenigstens die Berichte über seine Rede erkennen lassen, ein endgültiges Urteil in dieser Frage zu fällen. Er sagte vielmehr: Wenn das Volk kein Vertrauen mehr in die Strafjustiz habe, so sei die Grundlage genommen und der Anfang vom Ende da. Das ist soweit ganz richtig und in der Tat das einzige Kriterium für die Existenz oder Nichtexistenz einer Klassenjustiz, wenigstens vom bürgerlichen Standpunkt aus. Von unserm Standpunkt aus stellt sich die Sache nur insofern anders dar, als sich die Klassenjustiz aus dem Wesen jedes Klassenstaats ergibt und wir den Satz des Herrn Wach dahin ändern müssen: Je tiefer das Vertrauen des Volkes in die Justiz sinkt, um so mehr ist der Beweis für eine immer unerträglichere Klassenjustiz geliefert; um so mehr schwindet die Grundlage und naht der Anfang vom Ende. Herr Wach spricht mit dankenswerter Offenheit aus, dass die herrschenden Klassen nichts Törichteres tun können, als ihre Vorrechte mit den Waffen der Klassenjustiz zu verteidigen. Der Missbrauch des Rechts für politische Zwecke rächt sich an denen, die ihn begehen, in nachdrücklichster Weise, während er denen, die er immer schädigen will, nur vorwärts hilft. Oder um uns genauer und weniger missverständlich auszudrücken: Die Klassenjustiz mag den Personen helfen, die sie handhaben – siehe die reichen Lorbeeren, mit denen Herr Böhme von seinen Vorgesetzten gekrönt worden ist –, aber sie ruiniert das Ansehen der Justiz selbst, während sie zwar einzelne Personen schwer zu treffen vermag, dagegen die von ihr verfolgte Sache ungemein fördert – siehe die 3000 neuen Abonnenten, die unser Blatt gewonnen hat, seitdem die sächsische Staatsglorie ihren Böhmischen Feldzug gegen uns eröffnete. Es ist eine altbewährte Taktik unsrer Partei, die Dinge nie von sich aus auf die Spitze zu treiben, aber auf einen Schelmen anderthalben zu setzen, wenn sie von unsern Gegnern auf die Spitze getrieben werden. Wir brauchen die Klassenjustiz der Gegner nicht, um unsre Forderungen zu vertreten und durchzusetzen, allein wenn wir durch die Klassenjustiz daran gehindert werden sollen, so werden wir allerdings nicht aufhören, diese Klassenjustiz beim richtigen Namen zu nennen, nicht nur auf die Gefahr hin, sondern auch zu dem ausdrücklichen Zweck, dass dem Volk das Vertrauen zu solcher Justiz genommen wird. Wie wäre diese Wirkung auch zu vermeiden, wenn z. B. einige Sätze von der Leipziger Strafkammer mit der schweren Strafe von sechs Monaten Gefängnis gezüchtigt werden, während wörtlich dieselben Sätze von der Berliner Strafkammer inzwischen als völlig erlaubte und unverfängliche Sätze freigegeben worden sind? Oder wenn einige historische Mitteilungen aus bürgerlichen Historikern über längst verstorbene Albertiner als angebliche, an dem gegenwärtigen Könige von Sachsen begangene Majestätsbeleidigung verurteilt werden? Urteile dieser Art ruinieren das Vertrauen des Volkes zur Justiz in Grund und Boden, mag Herr Wach so laut und so oft versichern, wie ihm beliebt, dass es keine sächsische Klassenjustiz gäbe. Er wird dafür keine Gläubigen finden als die Leute, in deren Interesse es liegt, sich selbst vorzuspiegeln, dass keine Klassenjustiz existiert. Aber damit ist ihm wenig gedient, denn nicht auf eine Handvoll kapitalistischer Tintenkulis kommt es ihm an, sondern, wie er selbst sagt, auf das Volk, dem das Vertrauen zur Justiz nicht genommen werden dürfe, wenn nicht die Grundlagen des Klassenstaats erschüttert werden und der Anfang vom Ende da sein solle. Das Volk glaubt nicht ihm, sondern den Urteilssprüchen, die in Breslau, in Dresden, in Leipzig gefällt worden sind, und das ist gut so. |
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