Franz Mehring‎ > ‎1906‎ > ‎

Franz Mehring 19061117 Auch ein Jubiläum

Franz Mehring: Auch ein Jubiläum

17. November 1906

[ungezeichnet, Leipziger Volkszeitung, Nr. 267, 17. November 1906. Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 207-209]

Hätten der Hofprediger Stoecker und der Brotwucherer Oertel in ihren Blättern nicht mit der alten Geschichte gekrebst, wir hätten ihn wahrhaftig vergessen: den Jubeltag, den heute das „Soziale Königtum" feiert. Am 17. November 1881 erschien die „weltgeschichtliche Botschaft" des damaligen Kaisers Wilhelm, worin es hieß, dass die Unterdrückung sozialdemokratischer Ausschreitungen nicht genüge, sondern auch das positive Wohl der Arbeiter gefördert werden müsse. Es ist dieser „Markstein der Jahrtausende", auf dem die Oertel und Stoecker wie ein paar verhutzelte Mumien hocken und mühsam einige Tränen der Rührung hervor quetschen.

Indessen wollen wir auch dies Fest gerne feiern, wie es fällt, und mit lebhafter Genugtuung uns erinnern, wie gründlich seit einem Vierteljahrhundert alle Demagogie nach dem Muster der Bismarck und Stoecker abgewirtschaftet hat. Freilich waren sich alle einsichtigen Politiker von vornherein darüber klar, dass die „weltgeschichtliche Botschaft" weiter nichts als ein plumpes Verlegenheitsmanöver Bismarcks war, der später selbst erklärt hat, dass er sie aus eigner Initiative und ohne jede fremde Beihilfe fabriziert habe. Das historische Schuldkonto des alten Wilhelm muss, wie wir bereitwillig anerkennen, von diesem Posten entlastet werden. Der „Markstein der Jahrtausende" ist echter Bismarck und des „Genialen" durchaus würdig.

Nicht als ob Bismarck das „Soziale Königtum" erfunden hätte. Dazu langte es bei ihm nicht, die Ehre dieser Erfindung gebührt den französischen Legitimisten und den englischen Tories1, die nach dem Siege der Bourgeoisie in Frankreich und England auf den famosen Einfall gerieten, die beginnende Rebellion des Proletariats gegen die Bourgeoisie für ihre eigennützigen Zwecke auszunützen. So verflucht gescheit dies Plänchen war, so hatte es bei seinen ursprünglichen Urhebern wenigstens noch den leidlichen Sinn, dass sie die Lebenslage der arbeitenden Klassen wirklich bis zu einem gewissen Grade heben und den Profit der Bourgeoisie entsprechend senken wollten. Um sich die Bourgeoisie nicht über den Kopf wachsen zu lassen, wollten sie ein gewisses Gleichgewicht zwischen Bourgeoisie und Proletariat herstellen, um beide desto sicherer zu beherrschen. So haben sich namentlich einzelne Tories gewisse Verdienste um die Fabrikgesetzgebung2 erworben, die dem braven Bismarck bekanntlich immer ein Gräuel war.

Es war auch nicht völlig ausgeschlossen, dass dies „Soziale Königtum" nicht die reine Luftspiegelung blieb. So unmöglich es ist, dass die moderne Arbeiterklasse je auf die Dauer ihr Erstgeburtsrecht preisgeben kann, um einiger Brosamen willen, die ihr eine Klasse reicht, die historisch noch hinter der Bourgeoisie steht, so konnte sie doch in den Anfängen ihres Emanzipationskampfes vielleicht hier und da über diesen historischen Zusammenhang der Dinge getäuscht werden. Immer aber war dann die Voraussetzung, dass wirklich etwas geschah, die Wucht ihrer Ketten zu erleichtern; dass sie sich mit süßen Redensarten kirren lassen würde von Leuten, die gleichzeitig die Peitsche auf ihrem Nacken tanzen ließen, das haben die englischen und französischen Erfinder des „Sozialen Königtums" nie geglaubt und ebenso wenig ihre deutschen Nachbeter, die Wagener und Rodbertus. Zu dieser glorreichen Entdeckung gehörte das ganze Genie des Säkularmenschen.

Es liegt noch ein von Wagener verfasstes und von Rodbertus verbessertes Konzept zu einem Programm des sozialen Königtums vor, das dem wackern Bismarck spätestens im Jahre 1875 überreicht sein wird, denn im Dezember dieses Jahres starb Rodbertus. Das Schriftstück findet sich im Literarischen Nachlass von Rodbertus, dritter Band, Seite 247 ff. Die Verfasser empfehlen darin die feierliche Verkündigung einer Ära der Sozialreform durch eine kaiserliche Botschaft, „um das Vertrauen der arbeitenden Klassen zu erwecken", dann Abschaffung aller Lebensmittelsteuern, Einführung eines Normalarbeitstags, Verbot der Sonntagsarbeit, amtliche Fabrikaufsicht mit weit reichenden Befugnissen usw., daneben noch das Staatseisenbahnsystem und das Tabaksmonopol. Das war wirklich ein Plan nach dem englischen und französischen Muster: eine gewisse Entlastung der arbeitenden Klassen und eine gewisse Stärkung des Königtums, beides aber auf Kosten der Bourgeoisie.

Wie nun führte Bismarck dies Programm aus? Er begann mit dem Staatseisenbahnsystem, hielt es dann aber für praktischer, die Arbeiter mit dem Polizeiknüttel des Sozialistengesetzes auf den Kopf zu schlagen und danach nicht etwa die Lebensmittelsteuern abzuschaffen, sondern sie vielmehr ins ungeheuerliche zu erhöhen, um den Klassen, denen er selbst angehörte, in erster Reihe also dem Großgrundbesitz und in zweiter Reihe dem Großkapital, die Taschen zu füllen. Die unter dem roten Schrecken des Attentatsschwindels von 1878 erfolgten Reichstagswahlen3 hatten dann für beide Zwecke eine willfährige Mehrheit geschafft.

Allein als die Wahlen von 1881 herannahten, war eine tiefgehende Unzufriedenheit unter den Wählern unverkennbar. Also langte der Herkules des Jahrhunderts wieder nach seinem Konzept, und sein Blick blieb auf dem Tabaksmonopol haften. Alsbald musste Herr Adolf Wagner im Sommer von 1881 mit dem Tabaksmonopol als dem „Patrimonium der Enterbten" im Reiche hausieren gehen. Jedoch der grobe Schwindel verfing nicht; die Wahlen von 1881 ergaben eine schwere Niederlage des Bismärckischen Systems. So langte Bismarck denn abermals nach seinem Konzepte, indessen er fand hauptsächlich nur noch Vorschläge zur Fabrikgesetzgebung darauf, die er ebenso bitter hasste, wie er den Profit liebte. Aber halt! Die feierliche Botschaft, die eine Ära der Sozialreform verkündigt, „um das Vertrauen der arbeitenden Klassen zu erwecken" – das war doch noch ein Spektakelstück, das gar nichts kostete und das am Ende einen Lärm vollführen konnte, über dem den arbeitenden Klassen vielleicht doch Hören und Sehen verging.

Dies ist die sehr nüchterne Entstehungsgeschichte der „weltgeschichtlichen Botschaft", die von Bismarcks Korybanten in der Tat mit fürchterlichem Lärm begrüßt wurde. Aber auch nicht einem Arbeiter ist darüber Hören und Sehen vergangen; die Zahl der sozialdemokratischen Wählerstimmen hat sich vielmehr in diesem Vierteljahrhundert verzehnfacht. Das war die einzig treffende und würdige Antwort auf die „kaiserliche Botschaft" vom 17. November 1881, und wenn es in diesem erfreulichen Tempo weitergeht, wird nach abermals fünfundzwanzig Jahren kein Mensch mehr begreifen, wie solche Bismärckischen Eulenspiegeleien je möglich gewesen sind. Ernsthaft genommen sind sie ja freilich nie, wenn man nicht die Oertel und Stoecker zu den ernsthaften Leuten rechnet, was eine Geschmackssache ist, über die wir nicht weiter streiten wollen.

1 Legitimisten – Anhänger der 1830 gestürzten Dynastie der Bourbonen; sie vertraten die Interessen des erblichen Großgrundbesitzes. Im Kampf gegen die von 1830-1848 herrschende Dynastie der Orleans, die sich auf Finanzaristokratie und Großbourgeoisie stützte, griff ein Teil der Legitimisten nicht selten zur sozialen Demagogie und gebärdete sich als Beschützer der Werktätigen vor der Ausbeutung durch die Bourgeoisie.

Tories – Britische politische Gruppierung, hervorgegangen aus den Königsanhängern in der bürgerlichen Revolution. Der Name wurde seit 1867 übernommen für die Konservative Partei Englands.

2 Die englische Fabrikgesetzgebung ist der Beginn des kapitalistischen Arbeitsrechts überhaupt. Im Interesse der gesamten Bourgeoisie als Klasse an der Erhaltung der notwendigen Arbeitskräfte und angesichts der erstarkenden und sich organisierenden Arbeiterbewegung (Chartisten), sah sich der kapitalistische Staat – zuerst in England – gezwungen, gegen die schlimmsten Auswüchse der kapitalistischen Ausbeutung gewisse gesetzliche Beschränkungen der Fabrikarbeit anzuordnen. Als Beginn der e. F. gilt die „Moral and Health Act" (Moral- und Gesundheitsgesetz) von 1802, die erste Einschränkungen der Kinderarbeit anordnete.

3 Bismarck suchte das Attentat Hödels am 11. Mai 1878 auf Wilhelm I. zu benutzen, um sein Sozialistengesetz (s. Anm. 11) im Reichstag durchzubringen. Dieser lehnte aber ab. Die Neuwahl des Reichstages stand unter der von Bismarck demagogisch erzeugten antisozialistischen Hysterie, zu der ein zweites Attentat – des Anarchisten Nobiling – am 2. Juni herhalten musste. Jetzt ging das Sozialistengesetz mit den ausschlaggebenden Stimmen der Nationalliberalen im Reichstag durch, obwohl die Sozialdemokratie mit den Attentaten nicht das mindeste zu tun hatte.

Comments