Rosa Luxemburg: Rede über die Frage der polnischen Sonderorganisation [Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu Dresden vom 13. bis 20. September 1903, Berlin 1903, S. 277-279. Nach Gesammelte Werke Band 1/2, 1970, S. 378-381] Falls irgendjemand nach den bisherigen Verhandlungen vielleicht den falschen Verdacht schöpfen könnte, dass in der deutschen Sozialdemokratie der Gerechtigkeitssinn nicht genügend vertreten wäre, so würde er nach dieser kurzen Debatte auf das angenehmste enttäuscht sein. Ich war selbst sehr erfreut, so viele Verteidiger des unterdrückten polnischen Volkes, zu dem zu gehören ich die Ehre habe, hier zu finden. Nur habe ich nicht feststellen können, dass die Sachkunde auf derselben Höhe stände wie das Gerechtigkeitsgefühl. (Heiterkeit.) Haenisch stellte es so dar, als ob der Offene Brief der polnischen Sonderorganisation an den Parteitag1 ein Zeichen ihres außerordentlichen Friedensbedürfnisses sei. Ich habe genau dasselbe sagen müssen. Nur sagte ich mir auch – was sich Haenisch nicht sagen konnte, weil dies wahrscheinlich das erste Schriftstück ist, das er über diese Frage liest, während ich absolut alles kenne und weiß, was darüber geschrieben ist –: Es ist doch merkwürdig, trotz soviel Liebe und Friedensbedürfnis ist diese Sonderorganisation vor zwei Jahren aus der deutschen Sozialdemokratie ausgetreten! Trotz dieses Friedensbedürfnisses hat diese Sonderorganisation im vorigen Jahre Gegenkandidaten gegen die deutschen und polnischen sozialdemokratischen Kandidaten in Oberschlesien aufgestellt! Trotz dieses Friedensbedürfnisses musste der deutsche Parteivorstand sich in drei lang ausgedehnten Konferenzen mit dieser Organisation plagen, um den unbedingt notwendigen Frieden in den polnischen Provinzen herzustellen. Es ist eben nicht alles so, wie es aussieht in den Schriften, mit denen man an den Parteitag kommt. Gewöhnlich ist von diesem Friedensbedürfnis sehr wenig zu spüren, und das haben wir, die wir in jenen Gegenden zu tun haben, auf das schwerste empfunden. Nach dem Offenen Briefe und den Ausführungen der Verteidiger der polnischen Sonderorganisation mussten Sie den Eindruck gewinnen, als ob die polnische unterdrückte Nation von der deutschen Sozialdemokratie unterdrückt würde. Wenn dieser Verdacht berechtigt wäre, so würde ich als Polin, nicht nur als Sozialdemokratin, trotz aller Liebe, die mich in letzter Zeit mit dem deutschen Parteivorstand verbindet (Heiterkeit.), die erste sein, die die Fahne der Rebellion gegen den deutschen Parteivorstand erheben würde. (Erneute Heiterkeit.) Aber wer sich ruhig und objektiv über die Vorgänge informiert hat, der muss zu der Überzeugung kommen, dass niemand die Rechte, die Freiheit, die Selbstbestimmung und die kulturelle Entwicklungsmöglichkeit des polnischen Volkes verteidigt wie die Sozialdemokratie. Wenn Ledebour Gelegenheit gehabt hat, in den letzten Jahren im Reichstag so schöne Reden zur Verteidigung des unterdrückten polnischen Volkes zu halten, so hat er damit nur einen Auftrag des Mainzer Parteitages ausgeführt. (Ledebour: „Das habe ich gar nicht gewusst!" – Heiterkeit.) Nun, dann war es unbewusst. (Große Heiterkeit.) Es handelte sich aber dabei um einen Antrag, der nach einer Begründung von mir angenommen wurde.2 Ich würde die Sozialdemokratie beleidigen, wollte ich des längeren anführen, dass nur sie in ganz Deutschland der wirkliche Hort, die Verteidigung und der Schutz des unterdrückten polnischen Volkes ist. Aber nicht darum handelt es sich, ob die Sozialdemokratie die unterdrückten Polen schützen soll, denn das ist selbstverständlich, sondern darum, ob die polnischen Sozialisten zusammen mit den deutschen auf gemeinsamem Boden als eine Klassenpartei arbeiten sollen oder ob in der Agitation das nationale Moment in den Vordergrund gestellt werden soll. Es versteht sich für uns von selbst, dass jedes unterdrückte Volk das heilige Recht auf Freiheit und Unabhängigkeit hat, aber wie viele schöne Rechte haben wir nicht! Jeder von uns hat z. B. auch das Recht zu fliegen (Auer: „Hinausfliegen!"), aber ich kenne keinen Genossen, der davon Gebrauch macht, ausgenommen etwa, wenn man, wie z. B. Ledebour, sich auf ein Gebiet begibt, wovon man keine Ahnung hat und wo man in der Luft schwebt. (Heiterkeit.) Es kommt nicht darauf an, ob wir das Recht, sondern ob wir die Möglichkeit haben, etwas zu erringen, und gerade wir, die wir auf dem Boden der materialistischen Geschichtsauffassung stehen, müssen uns vor allem die Frage stellen, ob diese oder jene Aufgabe auf dem Wege der Entwicklung zum Sozialismus liegt, ob sie sich in unsre allgemeinen Bestrebungen zur Emanzipation der Arbeiterklasse einfügt. Es kann nicht Aufgabe des Proletariats sein, neue Klassenstaaten zu schaffen, und wenn die Londoner3 Resolution von einem Selbstbestimmungsrecht aller unterdrückten Nationen spricht, so hatte sie im Auge das Recht der Selbstbestimmung in der sozialistischen Gesellschaft, nicht aber die Schaffung eines neuen Klassenstaates auf kapitalistischem Boden. (Zustimmung.) Es könnte scheinen, als handelte es sich hier nur um eine Doktorfrage; in Wirklichkeit aber handelt es sich um etwas sehr Reales, um ein Moment, das uns in der Agitation stets störend entgegentritt. Auch die Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands hat sich in ihrem Bericht an den Stuttgarter Kongress in demselben Sinne ausgesprochen. Da haben Sie den Beweis dafür. (Die Rednerin verliest die Äußerung der Generalkommission.4) (Singer gibt durch ein Glockenzeichen zu verstehen, dass die Redezeit gleich abgelaufen ist.) O Gott! (Große Heiterkeit.) Ich bitte die Versammlung zu fragen, ob ich noch reden darf. (Ledebour ruft: „Ich beantrage, die Redezeit für die Genossin zu verdoppeln." – Heiterkeit.) Das ist ein Beweis dafür, dass auch die Gewerkschaften mit denselben Schwierigkeiten bezüglich der polnischen Sonderorganisation zu kämpfen haben. Und die gleichen Streitigkeiten finden sich in Russland, dort befindet sich diese Richtung im Gegensatz zu den russischen Genossen, zu den jüdischen Sozialisten. Sie sehen, wenn das nationale Sozialisten sind, dann sind es internationale Stänker. (Große Heiterkeit.) Ledebour verbreitet sich hier über die Polenfrage, und dabei versteht er kein Wort polnisch, er hat auch weder mit mir noch mit Winter5, noch mit Gogowsky gesprochen, um sich zu informieren. Ich würde ihm die Informationen gern geben. Denn ich würde lieber mit Ledebour Arm in Arm mein revisionistisches Jahrhundert in die Schranken fordern (Große Heiterkeit.), als dass ich ihn zum Gegner habe. Er stützt sich nur auf ein paar Informationen von Stänkern, wie wir sie überall haben, wenn auch zum Glück nicht überall Ledeboure sind, die sich zum Schützer dieser Stänker aufwerfen. (Heiterkeit und Beifall.) Ich schlage folgende Resolution vor: „Der Parteitag erklärt sich mit der Haltung des Parteivorstandes in den Verhandlungen mit der polnischen Sonderorganisation einverstanden und geht über die Angelegenheit zur Tagesordnung über."6 1 In dem „Offenen Brief der Polnischen sozialistischen Partei (PPS) Deutschlands an die Deutsche Sozialdemokratie" vom 1. September 1903 hatte die PPS (siehe Bd. 1/1. S. 15, Fußnote 2) dem Parteivorstand der deutschen Sozialdemokratie vorgeworfen, die Schuld am Scheitern der Verhandlungen über eine Einigung beider Organisationen zu tragen. 2 Siehe Bd. 1/1, S 797/798. 3 Der Internationale Sozialistische Arbeiter- und Gewerkschaftskongress in London fand vom 27. Juli bis 1. August 1896 statt. 4 Im Bericht an den vierten Gewerkschaftskongress heißt es: „Weder den Gewerkschaften noch der Parteileitung ist es jemals eingefallen, Germanisierungsversuche zu machen. Stets sind sie dafür eingetreten, dass jeder Mensch ein Recht auf seine Muttersprache hat, dass die Volkstümlichkeiten berücksichtigt und anerkannt werden müssen. Die Unterdrückten aller Länder haben in der modernen Arbeiterbewegung einen energischen Anwalt gefunden. Diese Arbeiterbewegung will aber nicht neue Staatsformationen schaffen, sondern ohne Rücksicht auf durch Gewalt künstlich geschaffene Landesgrenzen dem gesamten Proletariat eine höhere Lebenshaltung und endgültige Befreiung vom Joche des Kapitalismus bringen. Sie sieht nicht darnach, welcher Nation der ausbeutende Kapitalist oder der ausgebeutete Proletarier angehört, sondern bekämpft den ersteren und sucht den letzteren zu schützen, gleichviel, ob sie russischer oder japanischer Nationalität sind. Es ist also ein erbärmliches Unternehmen der polnischen Parteileitung, wenn sie einen Gegensatz zwischen dem polnisch und dem deutsch sprechenden Teil der Kämpfer für die Befreiung des Proletariats zu schaffen sucht und die Agitatoren der deutschen Arbeiterbewegung verdächtigt." (Protokoll der Verhandlungen des vierten Kongresses der Gewerkschaften Deutschlands. Abgehalten zu Stuttgart vom 16. bis 21. Juni 1902, Hamburg o. J., S. 13.) 5 Sozialdemokratischer Politiker, setzte sich für Arbeitereinheit von deutschen und polnischen ArbeiterInnen in Oberschlesien ein. 6 Die Resolution wurde angenommen. |
Rosa Luxemburg > Polen >