Rosa Luxemburg: Zur Tagesordnung des Parteitages [Erschienen in der „Leipziger Volkszeitung am 21. Juni 1913. Nach Gesammelte Werke Band 4, 1928, S. 631-633] Die vom Parteivorstand veröffentlichte Tagesordnung des diesjährigen Parteitages weist eine kaum begreifliche Lücke auf: die Frage des preußischen Wahlrechtskampfes. Nur eine Erklärung könnte dafür herangezogen werden, nämlich der Hinweis darauf, dass der Kampf um das preußische Wahlrecht zur Kompetenz des preußischen Parteitags gehöre. Doch dieser formalistische Standpunkt hätte, abgesehen davon, dass er ja schon durch die Verhandlungen des Magdeburger Parteitags desavouiert worden ist, auch noch die Unzuträglichkeit, dass er unserer eignen, wiederholt in der Öffentlichkeit vertretenen Auffassung direkt zuwiderlaufen würde. Es waren immer Regierungsvertreter und reaktionäre Parteien, die dem Reichstag die Kompetenz in der Frage des preußischen Wahlrechts bestritten und es als „preußische Angelegenheit" behandelt wissen wollten. Unsere Vertreter hingegen verfochten immer und mit Glück den entgegengesetzten Standpunkt. Erst jüngst haben wiederholte Vorstöße unserer Fraktionsredner im Reichstag nach dieser Richtung das freudigste Echo in den Parteikreisen geweckt. Es ist gegenwärtig eine unbestrittene und von allen empfundene Tatsache, dass der Kampf um das preußische Wahlrecht zum Drehzapfen unseres gesamten politischen Lebens geworden ist, zu einem Zentralpunkt, in dem alle Fäden des Klassenkampfes in Deutschland zusammenlaufen. Es müsste demnach eigentlich als selbstverständlich erscheinen, dass unsere leitenden Instanzen der allgemeinen Stimmung und der Situation Rechnung tragen und von vornherein den preußischen Wahlrechtskampf zum Gegenstand der Verhandlungen des Jenaer Parteitages machen. Dies aber noch aus besonderen Gründen. Es hat sich gegenwärtig der weitesten Kreise der Partei das Gefühl bemächtigt, dass die Wucht und die Schärfe unserer Aktion im Ganzen nicht völlig auf der Höhe der Aufgabe stehen, dass die Art und Weise, wie die Viermillionenpartei den Provokationen der herrschenden Reaktion auf verschiedenen Gebieten begegnet, nicht ganz dem großen Sieg bei den Reichstagswahlen und den an ihn geknüpften Erwartungen entspricht. Der diesjährige Parteitag wird allem Anscheine nach nicht bloß die laufenden Geschäfte des Jahres in üblicher Weise zu erledigen haben, er wird auch nicht umhin können, gewissermaßen eine Bilanz der von der Partei in den letzten Jahren angewandten Taktik und eine kritische Sichtung der in ihr geäußerten Theorien und Ansichten vorzunehmen. Das Schlagwort von der geduldigen und stillen „Ermattungsstrategie", mit dem man die absichtliche Liquidierung der 1910 begonnenen Massenaktion für das preußische Wahlrecht zu beschönigen suchte, das Schlagwort von dem „neuen Liberalismus", mit dem man nach der Reichstagswahl trügerische Illusionen in Bezug auf die Entwicklung der bürgerlichen Parteien weckte, müssen jetzt alle an der Hand des reichen Erfahrungsmaterials der letzten Jahre auf ihren Wert hin geprüft werden. Die Erfahrungen im preußischen Wahlrechtskampf sind aber die wichtigste und reichste Schatzkammer politischer Belehrung für unsere Partei wie für die Masse des Proletariats im Ganzen. Die Schicksale dieses Kampfes stellen geradezu einen Prüfstein für unsere bisherige wie für unsere künftige Taktik dar. Wie die Dinge gegenwärtig liegen, ist es für alle Welt klar, dass die deutsche Sozialdemokratie nun an dem preußischen Wahlrechtskampf die Tüchtigkeit ihrer Waffen, die Brauchbarkeit ihres Organisationsapparates für große politische Aktionen, den Wert ihrer viel gerühmten Disziplin für die Mobilisierung der Massen, mit einem Wort: ihre Fähigkeit zur politischen Offensive erweisen muss. Dass eine ernste Prüfung der im preußischen Wahlrechtskampf anzuwendenden Taktik dringend notwendig geworden ist, beweisen neuerdings auch taktische Feuerwerke in der Art der Frankschen „revolutionären" Weckrufe, die – unter begeisterter Zustimmung des „Vorwärts" – offenbar den Großblock in Baden mit dem Massenstreik in Preußen harmonisch verbinden wollen. In diese Begriffsverwirrung des süddeutschen Exportradikalismus wie des Zentralorgans hineinzuleuchten und die tieferen vielseitigen Zusammenhänge des revolutionären Massenkampfes klar herauszuheben, ist die unabweisbare Aufgabe des kommenden Parteitages. Endlich aber spricht noch eine praktische Rücksicht gewichtig für die gründliche Behandlung der preußischen Wahlrechtsfrage. Der Parteitag wird sich unter vielem Ernsten auch mit den wenig erfreulichen Symptomen unseres Parteilebens zu befassen haben, die in der jüngsten Zeit zutage getreten sind. Das ungenügende Wachstum der Mitgliederzahl unserer Organisationen im Reich, wie namentlich der unbefriedigende Stand der Organisation im Zentrum des politischen Lebens, in Berlin – also just dort, wo man seit einem Jahrzehnt so ziemlich die ganze Energie und das ganze geistige Leben auf den Ausbau der Organisation gerichtet hat –, ferner der schmerzliche Rückgang der Abonnentenzahl mancher Blätter, wie des „Vorwärts" und der „Dresdener Volkszeitung", – alles das sind Zeichen, die zu denken geben und an denen auch der Parteitag nicht ohne ernste Prüfung wird vorbeigehen können. Freilich pflegen derartige Erscheinungen in der Regel Ergebnisse komplizierter und verschiedenartiger Ursachen zu sein, die auseinanderzuhalten und bloßzulegen Aufgabe eingehender Erörterungen sein müsste. Allein unter anderem gehört unseres Erachtens für eine Kampfpartei wie die unsere mit an erster Stelle die Frage: haben wir nicht zu einem bedeutenden Teil selbst die Lauheit der Massen verschuldet? Haben wir nicht deshalb viele im Wahlkampf neugewonnenen Elemente des Proletariats nicht zu halten vermocht, weil in unseren Organisationen das Leben zu schwach pulsiert, weil der Mechanismus, die bürokratische Seite des Organisationsapparates, sich zu sehr ausgewuchert hat und die ideelle Seite, das Gedankenleben, die geistige Regsamkeit der Mitglieder erdrückt? Oder anders gefasst: haben wir nicht vielleicht deshalb Tausende von Neugewonnenen nicht dauernd an uns zu fesseln, weitere aber Tausende, die uns noch fern stehen, nicht für uns zu gewinnen vermocht, weil wir keine großen Massenaktionen vornehmen, weil wir die Massen nicht genügend hinzureißen verstehen, weil wir trotz starker Worte in den Wahlkämpfen oder auf dem preußischen Parteitag mit unserer Taktik im großen und ganzen nicht vorwärts kommen? Es ist zu bezweifeln, dass sich viele Genossen fänden, die mit gutem Gewissen alle diese Fragen ohne weiteres mit einem glatten Nein zu beantworten wagten. Ist es aber notwendig, unseren Organisationen wieder frisches Leben einzuflößen, die Massen zu begeistern, sie mit Mut, Zuversicht und Idealismus zu erfüllen, dann wäre es unseres Erachtens geboten, nicht in künstlichen Mitteln oder in rein technischen Griffen, wie z. B. in der Umgestaltung der Berliner Zahlabende allein das Heilmittel zu suchen. In erster Linie wäre es notwendig, in der wichtigsten politischen Aufgabe, die vor uns steht und uns den weiteren Weg versperrt, eine kräftige und entschlossene Initiative zu ergreifen. Wenn wir den preußischen Wahlrechtskampf aus der Versumpfung, in der er steckt, durch eine frisch-fröhliche Parole zu Massenaktionen bis zur letzten Konsequenz herausreißen, dann wird neues Leben rasch genug in unsere ganze Organisationsarbeit fließen. Nichts ist so geeignet, unsere Werbekraft wirksam, die Kleinarbeit des großen Heeres unserer Agitatoren frisch und freudig zu machen, wie ein allgemeiner Ruck, den die Partei ihrem Kampfe gibt, wenn sie in offener Front mit Entschlossenheit zu einer großen Aktion auszieht. In einer solchen Kampfperiode wird auch die Haltung unserer Presse notwendigerweise etwas von dem zündenden Feuer und dem kühnen Flug verspüren lassen, die allein neue Anhänger scharenweise zu gewinnen und zu fesseln imstande sind. Eine solche aufrüttelnde und belebende Parole im preußischen Wahlrechtskampf auszugeben, dazu ist der nächste Parteitag berufen. Er würde sich einer unverzeihlichen Versäumnis schuldig machen, wenn er dieser Aufgabe aus dem Wege ginge. |