Rosa Luxemburg 19060000 Die russische Revolution

Rosa Luxemburg: Die russische Revolution

[1649-1789-1905, Berlin o. J., S. 12-15. Nach Gesammelte Werke Band 2, 1972, S. 5-10]

Die heutige Revolution in Russland ist formal der letzte Ausläufer der Großen Französischen Revolution vor hundert Jahren. Das ganze verflossene Jahrhundert verrichtete im Grunde genommen nur die Arbeit, die ihm jene große historische Umwälzung aufgegeben hatte: die Konstituierung der Klassenherrschaft der modernen Bourgeoisie, des Kapitalismus, in allen Ländern. Im ersten Akt dieser durch ein Jahrhundert sich hinziehenden Krise hat die eigentliche Revolution die feudale mittelalterliche Gesellschaft aufgewühlt, das Unterste nach oben und das Oberste nach unten gekehrt, durchgerüttelt, in moderne Klassen erst roh und grob gehauen, ihre sozialen und politischen Bestrebungen und Programme einigermaßen geklärt und schließlich den Feudalismus in ganz Europa – durch die Napoleonischen Kriege – niedergeworfen. In den folgenden Etappen wird die durch die große Revolution angefangene Klassenspaltung der modernen bürgerlichen Gesellschaft im und durch den Klassenkampf fortgesetzt. In der Restaurationsperiode nach 1815 kommt die Hochfinanz ans Ruder und wird durch die Julirevolution gestürzt. In der Julirevolution gelangt die industrielle Großbourgeoisie zur Herrschaft und wird durch die Februarrevolution gestürzt. Die Februarrevolution führt endlich die breite Masse der mittleren und kleineren Bourgeoisie zur Herrschaft. In der Gestalt der heutigen Dritten Republik erreicht die moderne bürgerliche Klassenherrschaft ihre entwickeltste und letzte Form. Aber mittlerweile bildet sich in all diesen inneren Kämpfen der Bourgeoisie auch ein neuer Zwiespalt: der zwischen der gesamten bürgerlichen Gesellschaft und der modernen Arbeiterklasse. Die Bildung und Reife dieses neuen Klassengegensatzes läuft parallel mit den bürgerlichen Klassenkämpfen durch die ganze Geschichte des Jahrhunderts. Bereits die große Revolution zieht bei der ersten allgemeinen Aufrüttelung aller Elemente und aller inneren Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft auch das Proletariat und sein soziales Ideal – den Kommunismus – an die Oberfläche. Die kurze Herrschaft der Bergpartei1, die den Höhepunkt der Revolution bedeutete, war der erste geschichtliche Auftritt des modernen Proletariats. Allein dieses trat damals noch nicht selbständig auf, sondern steckte noch in den Falten des Kleinbürgertums und bildete zusammen mit ihm erst „das Volk", dessen Gegensatz zur bürgerlichen Gesellschaft unter der missverständlichen Form des Gegensatzes der „Volksrepublik" zur konstitutionellen Monarchie zum Ausdruck kam. In der Februarrevolution, in der furchtbaren Junischlacht trennt sich endlich auch das Proletariat als Klasse vollständig vom Kleinbürgertum und erkennt zum ersten Mal, dass es in der bürgerlichen Gesellschaft völlig isoliert, ganz auf sich selbst angewiesen und in tödlicher Feindschaft zu dieser Gesellschaft steht. Damit erst war die moderne bürgerliche Gesellschaft in Frankreich geformt, das von der Großen Französischen Revolution begonnene Werk vollendet.

Haben diese Hauptakte der dramatischen Geschichte der kapitalistischen Gesellschaft Frankreich zur Bühne gehabt, so war es nichtsdestoweniger die Geschichte Deutschlands, Österreichs, Italiens – aller modernen Länder, der ganzen kapitalistischen Welt zugleich, die sich in ihnen abspielte. Es ist nichts törichter und verkehrter, als wenn man die modernen Revolutionen als nationale Begebenheiten, als Ereignisse betrachten will, die nur in den Grenzen des betreffenden Staates in ihrer ganzen Gewalt wirken, auf die anderen, die „Nachbarstaaten" hingegen nur einen mehr oder weniger schwachen, aus der „Nachbarlage" sich ergebenden Einfluss ausüben. Die bürgerliche Gesellschaft, der Kapitalismus ist eine internationale, eine Weltform der menschlichen Gesellschaft. Es gibt nicht so viele bürgerliche Gesellschaften, so viele Kapitalismen, als es moderne Staaten oder Nationen gibt, sondern es gibt nur eine internationale bürgerliche Gesellschaft, nur einen Kapitalismus, und die scheinbar isolierte, selbständige Existenz der Einzelstaaten hinter ihren Staatsbarrieren ist bei der einen und unteilbaren Weltwirtschaft nur einer der Widersprüche des Kapitalismus. Deshalb sind auch alle modernen Revolutionen im Grunde genommen internationale Revolutionen. Es ist auch eine und dieselbe gewaltige bürgerliche Revolution, die sich in verschiedenen Akten in ganz Europa von 1789 bis 1848 abspielte und die moderne bürgerliche Klassenherrschaft auf internationaler Basis konstituierte.

Scheinbar bildete gerade das russische Reich eine Ausnahme in dieser Weltrevolution. Hier schien sich der mittelalterliche Absolutismus allen Stürmen im übrigen kapitalistischen Europa zum Trotz als ein unzerstörbares Stück der vorkapitalistischen Periode erhalten zu wollen. Nun liegt der Absolutismus auch in Russland von der Revolution bereits zerschmettert zu Boden. Was wir jetzt erleben, sind nicht mehr Kämpfe der Revolution gegen ein herrschendes, absolutes System, sondern umgekehrt Kämpfe der formalen Überreste des Absolutismus gegen eine bereits zur lebendigen Tatsache gewordene moderne politische Freiheit sowie Kämpfe unter den Klassen und Parteien um die Grenzen und die verfassungsmäßige Fixierung dieser Freiheit.

Formal ist die russische Revolution, wie gesagt, der letzte Ausläufer der Periode der bürgerlichen Revolutionen in Europa. Ihre nächste äußere Aufgabe ist die Schaffung einer modernen kapitalistischen Gesellschaft mit offener bürgerlicher Klassenherrschaft. Allein – und hier kommt eben die Tatsache zum Ausdruck, dass auch das scheinbar durch das ganze Jahrhundert hindurch starre und abgeschlossene Russland an der allgemeinen Umwälzung Europas wohl teilgenommen hat – diese formal bürgerliche Revolution wird in Russland nicht mehr durch die Bourgeoisie, sondern durch die Arbeiterklasse vollzogen. Und zwar ist die Arbeiterklasse nicht mehr ein Anhängsel des Kleinbürgertums, wie in allen bisherigen Revolutionen, sondern sie tritt als selbständige Klasse mit vollem Bewusstsein ihrer besonderen Klasseninteressen und Aufgaben auf, d. h. als eine von der Sozialdemokratie geführte Arbeiterklasse. Insofern knüpft die jetzige Revolution in Russland direkt an die Pariser Junischlacht des Jahres 1848 an und setzt die damals zum ersten mal vollzogene Trennung zwischen dem Proletariat und der gesamten bürgerlichen Gesellschaft von vornherein als fertiges Resultat in die Tat um. Gleichzeitig benutzt das Proletariat Russlands bei seiner revolutionären Aktion die gesamte geschichtliche Erfahrung und das ganze Klassenbewusstsein, das sich das internationale Proletariat seit jener ersten Lehre im Juni 1848 auch in der späteren parlamentarischen Periode in Frankreich, in Deutschland – überall angeeignet hat.

Dadurch wird die heutige russische Revolution zu einer so widerspruchsvollen Erscheinung wie keine der früheren Revolutionen. Die politischen Formen der modernen bürgerlichen Klassenherrschaft werden hier nicht durch die Bourgeoisie, sondern durch die Arbeiterklasse gegen die Bourgeoisie erkämpft. Die Arbeiterklasse tritt aber, obwohl oder vielmehr weil zum ersten Mal als selbständige klassenbewusste Schicht, nicht mit den utopisch-sozialistischen Illusionen auf, mit denen sie im Verein mit dem Kleinbürgertum in den früheren bürgerlichen Revolutionen auftrat. Das Proletariat in Russland stellt sich heute nicht zur Aufgabe, den Sozialismus zu verwirklichen, sondern erst die kapitalistisch-bürgerlichen Vorbedingungen zur Verwirklichung des Sozialismus zu schaffen. Aber zugleich bekommt die bürgerliche Gesellschaft dadurch, dass sie aus den Händen eines klassenbewussten Proletariats hervorgeht, ein ganz eigenartiges Gepräge. Die Arbeiterklasse in Russland stellt sich zwar nicht zur Aufgabe, den Sozialismus unmittelbar zu verwirklichen, doch ebenso wenig stellt sie sich zur Aufgabe, die unantastbare und ungetrübte Herrlichkeit der kapitalistischen Klassenherrschaft auf den Schild zu erheben, wie sie aus den bürgerlichen Revolutionen des vorigen Jahrhunderts im Westen hervorgegangen war.

Das Proletariat in Russland führt vielmehr gleichzeitig und in einer Aktion den Kampf sowohl gegen den Absolutismus wie gegen den Kapitalismus. Es will nur die Formen der bürgerlichen Demokratie, aber es will sie für sich, für die Zwecke des proletarischen Klassenkampfes. Es will den Achtstundentag, die Volksmiliz, die Republik – lauter Forderungen, die auf die bürgerliche Gesellschaft, nicht auf die sozialistische berechnet sind. Aber diese Forderungen stoßen hier zugleich so hart an die äußerste Grenze der Kapitalsherrschaft, dass sie als ebenso viele Übergangsformen zu einer proletarischen Diktatur erscheinen. Das Proletariat in Russland kämpft für die Verwirklichung der elementarsten bürgerlichen Verfassungsrechte: Vereins- und Versammlungsrecht, Koalitionsrecht, Pressfreiheit. Es benutzt aber diese bürgerlichen Freiheiten bereits jetzt, im Sturme der Revolution, zur Schaffung einer so mächtigen wirtschaftlichen und politischen Klassenorganisation des Proletariats – Gewerkschaften und Sozialdemokratie –, dass während aus der Revolution die formal zur Herrschaft berufene Klasse, die Bourgeoisie, in beispielloser Schwäche hervorgehen, die formal beherrschte, die Arbeiterklasse, eine beispiellose Machtstellung einnehmen wird.

So geht die heutige Revolution in Russland in ihrem Inhalt über die bisherigen Revolutionen weit hinaus, und sie kann in ihren Methoden weder an die alten bürgerlichen Revolutionen noch an die bisherigen – parlamentarischen – Kämpfe des modernen Proletariats anknüpfen. Sie hat eine neue Kampfmethode geschaffen, die ihrem proletarischen Charakter wie der Verbindung des Kampfes um die Demokratie mit dem Kampfe gegen das Kapital entspricht – den revolutionären Massenstreik. Sie ist also nach Inhalt und Methoden ein ganz neuer Typus der Revolution. Formal bürgerlich-demokratisch, in ihrem Wesen proletarisch-sozialistisch, ist sie sowohl nach Inhalt wie Methoden eine Übergangsform von den bürgerlichen Revolutionen der Vergangenheit zu den proletarischen Revolutionen der Zukunft, in denen es sich bereits um die Diktatur des Proletariats und die Verwirklichung des Sozialismus handeln wird.

Dies ist sie nicht nur logisch, als ein bestimmter Typus, sondern auch historisch, als Ausgangspunkt eines bestimmten gesellschaftlichen Klassen- und Kräfteverhältnisses. Die Gesellschaft, die aus der so eigenartigen Revolution in Russland hervorgehen wird, kann unmöglich jener ähneln, die aus den früheren Revolutionen im Westen nach 1848 hervorgegangen war. Die Macht, die Organisation, das Klassenbewusstsein des Proletariats werden in Russland nach der Revolution so hoch entwickelt sein, dass sie den Rahmen einer „normalen" bürgerlichen Gesellschaft auf Schritt und Tritt überschreiten werden. Bei gleichzeitiger Schwäche und Verzagtheit einer ihren Untergang fühlenden Bourgeoisie ohne jede politische und revolutionäre Vergangenheit wird das eine Kombination von Kräften ergeben, bei der das Gleichgewicht der bürgerlichen Klassenherrschaft fortwährend gestört wird. Es wird dies also gleichfalls eine neue Phase in der Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft eröffnen, die angesichts des mangelnden stabilen Gleichgewichts der Klassenverhältnisse fortwährende Stürme durchmachen wird, Stürme, die mit größeren oder geringeren Pausen, mit größerer oder geringerer Vehemenz doch keinen anderen Ausweg finden können als die soziale Revolution – die Diktatur des Proletariats.

Dies alles bezieht sich zunächst auf Russland. Allein genau so, wie die Schicksale Russlands und des gesamten Europas in den französischen Revolutionen durch die Schlachten auf dem Pariser Pflaster entschieden wurden, ebenso werden jetzt nicht nur die Geschicke der russischen Gesellschaft, sondern der ganzen kapitalistischen Welt auf den Straßen Petersburgs, Moskaus, Warschaus entschieden. Die Revolution in Russland und das eigenartige gesellschaftliche Gebilde, das aus ihr hervorgehen wird, können nicht umhin, die Klassenverhältnisse auch in Deutschland und überall mit einem Ruck zu verschieben. Mit der russischen Revolution schließt die nahezu 60jährige Periode der ruhigen, parlamentarischen Herrschaft der Bourgeoisie. Mit der russischen Revolution geraten wir bereits in die Übergangsperiode von der kapitalistischen zur sozialistischen Gesellschaft. Wie lange diese Übergangsperiode dauern mag, ist lediglich für politische Wetterpropheten interessant. Für das internationale klassenbewusste Proletariat ist nur wichtig die stärkende, klärende Einsicht in die nahe Zukunft dieser erlösenden Periode sowie in die Notwendigkeit, in den kommenden Stürmen so schnell an Zähigkeit, Klarheit und Heroismus zu wachsen, wie jetzt das russische Proletariat vor unseren Augen täglich und stündlich wächst.

1 Die Bergpartei bildete den radikalen Flügel der Gesetzgebenden Versammlung in der Großen Französischen Revolution. Von Juni 1793 bis Juli 1794 übte sie die Herrschaft in Form der revolutionär-demokratischen Diktatur des Jakobinerblocks aus.

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