Rosa Luxemburg 19130611 Die zweite Lesung der Wehrvorlage

Rosa Luxemburg: Die zweite Lesung der Wehrvorlage

[Leipziger Volkszeitung, Nr. 132 vom 11. Juni 1913. Nach Gesammelte Schriften, Band 3, 1973, S. 234-237]

Die von unserer Fraktion gegenüber der Wehrvorlage eingeschlagene Taktik hat mit gutem Fug und Recht eine lebhafte Erörterung in der Parteipresse und den Parteiversammlungen hervorgerufen. Unsere Abgeordneten können sich wohl selbst nur aufrichtig freuen, wenn ihr Tun und Lassen so aufmerksame Teilnahme und eingehende Kritik in breiten Parteikreisen erweckt: Anders ist ja jene normale Fühlung zwischen den Massen und ihren gewählten Vertretern nicht herzustellen, ohne die die Vertreter auch in ihrer parlamentarischen Aktion in der Luft schweben würden. Anderseits handelt es sich diesmal um eine eigentümliche Situation, in der die Fraktion auf eigene Verantwortung eine Entscheidung zu treffen hatte, ohne im ausgefahrenen Geleise bequem „nach Brauch und Sitte" fahren zu können.

Die Fraktion hatte Ende Mai zu entscheiden, ob der ersten Lesung der Wehrvorlage gleich die zweite folgen oder ob sich an die erste Lesung der Wehrvorlage nun die Verhandlungen über den Wehrbeitrag und die Deckungsvorlage anschließen sollten. Unsere Fraktion entschied sich für den ersteren Weg und entschied damit vorerst den Gang der Dinge. Hat sie damit richtig gehandelt? Hat sie die Interessen der Partei am besten wahrgenommen? Die Antwort hängt unseres Erachtens ganz von der Begründung und den weiter verfolgten taktischen Absichten der Fraktion ab.

Wenn sich unsere Abgeordneten auf den vom Stampferschen Büro und vom „Vorwärts" vertretenen Standpunkt stellen sollten, wonach alles darauf ankäme, da die Annahme der Wehrvorlage ja schließlich sowieso gesichert sei, mit ihr reinen Tisch zu machen, damit den Nationalliberalen in den Deckungsfragen der Widerstand gegen die Lockungen und Pressionen der Schwarzblauen erleichtert werde, so wird, wie sicher anzunehmen ist, eine solche Position bei der großen Mehrheit der Partei durchaus kein Verständnis und keine Gegenliebe finden. Für die schwankende Tugend des Liberalismus ist uns durch zahllose Erfahrungen nachgerade eine zu gesunde Skepsis anerzogen worden, als dass irgendwelche schlauen und feinen Kombinationen zur künstlichen Unterstützung dieser zarten Blume für die sozialdemokratische Taktik ernsthaft in Betracht kommen dürften. Dergleichen spinnwebartige Netze der Politik, die der leiseste Windhauch in Fetzen reißt, überlassen wir am liebsten dem ewig hoffnungsfrohen Freisinn. Die Politik der Partei des Proletariats muss auch im Parlament in jedem Stück — zumal in einer so wichtigen Frage — von großen, klaren und einfachen Linien vorgezeichnet sein.

Es liegt zweifellos im Interesse der Partei, ihren ganzen Einfluss in die Waagschale zu werfen, um die Kosten des Militarismus möglichst von den Schultern des arbeitenden Volkes auf die Besitzenden abzuwälzen. Ebenso zweifellos ist es aber, dass der Schwerpunkt, das Hauptaugenmerk und der eigentliche Zielpunkt unserer Aktion nimmermehr in die Deckungsfragen, sondern in die Wehrvorlage selbst gelegt werden muss. Nicht die Frage der Kosten, sondern die politische Seite des Militarismus muss immer die Achse unserer Agitation, also auch unserer parlamentarischen Aktion bleiben. Ja, es ergibt sich vielmehr angesichts der eventuell angenommenen Besitzsteuern für uns die dringende Pflicht, mit allem Nachdruck die Massen im voraus darauf hinzuweisen, dass auch alle sogenannten Besitzsteuern in letzter Linie aus dem arbeitenden Volke herausgeschunden werden und dass der heutige Militarismus, mit wie ohne die Besitzsteuern, der mächtigste Pfeiler der politischen Knechtung des Proletariats ist.

Um in diesem Sinne die jetzige Militärvorlage zur Aufrüttelung der Massen auszunützen, dazu war und ist es notwendig, die endgültige Erledigung sowohl des Wehrgesetzes wie des Deckungsgesetzes möglichst hinauszuschieben. Sollte die Taktik der Fraktion dahin gezielt haben, die Erledigung der Wehrvorlage umgekehrt auf schleunigstem Wege zu ermöglichen, die Frist ihrer Annahme abzukürzen, dann würden unsere Abgeordneten unter keinen Umständen die Zustimmung der Partei erwarten dürfen, und keine Kombinationen im Zusammenhang mit den Aussichten der Deckungsvorlage wären imstande, diese Taktik zu rechtfertigen.

Allein, die Annahme selbst erscheint kaum glaublich.

Die Absicht, die Annahme des Wehrgesetzes zu beschleunigen, lag unserer Fraktion sicher so fern, wie sie für die gesamte Partei undenkbar ist. Die Nationalliberalen und der Freisinn haben freilich ein wohlverstandenes Interesse daran, die Wehrvorlage nicht nur von der Deckungsfrage zu trennen, sondern sie auch schleunigst der Regierung zu apportieren. Hierin liegt aber trotz des beabsichtigten teilweisen Zusammenwirkens bei der Deckungsvorlage der prinzipielle Gegensatz zwischen unserer Partei einer- und den Liberalen anderseits. Diesen grundsätzlichen Standpunkt hat nun die Fraktion volle Möglichkeit, jetzt im Plenum mit der nötigen Deutlichkeit in den Vordergrund zu stellen. Ist auf die erste Lesung der Wehrvorlage sogleich die zweite gefolgt, so ergibt sich daraus mitnichten, dass sich an die zweite Lesung nun auch die dritte prompt anschließen müsste. Weder die Geschäftsordnung des Reichstags — die nur eine Minimalfrist zwischen der zweiten und dritten Lesung des Gesetzes vorsieht — noch die Sachlage selbst bedingen dies im geringsten. Im Gegenteil, das Zentrum und die konservativen Fraktionen haben bereits im Plenum ihre Verwahrungen gegen die endgültige Erledigung der Wehrvorlage vor der Deckungsvorlage ausgesprochen. In bezug auf die zweite Lesung hatten diese Verwahrungen nur den Wert eines Stoßseufzers, weil unsere Partei die Waagschale gegen die Schwarzblauen herabzog. Aus demselben Grunde jedoch hat unsere Fraktion die volle Möglichkeit, nunmehr im Plenum — nach Erledigung der zweiten Lesung — mit dem Zentrum und den Konservativen eine Mehrheit gegen die sofortige Vornahme der dritten Lesung und für ihre Hinausschiebung bis nach der Deckungsvorlage herzustellen. Nur in einem Falle konnte sie es nicht: wenn sie sich nämlich bereits in der Budgetkommission irgend jemandem gegenüber endgültig festgelegt, sich von den Liberalen die Hände hätte binden lassen. Doch dies ist völlig ausgeschlossen. Frei, wie sie war, in ihren Entschlüssen, bleibt unsere Fraktion einzig an Rücksichten auf die Interessen der Partei, auf die großen Gesichtspunkte der Agitation gebunden. Und da diese eine Hinausschiebung der endgültigen Annahme des Wehrgesetzes jedenfalls erheischen, so hat unsere Fraktion gerade hier eine gute Gelegenheit, die Gegensätze der bürgerlichen Parteien zum Nutzen der Arbeitersache auszuspielen.

Würden unsere Genossen im Reichstag diesen Weg einschlagen, dann sehen wir in der jetzt eingetretenen Plenarverhandlung durchaus keinen Schaden. Im Gegenteil. Nach wochenlangen stillen Verhandlungen im Kämmerlein der Budgetkommission wäre die Wehrvorlage nun wieder für eine Zeitlang vor das breite Licht der Öffentlichkeit gezogen. Die Plenarverhandlungen der zweiten Lesung bieten eine günstige Gelegenheit, die Massenagitation von neuem zu entfachen, den neuen Stoff, den der Reichstag bietet, wieder in großen Versammlungen und Demonstrationen zu verwerten, den Kampfgeist wieder Zu beleben.

Dies zu besorgen ist aber Sache nicht der Fraktion vor allem, sondern der Partei, der Organisationen selbst. Es will uns nicht als das beste Mittel zur Aufrüttelung der Massen heute erscheinen, ihre ganze Aufmerksamkeit und ihre Erwartungen auf den Hokuspokus der technisch-parlamentarischen Schachzüge zu lenken. Psychologisch unvermeidlich ergibt sich dann in den weiten Volkskreisen die Vorstellung, dass die eigentlichen Handelnden, die Helden des Dramas — die Parlamentarier seien, während die Masse nur die Zuschauer bilde. In der Massenaktion liegt auf jeden Fall, im ersten und im letzten Grunde der Schwerpunkt. Sie zu entfachen, mit großen Massenversammlungen und Demonstrationen die zweite Lesung der Wehrvorlage im Reichstag zu begleiten, das ist jetzt Pflicht und Aufgabe der Genossen im Lande. Dass die Wehrvorlage schon nach der zweiten Lesung der Budgetkommission „so gut wie angenommen ist", kann nur jemanden beirren, der, wie die Chemnitzer „Volksstimme" scheint's, der trügerischen Hoffnung lebte, die Fortschritte des Imperialismus im heutigen bürgerlichen Parlament faktisch verhindern zu können. Wem es auf die Ausnützung der Militärvorlage zur Mobilmachung der Volksmassen ankommt, der kann die zweite Lesung im Plenum als neue Gelegenheit ergreifen. Und wenn sich die Masse der Partei selbst tüchtig rührt, dann wird auch die Fraktion naturgemäß dafür sorgen müssen, dass ihr der Anlass und die Möglichkeit dazu solange wie möglich erhalten bleibt.


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