Rosa Luxemburg: Die badische Budgetabstimmung [Erschienen in der „Bremer Bürgerzeitung", Nr. 185, 10. August 1910. Nach Gesammelte Werke, Band 3, 1925, S. 450-458] Die Vorgänge in Baden werden in auffälliger Weise überall dort, wo sie eine gebührende Verurteilung finden, hauptsächlich als ein großer Disziplinbruch behandelt. Es ist die wissentliche, frivole Zuwiderhandlung gegenüber dem ausdrücklichen Beschluss der obersten Instanz, dem ausdrücklichen Willen der Gesamtpartei, was die weitesten Kreise unserer Parteigenossen so tief empört und was in ihnen den starken Wunsch auslöst, dass der Magdeburger Parteitag durch energisches Vorgehen ähnlichen Frivolitäten ein für allemal den Riegel vorschieben möge. Es ist der gesunde proletarische Instinkt, der sich hier gegen die Erhabenheit jener Herrenmenschennaturen mit parlamentarischem Mandat aufbäumt, die mit Zynismus den Willen der großen „Parteiherde" mit Füßen treten, weil ihnen das gnädige Lächeln einer bürgerlichen Ministerexzellenz wichtiger erscheint, als der Beifall Hunderttausender Proletarier. Jeder einfache Arbeiter, der in dieser Weise bewusst die Disziplin und die Beschlüsse seiner Organisation brechen würde, wäre ungesäumt und unnachsichtlich aus der Organisation ausgeschlossen, sei es eine gewerkschaftliche oder eine Parteiorganisation. Die Partei kann aber unmöglich zweierlei Recht haben – für einfache Proletarier und für Parlamentarier; die Parteidisziplin, die nur ein mechanisches Mittel ist, den klassenbewussten Willen der proletarischen Masse dem einzelnen zur Richtschnur seiner Tat zu machen, muss entweder für alle gleichermaßen gelten, oder sie existiert überhaupt nicht. Ja, gerade die offiziellen Vertreter der Partei nach außen, die parlamentarischen Vertreter, sind in erster Linie und noch viel mehr wie jeder einfache Soldat unserer Armee, zur strikten Beachtung des Parteiwillens und der Disziplin verpflichtet, denn jede Verfehlung auf diesem exponierten Posten engagiert die Partei im ganzen und ist geeignet, sie unendlich mehr zu kompromittieren und zu schädigen, als noch so arge Verfehlungen irgendeines namenlosen Proletariers aus den Reihen der großen Armee. Das empfinden und so denken die Genossen in der großen Mehrzahl, und daraus ergibt sich von verschiedenen Seiten der ungeduldige Ruf nach exemplarischer Bestrafung der badischen Budgetbewilliger und Hofgänger durch Ausschluss aus der Partei, um ein für allemal ein warnendes Exempel zu statuieren und für die Zukunft der Wiederholung ähnlicher Fälle vorzubeugen. So erfreulich die Entschlossenheit ist, die aus solchen Stimmen spricht, so ist es doch notwendig, zu sagen, dass damit die Frage noch bei weitem nicht erschöpft wird. Die Parteidisziplin ist in einer proletarischen Klassenpartei eine so wichtige Bedingung der Einheitlichkeit der Aktion und deshalb eine so unentbehrliche Lebensbedingung der Partei selbst, dass sie nicht hoch genug eingeschätzt und nicht kräftig genug geschützt werden kann. Allein im vorliegenden Falle heißt es, die ganze Tragweite der Sache nicht entfernt würdigen, wenn man sie hauptsächlich formalistisch als Disziplinbruch behandeln und bestrafen will. Die eigentliche Bedeutung des Vorfalls und die tragischste Seite liegt in dem viel zu wenig beachteten Umstande, dass das Verhalten der badischen Landtagsfraktion fast ungeteilte, rückhaltlose Zustimmung der badischen Parteiorganisationen findet. Mag bei diesen Vertrauenskundgebungen der formelle Ehrenstandpunkt eine Rolle spielen, wonach es als Pflicht gilt, die eigenen Abgeordneten gegen alle Anfechtungen treu zu schützen. Mag auch ein großer Trotz gegen „Norddeutschland" darin zum Ausdruck kommen, dergestalt, dass man sich von dem Entrüstungssturm jenseits der Mainlinie nicht beirren lassen und just mit einem Platzregen von Vertrauensvoten für die Landtagsfraktion auftrumpfen will. Zur eigentlichen Erklärung des Verhaltens der badischen Parteiorganisationen in einer so hochwichtigen Angelegenheit, wo es sich um Lebensfragen der Sozialdemokratie handelt, genügen diese kleinen psychologischen Motive nicht. In der Hauptsache ist es doch das Fehlen des richtigen Verständnisses für die Politik des proletarischen Klassenkampfes und die Grunderfordernisse des revolutionären Standpunktes der Sozialdemokratie, was hier zum Ausdruck kommt. Der Sinn für die grundsätzlichen Unterschiede zwischen der parlamentarischen Taktik der Sozialdemokratie und derjenigen der bürgerlichen Parteien, das Verständnis dafür, dass die positive Arbeit der Sozialdemokratie mit ihrer grundsätzlichen Stellung als revolutionäre Partei des Proletariats wohl vereinigt werden kann und nur durch diese Vereinigung fruchtbar und erfolgreich wird – das alles muss in den weiten Kreisen der badischen Genossen mangeln, wenn sie die Haltung ihrer Landtagsfraktion gutheißen können. Wäre das nicht der Fall, wäre der Klasseninstinkt, das lebendige Gefühl für die proletarische Politik in den Massen der badischen Genossen so stark entwickelt, wie es eigentlich sein sollte, dann hätten auch die badischen Parlamentarier es nicht gewagt, so weit zu gehen. Da sie die elementarsten Grundsätze der sozialdemokratischen Taktik in bewusster Rebellion gegen die Gesamtpartei so offenkundig mit Füßen traten, mussten sie wissen, was sie ihren eigenen Parteigenossen bieten durften. Freilich ernten sie dabei zum Teil nur die Früchte der systematischen Verwirrung, die sie selbst seit Jahren in den Reihen der badischen Partei säen, ein Werk, dem eine so geartete Presse, wie das von Kolb redigierte Karlsruher Blatt, vorzügliche Dienste leistet. Wie Italien, wie Frankreich zeigen, dienen die opportunistischen Parlamentarier in erster Linie dazu, die proletarische Masse der Partei zu korrumpieren. Allein, was taugt die Klassenaufklärung der Proletarier, was taugt ihre sozialdemokratische Schulung, was ihre Parteitradition, wenn sie sich durch ein Dutzend Parlamentarier und Journalisten korrumpieren und von der Klassenpolitik abbringen lassen? Vom Standpunkte der Sozialdemokratie sollen ja die Parlamentarier nur Diener, nur gehorsame Werkzeuge der aufgeklärten Arbeitermasse sein, und es ist bereits ein sicheres Symptom der stark verbürgerlichten Verhältnisse, wenn ein Dutzend Leute mit Mandat einen so ausschlaggebenden Einfluss auf die Parteimasse ausüben, dass sie sie systematisch korrumpieren können. Blicken wir von der badischen Landtagsfraktion auf die hinter ihr stehenden Proletarier, so verwandelt sich die Handlungsweise der Parlamentarier in den äußeren Ausdruck einer in den badischen Parteikreisen weit verbreiteten Auffassung vom politischen Kampf und von den Aufgaben der Sozialdemokratie. Das Pronunziamento der Frank und Kolb deckt uns, nach den vielen früheren in den vergangenen Jahren, ein tief liegendes Übel auf. Und wenn wir noch die Haltung der Parteipresse in Bayern, Württemberg und Hessen zu dem badischen Vorstoß in Betracht ziehen, dann wächst sich der Fall der badischen Budgetabstimmung und der Hofgängerei zu einem Missstand des Parteilebens aus, den es stark unterschätzen heißt, wenn man ihn als „Disziplinbruch" behandeln und abstellen will. Bei den Frank und Kolb mögen bewusster Disziplinbruch und bewusste Provokation der Gesamtpartei vorliegen, – den biederen Genossen in Neckarau, Bruchsal, Furthwangen-Sulzfeld und Karlsruhe liegt sicher jede Provokation fern. Aus ihrer uneingeschränkten Zustimmung zu der Budgetabstimmung der Landtagsfraktion spricht etwas viel Betrübenderes als „Disziplinbrüche": eine Auffassung, die kleinbürgerliche Reformpolitik mit sozialdemokratischem Klassenkampf verwechselt. Deshalb würde die Frage mit dem Ausschluss der badischen Fraktion aus der Partei nicht gelöst. Wir können nicht die Landtagsabgeordneten ausschließen, die hinter ihnen stehenden Parteiorganisationen aber, die ihnen volle Zustimmung ausdrücken, ignorieren. Zweierlei Recht für Parlamentarier und einfache Genossen können wir auch nicht in diesem umgekehrten Sinne gebrauchen, dass wir den Arbeitern hingehen lassen, was wir bei ihren Mandataren bestrafen. Die Tausende badischer Genossen aber, und dazu noch die vielen sonstigen süddeutschen Genossen, die ihnen zustimmen, können wir nicht aus der Partei ausschließen. Eine Spaltung in norddeutsche und süddeutsche Sozialdemokratie können wir nicht aus dem vorliegenden Anlass selbst vollziehen. Und zwar nicht etwa deshalb, weil wir „vor den Reichstagswahlen stehen", oder deshalb, weil wir vor der Spaltung Angst hätten, falls sie wirklich unvermeidlich wäre, sondern weil es sich um Tausende von Proletariern handelt, die unser eigen Fleisch und Blut sind, die wir nicht „bestrafen", sondern für unsere Auffassung gewinnen müssen. Die sozialdemokratische Idee darf nicht vor der Mainlinie ihren Bankrott erklären, und wenn wir nicht daran verzagen, die Arbeiter des Zentrums für unsere Grundsätze zu erobern, so dürfen wir um so weniger an der Aufgabe scheitern, die kleinbürgerlich angehauchte Arbeiterschaft des Südens, die sich schon zur Sozialdemokratie zählt, für die grundsätzliche Auffassung des revolutionären Klassenkampfes zu gewinnen. Und so entsteht vor allem die Frage, ob die Gesamtpartei in dieser Hinsicht auch wirklich ihre Pflicht erfüllt, ob sie alles getan hat, um in den weitesten Parteikreisen das politische Gewissen zu schärfen und den revolutionären Klasseninstinkt zu festigen. Die erste Verfehlung der badischen Fraktion besteht in der gänzlichen Missachtung des republikanischen Charakters unserer Partei. Hat nun die Partei in dieser Beziehung nicht arge Unterlassungssünden auf dem Gewissen? Wäre die republikanische Losung bei jeder wichtigeren Gelegenheit gebührend in den Vordergrund gestellt, wäre in den breitesten Parteikreisen durch systematische Agitation das Bewusstsein geschärft worden, dass ein Sozialdemokrat zugleich grundsätzlich Republikaner ist, dann hätte eine so eklatante Selbsterniedrigung wie die in Baden unmöglich vorkommen können, oder sie hätte anders einen Entrüstungssturm im eigenen badischen Lager hervorrufen müssen. Die republikanische Agitation wird aber seit Jahrzehnten bei uns völlig vernachlässigt. Aus einem so dringenden Anlass z. B. wie bei der Krise, die an die „Daily-Telegraph"-Affäre1 anknüpfte, hat unsere Partei im Reichstag nicht mit einer Silbe die republikanische Losung vertreten, sie ist nicht über die freisinnige Losung der Ministerverantwortlichkeit hinausgegangen. Aus Anlass der jüngsten Erhöhung der Zivilliste ist gleichfalls nichts für die Verbreitung der republikanischen Grundsätze getan worden. Was Wunder, wenn eine ganze Generation von Parteigenossen, die nicht mehr den scharfen Wind des Sozialistengesetzes zu spüren bekam, seitdem aufgewachsen ist, ohne sich überhaupt um den republikanischen Charakter unserer Partei zu kümmern. Die übliche Phrase von der „Selbstverständlichkeit" des republikanischen Bekenntnisses für jeden Sozialdemokraten war uns in dieser ganzen Zeit nichts als eine bequeme Ausrede. Die Feindschaft gegen den Militarismus ist nicht minder „selbstverständlich" für jeden Sozialdemokraten, und doch widmen wir jahrein, jahraus Tausende von Versammlungen, Zeitungsartikeln, Flugschriften der Aufgabe, diese „Selbstverständlichkeit" den Volksmassen zum Bewusstsein zu bringen. Für die republikanische „Selbstverständlichkeit" haben wir bis jetzt rein gar nichts getan, und so erleben wir, dass einem ganzen Teil der Parteimasse im Süden heute „selbstverständlich" erscheint, wenn Sozialdemokraten im Vorzimmer des Großherzoglich Badischen Hofes Kratzfüße machen. Die zweite Wurzel der badischen Seitensprünge liegt in der Überschätzung des Parlamentarismus, dem die Rücksichten auf die Massenagitation geopfert werden. Hat nun die Partei nicht auch ihre Sünden in Bezug auf die Großziehung des parlamentarischen Kretinismus auf dem Gewissen, nur dass diese im Zusammenhang mit den Reichstagswahlen getätigt wird? Erleben wir nicht gerade im Moment ein merkwürdiges Beispiel dieses parlamentarischen Kretinismus, da die Vorgänge in Baden von allen Seiten mit dem Entrüstungsruf begrüßt werden: So etwas wagt ihr uns anzutun, während wir vor den Reichstagswahlen stehen und eine so glänzende Situation haben? Man bedenke! Die von der badischen Landtagsfraktion eingeschlagene Taktik greift an den Lebensnerv, an die Existenzbasis der Sozialdemokratie. Man verallgemeinere diese Taktik auf ganz Deutschland, und die Sozialdemokratie hat einfach aufgehört zu existieren, sie ist zum verächtlichen Spielball im Zank der bürgerlichen Parteien, zum lächerlichen Zerrbild einer sozialistisch-monarchistisch-reformerischen Regierungspartei geworden. Es handelt sich um Sein oder Nichtsein der Sozialdemokratie in der Zukunft, – und die ganze Sache wird vor allem als eine Frage der Konjunktur bei den nächsten Reichstagswahlen behandelt! Als ob uns Hunderte von Mandaten entschädigen könnten, wenn uns die Gefahr droht, den Mutterboden der unversöhnlichen Klassenpolitik zu verlieren. Und ist ferner nicht erst jüngst eine imposante Massenaktion im preußischen Wahlrechtskampf einfach abgebrochen worden, damit wir uns ungestört den Vorbereitungen für die Reichstagswahlen über ein Jahr widmen können? In Norddeutschland haben wir den Kultus der Reichstagswahlen, mit dem man das ganze Parteileben im Bann hält, auf dem kleinbürgerlichen Boden des Südens wächst sich dieser Kult des Parlamentarismus zu entsprechend verzerrten Karikatur aus. Endlich aber müssen wir uns die Hauptfrage vorlegen: Wann kümmert sich die Partei um die Vorgänge, um die Zustände im Süden? Wenn ein weltkundiger Skandal in der Art der Budgetannahme vorliegt – um das tägliche Treiben der Parteileitung, der Landtagsfraktion, der Presse im Süden kümmert sich die Gesamtpartei nie. Wenn so krasse Verstöße gegen die sozialdemokratische Politik vorliegen, wie die Unterlassung jeder Massenagitation zur Bekämpfung der reaktionären Gemeindewahlrechtsreform in Baden, wie die Zurückstellung der sozialdemokratischen Forderungen bei der Behandlung des Schulgesetzes im badischen Landtag, da schweigt unsere Parteipresse und kümmert sich weder um ausreichende Informationen über das Parteileben im Süden, noch um gehörige Kritik und Gegenaktion. Schon seit zwölf Jahren befindet sich die Partei überhaupt allen revisionistischen Tendenzen gegenüber in der Defensive und spielt die Rolle des Nachtwächters, der nur dann auf dem Plan erscheint und ins Horn tutet, wenn auf der Straße ein Skandal passiert. Die Ergebnisse zeigen, dass mit dieser Methode dem Übel nicht zu steuern ist. Wir müssen uns klar werden, dass der Revisionismus nur durch systematische Gegenwirkung tagein tagaus überwunden werden kann. Die ganze Gestaltung der Parteiagitation und -aktion muss diesem Krebsschaden Rechnung tragen. Nicht durch äußere formalistische Verbote und durch Disziplin allein, sondern vor allem durch möglichste Entfaltung einer großen Massenaktion, wo und wann die Situation es erlaubt, einer Massenaktion, die die breiten Kreise des Proletariats auf den Plan ruft, die größere Horizonte des politischen Lebens zeigt, die angesichts der großen Aufgaben das Gefühl der Zusammengehörigkeit und der Einheit der Sozialdemokratie in ganz Deutschland stärkt, nur so können die schleppenden Nebel des parlamentarischen Kretinismus, der Bündnispolitik mit der Bourgeoisie und der kleinbürgerliche Kantönligeist verscheucht werden. Von diesem Standpunkt ist es höchst kurzsichtiges Beginnen, nicht einsehen zu wollen, dass man durch die Erstickung der preußischen Wahlrechtsbewegung, die in ihrer Weiterentwicklung wohl die Parteimassen auch im Süden hätte ergreifen müssen, dass man durch das Begräbnis, das man der Maifeier in den letzten Jahren auf dem Wege der Abmachungen mit der Gewerkschaftszentrale bereitet hat, demselben Revisionismus mächtigen Vorschub leistet, gegen den man jetzt in höchster Erregung nach „Riegeln" sucht. Die Antwort auf die badischen Vorgänge muss der Parteitag in Magdeburg deshalb bei allen Punkten der Tagesordnung geben: bei der Frage der Maifeier, des Wahlrechtskampfes, beim Punkt Agitation und Presse, und es ist nur zu bedauern, dass man – dieser Zusammenhänge gar nicht eingedenk – in den Berliner Parteiversammlungen den badischen Parteistreit überhaupt als den einzigen Gegenstand des kommenden Parteitages behandelt, alle übrigen Fragen des Parteilebens aber, die auf der Tagesordnung stehen, einfach vergessen hat. Strenge proletarische Klassenpolitik auf allen Gebieten, offene republikanische Agitation in Wort und Schrift, möglichste Entfaltung großer Massenaktionen bei entsprechender politischer Situation, entschlossene Weiterführung der Kampfweise und der Kampfformen der Sozialdemokratie auf neue Bahnen – das ist der einzige wirksame „Riegel", der uns in Zukunft vor den Streichen des Revisionismus bewahren und die Proletarier im Süden für die Klassenpolitik und den revolutionären Standpunkt der Sozialdemokratie gewinnen kann. Um dies unzweideutig zu erreichen, muss die Partei aber in erster Linie ganz unzweideutig zeigen, dass sie das zu bleiben entschlossen ist, was sie in ihrer überwiegenden Mehrheit bis jetzt war. Geht es nicht an, die badischen Genossen aus der Partei auszuschließen, so ist es auf der anderen Seite noch weniger angängig, Leute in der Stellung offizieller Parteivertreter zu belassen, die den Grundsätzen der Partei bewusst zuwiderhandeln. Die badischen Landtagsabgeordneten vertreten nicht die Parteibasis allein, sondern die Gesamtpartei Deutschlands. Das folgt nicht bloß aus der allgemeinen politischen Auffassung, wonach der parlamentarische Abgeordnete einer Partei nicht nur den eigenen Wahlkreis, sondern die ganze Partei durch sein Tun und Lassen engagiert. Machen wir doch mit Recht auf Schritt und Tritt das Zentrum, die Nationalliberalen, den Freisinn für die Worte und Abstimmungen verantwortlich, die irgendwelche ihrer Parlamentarier in irgendeinem Landtag produzieren. Für die Sozialdemokratie ergibt sich dies auch noch speziell aus unserer Parteigeschichte. Die badischen Genossen können unmöglich mit reinem Gewissen behaupten, es sei lediglich ihre eigene agitatorische Arbeit, es seien ihre Leistungen innerhalb des Ländchens, die ihnen die 20 Sitze im badischen Landtag eingetragen haben. Nein, es sind vor allem die Leistungen der Gesamtpartei, die vierzigjährige Aktion im Reichstag, das Sozialistengesetz, das enorme Wachstum der Sozialdemokratie im industriellen Norden, wo die politischen Geschicke Deutschlands entschieden werden, die kolossalen materiellen und geistigen Mittel, die hier in den Dienst der Arbeitersache gestellt wurden, was den Einfluss, das Ansehen und die Anhängerschaft der Sozialdemokratie auch in Baden zu der heutigen Stärke erhoben hat. Die 20 Landtagsmandate in Baden sind genau so wie jedes Reichstagsmandat die Frucht des halben Jahrhunderts unermesslicher Mühen und Opfer der gesamten Partei Deutschlands im Norden und im Süden, im Osten und im Westen. Nur als ein Teil dieses Ganzen, nur als eine kleine Phalanx der Riesenarmee haben die badischen Arbeiter Beziehung zu den von ihnen eroberten Landtagsmandaten. Es ist deshalb selbst bei der größten Rücksicht auf die Proletarier Badens und bei mildester Behandlung der Sache einfaches Gebot der Gerechtigkeit, es ist eine politische Selbstverständlichkeit, dass die badischen Genossen der Gesamtpartei nicht parlamentarische Vertreter aufzwingen können die den Willen und die Auffassung der Gesamtpartei zunichte machen. Die badische Parteimasse wollen und müssen wir im unsere Auffassung gewinnen, die parlamentarischen Vertreter aber, die durch ihre Handlungsweise die Partei kompromittieren und gerade das Werk der Verbreitung der sozialistischen Erkenntnis durchkreuzen, das wir für notwendig halten, sind unfähig, länger ihre Posten auszufüllen Dies auszusprechen, die 17 badischen Abgeordneten zur Niederlegung ihrer Mandate aufzufordern, ist das Minimum, was der Parteitag zu Magdeburg tun muss. Eine Dreimillionenpartei muss sich schon gefallen lassen, dass sich allerlei kleinbürgerliche Reformer à la Frank, Kolb, Quessel und sonstige, die auf keinem anderen Gebiete ein lockendes Betätigungsfeld finden, partout darauf versteifen, sich für Sozialdemokraten zu halten. Aber die Partei darf solche Personen nicht an ihre Spitze stellen und ihnen Ämter anvertrauen, in denen sie als Erzieher der Massen wirken sollen. Übrigens wird damit nicht ein neuer Tatbestand geschaffen. Die 17 sozialdemokratischen Mandate im badischen Landtag sind bereits verwirkt, sie sind durch die Handlungsweise der Fraktion zunichte gemacht, sie sind der Partei, der sie Arbeit und Opfer gekostet haben, bereits aus den Händen gerissen, aus sozialdemokratischen Sitzen zur Vertretung einer kleinbürgerlich-monarchistischen Reformpartei gemacht; indem die Partei die 17 Abgeordneten zur Niederlegung ihrer Mandate auffordert, wird sie nur das aussprechen, was ist. Dies Wenige und Einfache wird aber hier wie immer eine befreiende Tat sein. Wir brauchen uns dabei gar nicht die möglichen damit verbundenen Komplikationen zu verheimlichen. Es ist wohl denkbar, dass die badischen Rebellen trotz der Aufforderung der Partei an ihren Mandaten zu Unrecht weiter festhalten werden, indem sie sich auf ihre Wähler berufen. Auch solche Beispiele der Disziplinlosigkeit bietet die Geschichte des Opportunismus in Frankreich wie in Italien. Allein moralisch und wohl auch politisch, in den Augen der bürgerlichen Parteien, auf die es den badischen Landtagsabgeordneten so sehr ankommt, haben die Mandate nach der Aberkennung durch das höchste Forum der Gesamtpartei ihre Bedeutung verloren. Die weiteren Handlungen der Rebellen sind dann nicht mehr für die Partei bindend, können sie nicht mehr kompromittieren, und das ist die Hauptsache. In die Verwilderung der proletarischen Massen Badens durch die korrumpierende Politik der Fraktion im Landtag wird durch das entschlossene Wort der Sozialdemokratie Licht hineingetragen. Falls die 17 Landtagsabgeordneten dem Willen der Gesamtpartei weiter trotzen und ihre aberkannten Mandate behalten wollen, stellen sie sich selbst außerhalb der Partei, sie haben dann für die deutsche Sozialdemokratie zu existieren aufgehört. Der Entschluss des Parteitages wird somit klärend und befreiend wirken, er wird das proletarische Gewissen der breiten Parteikreise Badens aufrütteln und die Gesamtpartei offiziell von der Gemeinschaft mit revisionistischen Seitensprüngen loslösen. Sollten aber gar die badischen Genossen in ihrer Masse um der 17 Parlamentarier willen mit der Gesamtpartei offenen Krieg führen wollen – nun, die Partei kann unter diesen Umständen mit völliger Ruhe der Weiterentwicklung der Dinge entgegensehen. Wir wollen keine Spaltung der Partei suchen und herbeiführen. Sollte sie jedoch von den badischen Genossen mutwillig herbeigeführt werden, dann trägt die Gesamtpartei keine Schuld daran. Und es dürfte eine ganz kurze Zeitspanne genügen, um die badischen Genossen, die sich selbst ins Unrecht setzen würden, in das große Lager ihrer Kampfgenossen zurückzuführen. Jedenfalls darf sich die Partei durch keine Drohungen von dem abbringen lassen, was ihr Daseinsrecht erfordert. Die äußere Einheit der Partei darf niemals durch Anerkennung der inneren Uneinigkeit und Zersplitterung in der Aktion erkauft werden. Schwingt sich hingegen der Parteitag nicht zu der einfachen Aberkennung der verwirkten Mandate der 17 badischen Landtagsabgeordneten auf, dann bildet eine neue Resolution zur Verurteilung der badischen Kammerpolitik nach so vielen früheren bloß verlorene Worte. Und je schärfer diese Worte ausfallen, umso deutlicher werden sie die Ohnmacht der Partei beweisen, ihren Worten entsprechende Handlungen folgen zu lassen. 1 Am 28. Oktober 1908 veröffentlichte der „Daily Telegraph" ein Interview Wilhelm II., in dem er sich u. a. rühmte, England den Feldzugsplan in seinem Beutezug gegen die Burenrepubliken am Anfang des Jahrhunderts geliefert zu haben. Er bot sich an, mit England gemeinsam die „Probleme des Stillen Ozeans" zu lösen. Diese vom Kaiser ausdrücklich genehmigte Veröffentlichung führte zu einer der Krisen des persönlichen Regiments, in deren Verlauf dem Parlament Scheinkonzessionen gemacht und Bülow von Wilhelm II. davongejagt wurde. |
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