Rosa Luxemburg 19000530 Bilanz der Obstruktion

Rosa Luxemburg: Bilanz der Obstruktion

[Erschienen in der „Neuen Zeit", XVIII. Jahrgang, 2. Bd., 1899/1900. Nach Gesammelte Werke Band 3, 1925, S. 478-483]

Die Debatten über die lex Heinze1) im Reichstag sind unerwarteter Weise zu einem denkwürdigen Ereignis sowohl in der Geschichte des deutschen Parlamentarismus wie der deutschen Sozialdemokratie geworden: sie gaben unserer Partei den Anlass, zum ersten Male die schon längst in Belgien, Italien, Österreich bekannte Obstruktion anzuwenden.

Als ein Versuch der parlamentarischen Minderheit, unter Benutzung der parlamentarischen Rechte die Mehrheit an ihren Beschlüssen zu hindern, also den Parlamentarismus durch den Parlamentarismus selbst zu bekämpfen, die außerparlamentarische Mehrheit gegen die parlamentarische im Parlament zur Geltung zu bringen, bildet die Obstruktion dem Wesen nach ein Bindeglied und eine Übergangsform zwischen parlamentarischem und außerparlamentarischem Kampfe.

Dieser zwieschlächtige Charakter der Obstruktion äußert sich auch darin, dass sie stets nur bei kräftiger Unterstützung von „der Straße" möglich ist, ob diese sich in Zeitungskundgebungen von Professoren, Massenversammlungen der Intelligenz und der Arbeiter oder in Straßentumulten der Volksmenge äußert.

Weil aber die Obstruktion schon eine Vereinigung des Kampfes in und außerhalb des Parlaments, eine Einführung des außerparlamentarischen Druckes in das Parlament hinein darstellt, so ist sie auch die letzte und äußerste Form des parlamentarischen Kampfes. Schärfere Waffen zur Verteidigung der Volksmehrheit im Parlament als die Obstruktion besitzt eine Minderheit von Volksvertretern nicht. Es stellt sich deshalb, nachdem nun diese schärfste und letzte Waffe von unseren Vertretern im Reichstag zum ersten Male ins Treffen geführt worden ist, von selbst die Frage ein: Welches war die Situation, die unsere Parlamentarier zum Äußersten getrieben, welches das Interesse, um das es sich gehandelt hat?

Wenn wir das unmittelbare Objekt des letzten Obstruktionskampfes in Betracht ziehen, so springt jedenfalls sofort Augen, dass es sich sehr von den Ursachen der sozialistischen Obstruktion in Belgien, Österreich, Italien unterscheidet. Während hier fundamentale politische Rechte des Volkes: das Wahlrecht, Vereins- und Versammlungsrecht, Pressfreiheit, oder wie in Wien fundamentale Rechte der Volksvertretung auf dem Spiele standen, war der Anlass zu unserer Obstruktionskampagne in einigen für die Kunstfreiheit gefährlichen Gesetzesparagraphen gegeben.

Freilich ist die Sozialdemokratie als Hüterin und Vorkämpferin der geistigen Kultur vor allen anderen berufen, auch die Kunstfreiheit mit allem Nachdruck zu verteidigen. Dass aber die Kunstparagraphen der lex Heinze die höchste Gefahr für die Entwicklungsinteressen des Volkes darstellten und somit die Anwendung der letzten Waffen zur Abwehr rechtfertigten, wird niemand zu behaupten wagen. Tausendfach mehr als durch den Schaufenster- und Theaterparagraphen war die geistige Kultur Deutschlands durch das Sozialistengesetz, durch die Umsturzvorlage, die Zuchthausvorlage2), ist sie noch durch den Brotwucher, den Militarismus und die Weltpolitik bedroht.

Ja, noch mehr. All die aufgezählten Gefahren waren und sind höchst reell und unzweifelhaft, von faustdicker Greifbarkeit, die Kulturgefahr der lex Heinze dagegen war, wie jedermann sehr gut weiß, mehr eine formale als eine wirkliche. Auch heute schon besitzen Polizei und Gerichte vollauf die gesetzliche Ellenbogenfreiheit, um die Kunst zu vermuckern und in reaktionäre Fesseln zu schlagen. Wenn sie sich dabei nicht weiter als es geschieht, voran wagen, so ist daran einzig und allein die öffentliche Meinung mit ihrem strafenden Hohngelächter schuld, die sie im Zaume hält. An dieser Sachlage, in der Praxis, hätten ein paar neue Paragraphen so gut wie nichts geändert.

Als Ursache zum Aufgebot der letzten parlamentarischen Reserven erscheint also die lex Heinze sehr wenig geeignet. Man kann mit Sicherheit behaupten, dass die breiten Volkskreise uns schlechtweg nicht verstehen würden, wenn wir uns wegen dieser nur formalen Gefahr für die Kunstfreiheit so erregt hätten, während wir bei der Zuchthausvorlage nicht Miene machten, zur Obstruktion zu greifen, und z. B. auch den Raub des Wahlrechts in Sachsen3) ruhig – nur mit den üblichen Protestreden im Landtag – hingenommen haben.

Unter gewöhnlichen Umständen und wenn es sich bloß um die lex Heinze als solche gehandelt hätte, wäre auch die Obstruktion der Sozialdemokratie ein Unding gewesen. Soll sie uns verständlich und gerechtfertigt erscheinen, dann müssen wir, von dem unmittelbaren Objekt absehend, die politische Situation im Ganzen ins Auge fassen und, kurz gesagt, den Kampf um die lex Heinze bloß als eine Kraftprobe der Sozialdemokratie mit dem Zentrum auffassen.

Allerdings eignet sich die lex Heinze als solche auch dazu sehr wenig, den politischen Gegensatz zwischen unserer Partei und dem Zentrum, zwischen den fortschrittlichen Volksinteressen und den reaktionären Bestrebungen der Katholikenpartei am erschöpfendsten und sinnfälligsten zu verkörpern. Ein Zusammenstoß aus Anlass der vom Zentrum durch die Annahme der Flottenvorlage inaugurierten (eingeleiteten) Ära der aggressiven Weltpolitik in Deutschland wäre z. B. an sich von viel größerer politischer Tragweite und agitatorischer Wirkung gewesen. Allein es war nicht unsere Partei, die aus freien Stücken den Moment gewählt hat, sondern das Zentrum, das auch für sich zum Teile unerwartet – darin lag ja das Eigentümliche der Situation – die Durchsetzung der lex Heinze zu einer „Ehrensache" für sich und die lex somit zur Kraftprobe erhoben hat.

Wenn schon die Ergebnisse der Reichstagswahl von 1898 dem Zentrum das zahlenmäßige Übergewicht und die entscheidende Rolle im Reichstag gesichert hatten, so sollte doch erst in der gegenwärtigen Session seine Herrschaft in aller Form zur offiziell konstatierten Tatsache werden. Dazu gab die famose Flottenvorlage Anlass, die zuerst eine Frage von höchster nationaler und internationaler Bedeutung, die Frage nach dem Charakter der inneren und auswärtigen Politik Deutschlands in der nächsten Zukunft von dem Jawort des Zentrums abhängig machte. Andrerseits sollte die Annahme der Flottenvorlage auch in der Geschichte des Zentrums selbst einen wichtigen Wendepunkt bilden, von dem an die ehemalige demokratische Oppositionspartei die Schwenkung zur reaktionären Regierungspartei endgültig durchmachte.

Diese Schwenkung, die bereits in der Budgetkommission vollzogen war, sollte aber im Reichstag gleichzeitig durch eine sinnfällige Inaugurierung der Herrschaft des Zentrums ergänzt werden. Gerade weil sie in der Flottenfrage den grandiosen Umfall vollbracht hatte, bedurfte die katholische Partei dringend, sowohl zur eigenen Befriedigung wie zur Köderung der mehr oder weniger widerspenstigen Anhängerschaft draußen im Lande, einer eklatanten Bestätigung ihrer Machtstellung in Deutschland. Die lex Heinze, deren praktische Belanglosigkeit dem Zentrum ebenso klar war wie seinen Gegnern, eignete sich dazu vorzüglich. Gerade weil politisch und praktisch nichtig, sollte die berüchtigte lex bloß ein „moralischer" Sieg, ein Symbol der Zentrumsallmacht werden.

Auf diese Weise bekamen die an sich untergeordneten „Kunstparagraphen" kraft der besonderen Situation einen hohen politischen Wert. Waren die Kulturgefahren dieser Paragraphen imaginär, so bedeutete die Allmacht des Zentrums in Deutschland, die mit diesen Paragraphen inauguriert werden sollte, eine durchaus nicht imaginäre Größe. Und war das Aufgebot äußerster Mittel seitens der Sozialdemokratie zur Abwehr einer minimalen Gefahr für die Kunstfreiheit unverständlich, so erscheint der Verzweiflungkampf plötzlich in einem ganz anderen Lichte, wenn wir hinter den papiernen Fesseln für die Kunst die eisernen Fesseln für das politische und wirtschaftliche Wohl der Volksmasse: den Wassermilitarismus, die Weltpolitik, den Brotwucher lauern sehen, wenn wir, mit einem Worte, die lex Heinze bloß als die Losung auffassen, unter der die Generalschlacht gegen die allgemeine Politik des Zentrums als Regierungspartei geschlagen wurde.

Es besteht in dieser Hinsicht eine gewisse Analogie im Kleinen zwischen unserer Obstruktionskampagne und dem jüngsten großen Kampfe der französischen Sozialisten – gleichfalls gegen die zur Herrschaft strebende Partei des Weihwedels. Auch hier wurde die an sich weder für das Klasseninteresse des Proletariats noch für die Gesellschaft im Ganzen wichtige Affäre des Hauptmanns Dreyfus zur Kraftprobe des Sozialismus und der Demokratie im Kampfe gegen die vereinigten Reaktionsmächte. Und es war auch hier der richtige revolutionäre Instinkt der französischen Sozialisten, der sie hinter der unscheinbaren Losung der Dreyfus-Affäre den Schlachtruf der militaristischen Reaktion erkennen und den Kampf mit allen Mitteln aufnehmen ließ.

Die gekennzeichnete politische Bedeutung der Debatten über die lex Heinze bestätigten bereits vollkommen die Folgeerscheinungen ihres Ausgangs. Sie haben nämlich bewiesen, dass das Zentrum noch nicht so nahe am Gipfel seiner ehrgeizigen Herrschaftspläne in Deutschland angelangt ist, wie es selbst und mit ihm viele andere wähnten. Und zwar je geringfügiger an sich der Fall, in den man seine ganze Ehre gesetzt, umso empfindlicher die Niederlage. Dies gießt aber in den Siegesbecher des Zentrums, den es bereits nach der Bewilligung der Flotte in der Kommission als neukreierte (frischgebackene) Regierungspartei stolz erhob, einen recht bitteren Tropfen Wermut. Es stellt sich nämlich heraus, dass die Partei des politischen Gaukelspiels und des systematischen Umfalls diesmal den Handel zu früh geschlossen, dass sie den allerletzten Rest ihres oppositionell-demokratischen Erstgeburtsrechtes veräußert, bevor sie sich noch des Linsengerichts der reaktionären Herrschaft vergewissert, dass sie die Livrée als Regierungspartei angezogen, bevor sie noch den Befähigungsnachweis als herrschende Partei abgelegt hatte.

In so äußerlich und künstlich zusammengekitteten Parteien, wie es das Zentrum ist, bildet, sobald die prinzipielle Politik beiseite gelegt wird, der Erfolg einen sehr wichtigen Faktor. Je dringender die Zentrumsfraktion für ihre Anhängerschaft im Lande eines deutlichen Beweises ihrer politischen Macht, eines eklatanten parlamentarischen Sieges zur Rechtfertigung der Flottenbewilligung bedurfte, umso tiefer die Wirkung der nun erlittenen Niederlage auf die Zentrumsmassen. Als ein günstiger Moment in der bevorstehenden Hauptagitation der Sozialdemokratie gegen die Flottenvorlage von Zentrumsgnaden ist dieses Ergebnis durchaus nicht zu unterschätzen.

Eine weitere Folge, die bereits in der Zentrumspresse, namentlich in den Organen der Fraktion, deutlich herauszulesen ist, ist ein weiterer Ruck nach rechts, eine noch größere Annäherung an die Reaktionsparteien. Bereits droht die „Kölnische Volkszeitung" dem obstruierenden Freisinn damit, bei den künftigen Wahlen werde das Zentrum den Rebellen seine Unterstützung versagen und dafür eine Allianz mit den Konservativen schließen. Der ganzen Lage nach darf man hierin keineswegs lediglich einen momentanen Erguss des Ärgers erblicken. Was hier der Ärger in die Feder diktiert, ist vielmehr der natürliche Weg, auf den das Zentrum durch die mit eigenen Händen geschaffene Situation gebieterisch gewiesen wird. Herrschaft um jeden Preis – durch die Allianz mit den Konservativen, wenn es aus eigener Kraft noch nicht geht! so heißt nunmehr die „Ehrensache" des Zentrums.

Kurz gefasst sind die Ergebnisse des Kampfes um die lex Heinze: Erschütterung des Prestiges des Zentrums in den ihm huldigenden Volkskreisen, Hinausschiebung der von ihm angestrebten Herrschaftsstellung, Beschleunigung seiner offenen Allianz mit der politischen Reaktion.

Mit diesen Resultaten ihrer Obstruktionskampagne kann die Sozialdemokratie vollauf zufrieden sein. Jedoch die sozialdemokratische Taktik darf nie lediglich nach dem materiellen Erfolg, sondern vor allem nach ihrer inneren Berechtigung eingeschätzt werden. Sie muss, auch wenn sie in Bezug auf das unmittelbar angestrebte Ziel erfolglos bleibt, wie es meistenteils in den Parlamenten der Fall ist, in der agitatorischen Wirkung ihre Rechnung finden. In dem behandelten Falle erscheint dieser Gesichtspunkt doppelt angebracht, weil bis zur letzten Stunde, namentlich bis zu der unerwarteten Schwenkung der Nationalliberalen die Obstruktion als fast aussichtslos betrachtet werden musste.

Die politische Situation in und außerhalb des Reichstags bot, wie wir gesehen haben, Gründe genug, um zu den äußersten Mitteln zu greifen, ob der Erfolg vorauszusehen war oder nicht. Allein es muss gesagt werden, dass im Kampfe selbst unsererseits diese Gründe nicht zum Ausdruck gekommen sind. Die Obstruktion trug die ganze Zeit lediglich den Charakter der Abwehr gegen die lex Heinze und nicht der Abwehr gegen die nach der Herrschaft strebende Gesamtpolitik des Zentrums, die in der lex Heinze zutage trat; betont wurden lediglich die bedrohten Interessen der Kunst und nicht die bedrohten Interessen des politischen und materiellen Volkswohlstandes. Es kommen hier selbstverständlich nicht die eigentlichen Obstruktionsreden, die bloß als technisches Kampfmittel dienten, sondern die große Debatte, die den Kampf noch vor den Osterferien eröffnet hat, sowohl wie die großen agitatorischen Reden in den Volksversammlungen und die Presse in Betracht Hier wie dort war die aus der Geschichte und dem Wesen der Kunst hergeleitete Notwendigkeit der freien Darstellung des Nackten, also die unmittelbare Frage der lex Heinze und nicht die ganze politische Situation zum Hintergrund des Kampfes gemacht.

Freilich würde die Beleuchtung des Zusammenstoßes mit dem Zentrum vom Standpunkt seiner allgemeinen Politik, die Hineinziehung des Flottenumfalls, des Brotwuchers des Zentrums als der hinter der lex Heinze lauernden Gefahren, in die Debatten die Begeisterung und den Beifall der bürgerlichen Intelligenz und der Künstler ganz bedeutend herab gedämpft haben. Dafür wäre aber der politische Charakter, die agitatorische Wirkung der hartnäckigen Kampagne auf die Volksmasse viel schärfer und klarer gewesen.

Auch hier besteht eine Analogie zwischen unserer Obstruktion und der Dreyfuskampagne in Frankreich. Wie hier die Sozialisten in vollkommen gerechtfertigter Weise einen Einzelfall als die Erscheinungsform großer sozialer Gegensätze erkannten, im Kampfe selbst aber sich durch ungenügende Hervorhebung des allgemeinen politischen Hintergrundes und zu starke Betonung der den Einzelfall ausmachenden Ungerechtigkeit um einen guten Teil agitatorischer Wirkung als Klassenpartei gebracht haben, so scheint auch unsere Partei die Obstruktion hauptsächlich auf einen Boden gestellt zu haben, wo sie als Kraftvergeudung erscheint, die Momente aber nicht betont zu haben, die sie völlig gerechtfertigt erscheinen lassen.

Was immer die Ursache davon sein mag, auf jeden Fall liegt es im Interesse der Partei und ihrer künftigen Kämpfe, sich wenigstens nachträglich über den Charakter des soeben abgeschlossenen Kapitels strenge Rechenschaft abzugeben.

1 Die lex Heinze bekam ihren Namen von einem Skandalprozess, der von den Muckerparteien, besonders Zentrum und Konservativen, zur Fesselung der Kunst durch ein Gesetz ausgenutzt werden sollte.

2 Umsturzvorlage, eine Art Sozialistengesetz, 1895; Zuchthausvorlage. Streikbrecherschutz, 1898. Beide wurden abgelehnt.

3 1896 wurde das Dreiklassenwahlrecht eingeführt.

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