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Rosa Luxemburg 19051107 Der „Verfassungsstaat" der Mordbuben

Rosa Luxemburg: Der „Verfassungsstaat" der Mordbuben

[Vorwärts (Berlin), 22. Jahrgang Nr. 261 (Dientag, 7. November 1905). S. 1 Sp. 3 – S. 2, Sp. 1, verglichen mit der Wiedergabe in Gesammelte Werke, Band 6, Berlin 2014, S. 625-628]

Vorwärts (Berlin), Nr. 261 vom 7. November 1905.

Bulygin geht – Trepow bleibt

Nach dem Bankrott der zaristischen Geheimkonstitution ist es natürlich, dass der Vater der famosen „Reichsduma" seinem Kinde ins Reich der Schatten folgt. Bulygins Abschied bedeutet den Abschied des Verfassungsschwindels. Als Herr der Situation bleibt tatsächlich Trepow, das heißt die offene Säbelherrschaft, die Judenmetzeleien und die Massenmorde auf dem Platze.

Petersburg, 4. November. (Meldung der „Petersburger Telegrafen-Agentur".) Durch einen kaiserlichen Ukas ist das Gesuch des Ministers des Innern Bulygin um Enthebung von seinem Posten angenommen worden.

An Stelle Bulygins tritt vorläufig sein bisheriger Gehilfe Durnowo.

Petersburg, 5. November. Die Stadtduma beschäftigte sich gestern den ganzen Tag damit, Mittel ausfindig zu machen, um bei der heutigen Leichenfeier Blutvergießen zu verhindern. Die Duma wandte sich an Witte, dieser erklärte, die Kundgebung zu gestatten und über die Truppen zu verfügen, stehe nicht in seiner Macht. Hierauf beschloss die Duma, einen Aufruf an die Bevölkerung zu erlassen, und entsandte eine Abordnung zu Trepow.

Ein vereiteltes Blutbad

Am 5. November sollte in Petersburg aus Anlass des Begräbnisses der Opfer der Zarenschergen eine Massendemonstration der Arbeiter stattfinden. Trepow bereitete sich offenbar vor, die Gelegenheit zu einem Blutbad, zu einer Generalschlacht mit der revolutionären Arbeiterschaft der Hauptstadt zu benutzen. Die Arbeiterführer beschlossen jedoch, in richtiger Erkenntnis der Absichten des Zarismus, die entscheidende Schlacht in einem für die Arbeiterschaft günstigen Augenblick zu liefern, wenn die Bewaffnung der proletarischen Volksmilizen eine vollständigere sein wird.

Petersburg, 4. November. (Meldung der „Petersburger Telegrafen-Agentur".) Der Rat der Arbeitervertretungen hat, um nicht das Leben der Bevölkerung Gefahren auszusetzen, die für Sonntag in Petersburg geplant gewesene Kundgebung abgesagt und sich vorbehalten, dieselbe zu dem Zeitpunkte, an dem es ihm angezeigt scheint, ins Werk zu setzen.

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Die Konterrevolution mobilisiert die reaktionären Elemente

Petersburg, 6. November. Ein Regierungskommuniqué empfiehlt den Urhebern der Unruhen Mäßigung und ruft die loyalen Untertanen zur Mitwirkung bei der Beruhigung des Landes auf. Die Regierung wünsche sich bei der Durchführung der Reformen auf die friedlich gestimmte besonnene Majorität der Bevölkerung zu stützen, welcher die künftige Entwicklung Russlands auf der Grundlage der bürgerlichen Freiheit und der territorialen Integrität teuer sei. Besonders rechnet die Regierung auf die Unterstützung der Presse, welche begreifen müsse, dass in der gegenwärtigen Lage die Einigung der geistigen Kraft des ganzen Volkes notwendig sei.

Moskau, 5. November. (Meldung der „Petersburger Telegrafen-Agentur".) Mehrere Studenten, die von einer Menge Reaktionärer verfolgt wurden, flüchteten sich in eine Schule für Ingenieure und schossen von hier aus auf ihre Angreifer, welche die Fenster der Schule mit Steinen einwarfen. Es wurden Kosaken herbeigerufen, die das Gebäude umzingelten.

Warschau, 5. November. Von „nationaldemokratischen" und „loyalen" Elementen der Bourgeoisie, des Adels und des Kleinbürgertums ist hier heute eine große Demonstration unter der Losung der „Einigkeit des Volkes" und der Feindschaft gegen die sozialdemokratische „Volksverhetzung" veranstaltet worden.

Die Konterrevolution mobilisiert die Pfaffheit

Petersburg, 5. November. (Meldung der „Petersburger Telegrafen-Agentur".) Der Synod schrieb der orthodoxen Geistlichkeit vor, mit allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln dem in einen Bürgerkrieg ausartenden Kampfe der Bevölkerung entgegenzutreten. – Der Generalgouverneur in Warschau ist telegrafisch benachrichtigt worden, es sei wünschenswert, dass die auf Anordnung der Zivilbehörden wegen religiöser Vergehen ins Kloster gebrachten katholischen Geistlichen unverzüglich in Freiheit gesetzt werden.

Die Konterrevolution organisiert Brandstiftung und Mord

Baku, 5. November. (Meldung der „Petersburger Telegrafen-Agentur".) Als konservative russische und muselmanische Arbeiter (auf Deutsch: Polizeigesindel) mit nationalen Fahnen und Bildern des Kaisers eine Kundgebung veranstalteten, wurde auf sie aus den Häusern der Armenier geschossen und mit Bomben geworfen. Die erregten „Arbeiter" steckten hierauf das Haus eines Armeniers in Brand; das Feuer pflanzte sich auf zwanzig andere fort.

Die „Manifestanten" plünderten vier Kaufläden. Während der Vorgänge wurden etwa zwanzig Personen getötet oder verletzt und mehrere Plünderer verhaftet.

Tiflis, 5. November. (Meldung der „Petersburger Telegrafen-Agentur".) Als heute eine Anzahl Reaktionäre mit Bildern des Kaisers durch die Stadt zogen, wurden auf sie Revolverschüsse abgegeben und mit Bomben geworfen. Truppen, die den Zug begleiteten, beantworteten das Schießen, töteten zehn Personen und verwundeten etwa dreißig.

Tiflis, 5. November. (Meldung der „Petersburger Telegrafen-Agentur".) Gestern kam es in Wladikawkas gelegentlich reaktionärer und revolutionärer Kundgebungen zu einem Zusammenstoß zwischen den Parteien. Es wurden auf beiden Seiten Schüsse abgegeben, wodurch vier Personen getötet und 17 verletzt wurden.

Iwanowo-Wosnessensk, 5. November. (Meldung der „Petersburger Telegrafen-Agentur".) Heute begannen hier gegen die Juden gerichtete Unruhen. Mehrere Häuser und Läden derselben wurden geplündert; auch wurden Juden getötet und verwundet.

Warschau, 5. November. Hier wurden einige Subjekte, die eine Judenhetze hervorrufen wollten, von der Arbeiterschaft zu Tode geprügelt.

Warschau, 6. November. Hier eingetroffene Personen berichten, dass die Schreckensszenen in Kiew fortdauern. Tag und Nacht wird gemordet und geplündert, der Pöbel beherrscht die Straße, ohne dass Militär und Polizei einschreiten.

Moskau, 6. November. Wie der „Russkoje Slowo" [Russisches Wort] aus Odessa meldet, dauerten gestern in der ganzen Stadt die Plünderungen fort. Verbrecherbanden durchzogen die Straßen und verübten allerlei Gräueltaten. Kinder wurden von den Müttern weggerissen und in Stücke zerschnitten. Ärzte, Krankenschwestern und Priester wurden in Anwesenheit von verkleideten Polizeiagenten getötet; alles wurde ausgeplündert und beraubt. Man nimmt an, dass die Unruhen von Polizeispitzeln organisiert wurden.

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Der Generalstreik dauert fort!

Brest, 5. November. Delegierte der Arsenalarbeiter stimmten im Prinzip für den Generalausstand.

Łódź, 4. November. Auf Verfügung der hiesigen Behörde sind 49 Sträflinge aus der Haft entlassen worden. Der Ausstand dauert fort.

Moskau, 4. November. (Meldung der „Petersburger Telegrafen-Agentur".) Alle Restaurants und Speisewirtschaften sind infolge des Ausstandes des Dienstpersonals geschlossen.

Die Arbeiterpartei in Finnland beherrscht die Lage!

Helsingfors, 5. November. Nach Verhandlungen zwischen der bürgerlich-konstitutionellen und der Arbeiterpartei hat letztere heute ein Ultimatum veröffentlicht, in dem sie mitteilt, dass sie eine provisorische Regierung wählen und der konstitutionellen Partei zwei Sitze in dieser anbieten wolle. Die Konstitutionellen haben es indessen abgelehnt, an einer solchen Regierung teilzunehmen.

Die proletarische „Diktatur"

Sosnowice, 5. November. (Privat-Depesche des „Vorwärts".) Hier im Dombrowaer Bezirk hat sich die Sozialdemokratie zu einer Art „provisorischen Regierung" konstituiert. Auf das Büro, das sie aufgeschlagen hat, kommen unaufhörlich bürgerliche Vertreter aus allen Schichten, um die Erlaubnis zu Meetings einzuholen, nach Weisungen und Nachrichten zu fragen, Proklamationen zu empfangen. Die Arbeiterschaft veranstaltet unaufhörlich Riesenmeetings.

Der Aufruhr unter Matrosen und Soldaten

Der offiziöse Telegraf meldet: Tiflis, 4. November. Die Teilnehmer an einer patriotischen (das heißt vom Polizeigesindel organisierten) Kundgebung, welche die Straßen von Baku mit dem Bilde des Kaisers durchzogen, wurden von 20 mit Karabinern bewaffneten Matrosen der kaspischen Flotte überfallen. Die Matrosen wurden von den Truppen, welche die Demonstranten begleiteten, entwaffnet und verhaftet.

Von Armeniern bewohnte Häuser, aus welchen auf russische und tatarische Manifestanten geschossen worden war, wurden mit Kanonen beschossen.

Kronstadt, 5. November. Eine Menge Matrosen, Soldaten und Arbeiter plünderten heute Abend mehrere Häuser (wahrscheinlich öffentliche Häuser. Die Red.) Militär, das entsandt wurde, um die Ruhestörungen zu unterdrücken, gab mehrere Schüsse ab und sperrte eine Anzahl Straßen ab.

Der „Berliner Zeitung" wird aus Paris telegrafiert:

Wie der „Matin" meldet, ist in Libau ein ganzes Regiment Infanterie zu den Revolutionären übergegangen. Eine Abteilung Kosaken, welche gegen die Menge einschreiten wollte, wurde von den Meuterern in die Flucht geschlagen.

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Teilweise Wiedereröffnung des Eisenbahnverkehrs

Berlin, 5. November. Die Eisenbahndirektion Bromberg teilt mit: Güter für Prosiken zur Beförderung nach Russland, aber nur nach den Stationen für die Südwestbahnen, ausgenommen Odessa und Kiew, önnen wieder angenommen werden.

Warschau, 6. November. Gestern ist der erste Zug aus Petersburg eingetroffen, weitere sollen heute folgen, gerüchtweise verlautet, dass den Polen bedeutende Konzessionen zugestanden sein sollen. (Die Regierung will offenbar die „gutgesinnten Elemente" gewinnen, um sie gegen die Arbeiterschaft in Polen gebrauchen zu können.)

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