Rosa Luxemburg: Zur Frage der polnischen Einigung [Volkswacht (Breslau), 14. Jahrgang Nr. 4 (Dienstag, 6. Januar 1903, S. 1, Sp. 1 – S. 2, Sp. 2, verglichen mit der Wiedergabe in Gesammelte Werke, Band 6, Berlin 2014, S. 467-472] Man schreibt uns von parteigenössischer Seite: Mit dem größten Bedauern müsste jedermann, der das Zustandekommen der Einigung mit der polnischen Sondergruppe der Genossen aufrichtig herbeiwünscht, den Bericht vom Parteitag der genannten Gruppe lesen. Wir haben absichtlich abgewartet, ob nicht eine Dementierung dieses Berichts von interessierter Seite erscheint, dies ist aber nicht der Fall. Wir müssen also mit den Beschlüssen und Verhandlungen des polnischen Parteitags rechnen. Für jeden mit der Sache Vertrauten aber ist es klar, dass dieser Parteitag das mit solcher Mühe beinahe zustande gebrachte Werk der Einigung schwer gefährdet und eine ganz neue Lage in dieser Sache schafft. Wir wollen hier zur Orientierung der Parteipresse wenigstens die Hauptpunkte hervorheben. Auf dem Parteitage ist über die „Misshelligkeiten zwischen den polnischen und deutschen Genossen" laut dem Bericht des „Vorwärts" die folgende Darstellung vom polnischen Vorstand gegeben worden: „Die polnisch-sozialistische Partei hätte jahrelang mit der deutschen Sozialdemokratie in Frieden gelebt, bis einzelne Elemente die Einigkeit untergraben hätten. – Die Entsendung Dr. Winters nach Oberschlesien, seine und der Frau Rosa Luxemburg Agitation haben den Riss ständig zu erweitern getrachtet, der Fall Kasprzak trat hinzu, und so kam es zum Bruch auf dem Münchener Parteitag." Dass die Mitglieder der polnisch-sozialistischen Sondergruppe auf diese Weise die entstandenen Differenzen erklären, ist von früher her wohl bekannt. Es ist aber klar, dass es angesichts der beabsichtigten Einigung angebrachter und loyaler gewesen wäre, diese alte Darstellungsweise zu unterlassen, um durch persönliche Gehässigkeiten die im gleichen Atem begrüßte Einigung nicht zum Spott zu machen. Bekanntlich haben weder Dr. Winter, noch die Genossin Luxemburg, noch irgendwelche „einzelnen Elemente" den tief bedauerlichen Zwist mit der polnischen Sonderorganisation verschuldet, sondern der nationalistische Charakter ihrer Agitation. Das hat der Parteivorstand mehrmals offiziell konstatiert. So z. B. in seinem Bericht zum Lübecker Parteitag. So hat auch Genosse Bebel auf dem letzten Parteitag in München gesagt: „Die Dinge haben einen Charakter angenommen, dass wir leider genötigt waren, das Tischtuch zwischen ihnen und uns zu zerschneiden. Wir haben namentlich in Bezug auf die „Gazeta Robotnicza“ uns gesagt, dass in diesem Blatte die sozialdemokratischen Tendenzen immer mehr zurücktreten. … Wir mussten uns sagen, dass insbesondere die Art und Weise der nationalen Propaganda, wie sie in der „Gazeta Robotnicza“ betrieben wurde, uns eines Tages eine solche Verantwortung gegen eine dritte Seite auferlegen könnte, dass wir diese Verantwortung nicht mehr tragen könnten. … Die polnischen Genossen hätten alles tun müssen, um mit uns in Eintracht zu leben und zu handeln. Das ist leider nicht von jener Seite geschehen, wie es hätte geschehen müssen." Nach dieser wiederholten Darstellung der Dinge von so maßgebender Seite ist es einfach unbegreiflich, wie auf dem Parteitag der polnisch-sozialistischen Gruppe wieder die Genossen Winter und andere attackiert werden konnten, um so mehr, da sich doch jene Gruppe gerade verpflichten sollte, die Reichstagskandidatur des Genossen Winter nach Kräften zu unterstützen. Ferner wurde auf dem Parteitag ein schiefes Bild der Tatsachen gegeben, indem, laut dem Bericht, gesagt wurde: „Zu dem Parteitage wollte auch die Gruppe Luxemburg Vertreter entsenden, auf Betreiben des polnisch-sozialistischen Parteivorstandes, dessen Beweggründe auch der deutsche Parteivorstand anerkannt hat, ist in letzter Stunde davon Abstand genommen." Die Sache verhält sich einfach so, dass die zur Gesamtpartei gehörigen polnischen Genossen von Posen und Oberschlesien erklärten, sie würden die Beschlüsse des polnischen Parteitags, den dort gewählten polnischen Vorstand usw. nicht anerkennen, falls sie an den Beratungen und Beschlüssen nicht teilnehmen. Da jedoch die Sonderorganisation erst als solche zu der Einigungsfrage Stellung nehmen wollte, so ist man dahin übereingekommen, dass ihre Beschlüsse auch nur auf diese Frage sich beschränken und rein provisorischen Charakter tragen sollten. Indem der Parteitag verschiedene Beschlüsse organisatorischer und grundsätzlicher Natur gefasst hat und dabei nicht einmal ihr provisorischer Charakter hervorgehoben wurde, hat der Parteitag einfach gegen die Vereinbarung gehandelt. Die Sache wird gewiss dadurch nicht besser, dass sie auch noch mit spitzen und beleidigenden Bemerkungen gegenüber den in Treu und Glauben handelnden Genossen in Posen und Oberschlesien verbrämt wurde. Eine „Gruppe Luxemburg" gibt es nicht, es gibt nur Genossen polnischer Zunge, die auf dem Boden der Sozialdemokratie Deutschlands stehen, es kann also höchstens von einer „Gruppe" der deutschen Sozialdemokratie geredet werden. Es geht um so weniger an, mit dem Namen „Gruppe" etwa die gesamten organisierten Genossen Posens wie Oberschlesiens als eine quantité négligeable hinzustellen, als es sich hier jedenfalls um die stärkste polnische Organisation handelt. In der Stadt Posen allein haben wir doch bekanntlich 4500 gewerkschaftlich organisierte Genossen, politisch zwar bedeutend weniger, doch immerhin genau zwei Mal soviel, wie auf dem polnischen Parteitag angegeben wurde. Hingegen vertraten die 3 „Delegierten aus Posen", wie wir alle wissen, doch nur sich selbst. Sollte diese merkwürdige „Delegation" aus Posen, sowie die beleidigende Art und Weise, in der von den Posener und oberschlesischen Genossen referiert wurde, Zwietracht in die Reihen der polnischen Genossen tragen, dann liegt hier wiederum ein bedauerlicher Kontrast zu den auf dem Parteitag im Munde geführten Einigungswünschen vor. Die Hauptsache liegt aber in den gefassten Beschlüssen selbst. Zunächst sind in den auf dem Parteitag als Basis der Einigung akzeptierten Leitsätzen zwei wichtige Fortlassungen gegenüber den auf der Einigungskonferenz am 19. Oktober vom Parteivorstand vorgelegten und mit einigen Zusätzen akzeptierten Leitsätzen bemerkbar. Diese enthielten erstens in Bezug auf die Presse die folgende Bestimmung: „Errichtung einer Pressekommission, in die ein Vertrauensmann des (deutschen) Parteivorstands delegiert wird." Und weiter: „Die dem deutschen Parteivorstand aus § 15 des deutschen Organisationsstatuts zustehenden Rechte (die prinzipielle Haltung der Parteiorgane zu kontrollieren) bleiben unberührt." Die Bedeutung der allseitigen Annahme dieser Punkte auf der Konferenz liegt auf der Hand. Durch die Kontrolle des Vorstandes sollte gerade vorgebeugt werden, dass die „Gazeta Robotnicza" etwa in der nationalistischen Richtung fortfährt, die zu den bedauerlichen Misshelligkeiten geführt hat. Diese beiden Bestimmungen sind nun aus den Leitsätzen einfach fortgelassen. Zwar hat der polnische Parteitag später in eigenmächtiger Änderung des polnischen Organisationsstatuts eine Pressekommission gewählt, „der – wie der Bericht im „Vorwärts“ sagt – ein Vertrauensmann der deutschen Parteileitung beitritt". Da aber dies nicht, wie vereinbart war, als allseitig anerkannte Grundlage der Einigung, sondern als einseitiger Beschluss des polnischen Parteitags figuriert, da die vorbehaltene oberste Kontrolle des Parteivorstandes auf Grund des § 15 des deutschen Parteistatuts verschwiegen worden ist, so verliert auch diese Bestimmung ihre eigentliche Bedeutung. Die zweite Fortlassung bezieht sich auf den Punkt Reichstagskandidaturen. Die auf dem polnischen Parteitage verlesenen Leitsätze erwähnen bloß die Bestimmung, wonach in Kreisen mit überwiegender polnischer Bevölkerung in der Regel nur Kandidaten aufgestellt werden, die deutsch und polnisch sprechen, „wenn solche Genossen vorhanden sind". Daraus könnte gefolgert werden, dass nur das physische Vorhandensein eines der beiden Sprachen mächtigen (also in der Regel polnischen) Genossen in einem Kreise zu seiner Aufstellung als Kandidaten verpflichtet und dass z. B. im Kreise Beuthen-Tarnowitz, wo solche Genossen in Hülle und Fülle sind, Dr. Winter nunmehr durch einen polnischen Kandidaten ersetzt werden müsse. Dem ist aber nicht so. Es wurde vielmehr als eine Grundbedingung der Einigung vereinbart, dass die Kandidatur Dr. Winters, wenn die Genossen des Kreises an ihr festhalten, nicht angefochten werden dürfe. Der betreffende Zusatz zu den Leitsätzen des Parteivorstands lautet: „Die Annahme der Vorschläge des deutschen Parteivorstandes seitens des polnischen Parteivorstandes hat zur Voraussetzung die Durchführung der Auffassung des deutschen Parteivorstandes in Bezug auf die Presse und die Reichstagskandidaturen, auch betreffend Dr. Winter.' Dem hatten sich auch die Genossen der poln.-soz. Partei gefügt. Daraus folgt aber, dass nach wie vor nicht das bloße Vorhandensein eines polnisch und deutsch sprechenden Genossen über die Kandidatenfrage entscheidet, sondern der Umstand, wer zur Übernahme der Kandidatur am geeignetsten ist. Und ist es gerade ein deutscher Genosse, wie, dank ihrer Popularität, der Gen. Winter in Oberschlesien oder Gen. Gogowski in Posen, dann werden eben diese aufgestellt, vorausgesetzt selbstverständlich, dass sie die Mehrheit der Genossen des Kreises für sich haben. Somit blieb es bei dem Grundsatz, den Bebel schon auf dem Hamburger Parteitag in dieser Frage vertrat und der seit jeher in der Praxis der Partei befolgt wurde. Die gänzliche Verschweigung dieser Auffassung, sowie die in Bezug auf die Wintersche Kandidatur gemachten Vorbehalte, stellt die auf dem polnischen Parteitag verlesenen Leitsätze in ein falsches Licht und bleibt unbegreiflich angesichts der früheren von den Vertretern der poln.-soz. Partei gegebenen Zustimmung zu diesen Punkten. Endlich aber wurden noch auf dem Parteitag zwei Beschlüsse gefasst, die im Sinn und Wortlaut direkt einen Bruch der angeblich akzeptierten Einigungsgrundsätze darstellen. Erstens wurde als Bestimmung des Statuts der poln.-soz. Partei beschlossen: „Der Parteitag ist die höchste Instanz der PPS. Der Parteivorstand beruft jährlich einen Parteitag ein, der in den polnischen Provinzen stattfinden soll, sofern die örtlichen Verhältnisse dies zulassen." Demnach soll also der polnische Parteitag die höchste Instanz der poln.-soz. Partei bilden. Eine der Grundbestimmungen der Einigungs-Leitsätze besagt aber: „Anerkennung (durch die polnische Partei) des (deutschen) Parteiprogramms und der (deutschen) Parteiinstanzen." Daraus folgt also, dass nicht der polnische, sondern der deutsche, d.h. der Parteitag der Gesamtpartei, die höchste Instanz mit für die polnische Teilorganisation sein sollte. Der entgegengesetzte Beschluss der polnischen Konferenz vernichtet somit die Angliederung an die deutsche Partei, um die man sich so viel Mühe gegeben hat. Zweitens wurde zum Schluss des polnischen Parteitags eine Resolution angenommen, die, nachdem sie die Genugtuung über die erzielte Verständigung mit der deutschen Partei ausspricht, in gleichem Atem sagt: „Der Parteitag fordert die Genossen auf, mit um so größerem Eifer im Sinne des Programms der PPS weiterzuarbeiten an der Befreiung des polnischen Volkes von dem Joche der Ausbeutung und Unterdrückung." Nun, ein besonderes „Programm der PPS", wenn sie sich gemäß den vereinbarten Bedingungen auf den Boden der Gesamtpartei stellt, gibt es ebenso wenig wie ein besonderes Programm der sächsischen oder bayerischen Partei. Es gibt dann nur ein Programm der Sozialdemokratie in Deutschland. Spricht man aber von einem besonderen „Programm der PPS", in dessen Sinne „weitergearbeitet" werden soll, dann ist es, wie mehrfach konstatiert wurde und wie die polnische Sondergruppe in mehreren Kundgebungen öffentlich erklärt hat, das Programm der Wiederherstellung Polens. Gerade dieses besondere Postulat aus dem Programm und der Agitation zu beseitigen, um alle polnischen Genossen auf dem gemeinsamen Boden des Erfurter Programms zu vereinigen und so die einzige Möglichkeit einer ersprießlichen Zusammenwirkung der deutschen und polnischen Genossen zu schaffen, war von vornherein die Grundbedingung, ohne die von einer Einigung nicht die Rede sein konnte. Diese Auffassung vertraten auch alle polnischen und deutschen Vertreter der zur Partei gehörenden Genossen Posens, Schlesiens und Oberschlesiens, sowie der Parteivorstand. Die von ihm vorgelegten und schließlich akzeptierten Leitsätze, die im zweiten Passus lauten: „Zugehörigkeit der polnischen Organisation zu der Gesamtpartei Deutschlands, Anerkennung des Parteiprogramms und der Partei-Instanzen" haben auch keinen anderen Sinn und schließen jede andere Auslegung aus. Man hat nur deshalb von der ausdrücklichen Ablehnung des Programms der Wiederherstellung Polens abgesehen, weil man die besondere Betonung einer selbstverständlichen Sache für überflüssig hielt. Diese Auffassung wurde auch den Vertretern der polnischen sonderorganisierten Genossen mitgeteilt und sie haben sie widerspruchslos anerkannt. Und nun wird durch die angeführte Resolution die Grundlage wiederhergestellt, aus der alle bisherigen Differenzen hervorgingen. Freilich ist auch diese Resolution, wie seit jeher alle einschlägigen Kundgebungen und Beschlüsse der „polnischen sozialistischen Partei", zweideutig und unklar. Aber gerade diese Zweideutigkeit in den Äußerungen in Bezug auf das Programm diente bisher dazu, die Praxis ganz unzweideutig im nationalistischen Sinne zu gestalten. Fasst man die zuletzt erwähnte Resolution mit dem Beschluss zusammen, der den polnischen Parteitag zur höchsten Instanz macht, und endlich mit den feindlichen Angriffen auf einzelne zur deutschen Partei gehörende Genossen wie auf die ganze Posener Mitgliedschaft, so gewinnt man unwillkürlich den Eindruck, als sollte die ganze Einigung darauf reduziert werden, dass die polnische Organisation freilich von der Gesamtpartei wieder aufgenommen und anerkannt werden soll, aber nur, um in jeder Beziehung im alten Fahrwasser zu segeln. Die als Basis vereinbarten Leitsätze sind deutlich genug. Ihr Kern ist folgender: Der polnischen Organisation wird innerhalb der Gesamtpartei die Autonomie zuerkannt, die sie vor ihrer freiwilligen Absonderung von der deutschen Partei genoss, unter der Bedingung, dass sie sich vollkommen und ausschließlich auf den Boden der Gesamtpartei stellt und in Bezug auf Programm, Organisation, Presse und Reichstagskandidaturen dieselbe Stellung einnimmt wie etwa die badische oder bayerische Sozialdemokratie. Alle anderen Punkte sollten nur dem Ausbau dieses Leitgedankens dienen und künftige Reibungen verhüten. Entspricht diese Auffassung der Einigung den Genossen von der „Poln.--soz. Partei" nicht, dann denkt selbstverständlich niemand daran, ihnen die Einigung zu oktroyieren. Die einmal akzeptierten Grundsätze aber durch Fortlassungen und zuwiderlaufende Beschlüsse in ihr Gegenteil zu verkehren, ist ein Verfahren, das den Tadel jedes billig denkenden Menschen hervorrufen muss. Die polnische Sondergruppe hat durch ihren Parteitag unerwartet in den Einigungs-Verhandlungen jedenfalls eine gänzlich neue Lage geschaffen und damit die ganze Verantwortung für den weiteren Verlauf der Dinge auf sich geladen. |
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