Karl Liebknecht: Schreiben an das Gouvernementsgericht vom 30. Juli 1916 (Beweisantrag zum Urteil erster Instanz) [Nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 9, S. 117 f.] An das Königl. Gouvernementsgericht Berlin Berlin, den 30. Juli 1916 Zur Strafsache gegen mich: In der Hauptverhandlung erster Instanz ist keiner der Zeugen vernommen worden; sie waren nach meiner Einlassung überflüssig. Ich verzichte auf ihre Ladung in der Berufungsinstanz. Meine Einlassung bleibt unverändert. Das angefochtene Urteil übernimmt die Anklagebehauptung, dass „eine Hungersnot in Deutschland nicht bestehe". Auch das Urteil versucht keine Begründung dieser Behauptung, die mit den Tatsachen in schrillem Widerspruch steht und am wenigsten richtig ist, wenn die vorhandenen Nahrungsmittel bei gleichmäßiger Berechnung auf den Kopf der Bevölkerung ausreichen: Je mehr die Not der Massen durch die sozialen Unterschiede verursacht und während des Kriegs durch Mängel der Verteilung, Teuerung, Wucher, ungenügende Fürsorge gesteigert ist, um so größere kapitalistische Realität besitzt sie, um so empörender wirkt sie. Das Urteil hält die Schuld der Entente am Kriegsausbruch gar für „notorisch". Zum Beweis für die Richtigkeit meiner Angaben über die Entstehung des Kriegs, seiner kapitalistischen und bonapartistischen Kräfte und Ziele, seiner Regie (vgl. besonders die Schriftsätze vom 10. Juni und 1. Juli) berufe ich mich vorläufig 1. auf das – vollständige! – Urkundenmaterial der zu 2-4 bezeichneten Behörden über die Agadir-Affäre (Sommer 1911)1 2. auf das – vollständige! – Urkundenmaterial (Schrift- und Telegrammwechsel, Instruktionen, Berichte, Aufzeichnungen usw.) der deutschen Regierung (vorläufig nur: Reichsamt des Auswärtigen, Reichskanzlei, Reichskolonialamt) über die auf den Krieg bezüglichen schriftlichen, telegraphischen und mündlichen mittelbaren und unmittelbaren Verhandlungen zwischen der deutschen und der österreichischen Regierung, zwischen der Reichsregierung und den Regierungen der deutschen Bundesstaaten sowie zwischen den verschiedenen Ressorts der Reichsregierung aus der Zeit vom 28. Juni 1914 (Mord von Sarajevo) bis zum 23. Juli 1914 (Ultimatum an Serbien) und weiter bis zum 4. August 1914; auch über die Ende Juli 1914 gepflogenen Verhandlungen wegen einer besänftigenden Kompensation an das schwer herausgeforderte Italien; 3. auf das – vollständige! – Urkundenmaterial des Kriegsministeriums, des Generalstabs, des Reichsmarineamts und des Admiralstabs über die strategische, technische und organisatorische Vorbereitung des Kriegs aus dem gleichen Zeitraume; 4. auf das – vollständige! – Urkundenmaterial des Geheimen Zivil-und des Geheimen Militärkabinetts über den Krieg aus dem gleichen Zeitraume. Ich beantrage: Heranziehung dieses Urkundenmaterials, und zwar, wie ich nochmals betone, in lückenloser Vollständigkeit. Es wird ergeben, dass der Krieg von den Mittelmächten von langer Hand vorbereitet und unter Ausnützung des zu einem serbisch-russischen Regierungsakt umgefälschten Mordes von Sarajevo angezettelt worden ist. Ich behalte mir vor, nach Eingang dieses Beweismaterials noch auf andere Zeiträume und auf das einschlägige Urkundenmaterial der deutschen Gesandtschaft in Wien, der preußischen Gesandtschaften in den übrigen deutschen Bundesstaaten, der einzelstaatlichen Ministerien des Auswärtigen und des Krieges, der deutschen Polizei–, Eisenbahn–, Post- und Finanzverwaltungen zurückzugreifen. Noch einige Bemerkungen: Das Urteil bemüht sich, die mehrfach gerügte Annahme einer bloßen Versuchshandlung zu rechtfertigen, leidet dabei aber kläglich Schiffbruch. Auf Bl. 16 bis 18 versichert es wiederholt, dass die dem Feinde Vorschub leistende Wirkung „notwendig" eintreten „müsste", um am Schluss lakonisch zu bemerken, ein solcher Vorteil sei „nicht nachweisbar". Die benachteiligende Wirkung auf die deutsche Bevölkerung wird gleichfalls „notwendig" genannt; an späterer Stelle heißt es nur, das Flugblatt sei „geeignet", sie hervorzurufen. Man vergleiche das mit der Tollkühnheit jener Notorietät! Bei der Urteilsverkündung wurde zum Strafmaß gesagt, dass der „Angeklagte nicht aus ehrlosen Motiven, sondern aus politischer Überzeugung gehandelt" habe. Der Verhandlungsbericht des Kriegspresseamts, der einzige, den die Zensur in der Presse duldete, änderte diese Worte, um der Öffentlichkeit, dem Gericht erster Instanz (für das schriftliche Urteil) und möglichst auch dem Berufungsgericht das erwünschte Stichwort „Fanatismus" zu suggerieren. Die „Deutsche Tageszeitung" hat begierig zugeschnappt. Im schriftlichen Urteil ist der Erfolg des Manövers ausgeblieben. Ob die Berufungsinstanz dem Wink folgen wird, bleibt abzuwarten. Der Bericht des Kriegspresseamts, das sich im Übrigen durch geschickte Auslese und Übersetzung der Pressstimmen (z. B. „Französische Republik" statt „Französische Revolution") auszeichnete, ist auch sonst ein Muster geriebener Wahrheitskorrektur und Stimmungsmache, berechnet auf die erregte Haltung der deutschen Arbeitermassen, die – ein Lichtblick in dieser Zeit der Knechtseligkeit – seit Ende Juni in immer größeren Demonstrationen und, was das erfreuliche ist – in mächtigen Streiks, vor allem der Rüstungsindustrie, zu wuchtigen Schlägen gegen Krieg und Regierung ausgeholt haben; zu Schlägen, vor denen auch liebedienerische Denunziationen des sozialdemokratischen Parteivorstandes und der Generalkommission die Schuldigen nicht zu bewahren vermögen. Armierungssoldat Liebknecht 1 Anfang Juli 1911 wurde durch die Entsendung der deutschen Kriegsschiffe „Panther" und „Berlin" nach. Agadir versucht, die Forderungen deutscher Monopole in Marokko gegenüber Frankreich durchzusetzen. Durch diese Provokation wurde die zweite Marokkokrise ausgelöst und die Gefahr eines imperialistischen Krieges heraufbeschworen. |
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