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Karl Liebknecht 19130530 In Preußen ist für jedes politische Recht eine dreifache Panzerung nötig

Karl Liebknecht: In Preußen ist für jedes politische Recht eine dreifache Panzerung nötig

Rede im Deutschen Reichstag zur zweiten Lesung eines Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetzes

[Nach Verhandlungen des Reichstags, XIII. Legislaturperiode, I. Session, Bd. 290, Berlin 1913, S. 5334-5336. Fehlt in den „Reden und Schriften“]

Liebknecht: Meine Herren, während in § 7 des Gesetzes und anderwärts davon gesprochen ist, dass jemand eingebürgert werden kann, heißt es in den §§ 6, 8 usw. den Paragraphen, die in unserem Antrage aufgeführt sind –: er „muss eingebürgert werden", und in § 22: die Einbürgerung „darf nicht versagt werden". Wer unsere Gesetzessprache kennt, weiß, dass damit ein Recht auf Einbürgerung verliehen ist. Ein Recht muss vollständig sein, darf nicht unvollständig sein. Das Gesetz darf keine lex imperfecta, muss eine lex perfecta sein; d. h. es muss für das Recht der Einbürgerung ein geordneter Rechtsschutz gewährt werden. Die Paragraphen, die in unserem Antrag aufgeführt sind, schreien geradezu nach Rechtsschutz, nach einem wirksamen Rechtsschutz in einem geordneten rechtlichen Verfahren. Diesen Rechtsschutz für das Recht auf Einbürgerung verweigern, hieße etwa so viel, wie Jemand einen Stuhl vorsetzen, der keinen Sitz hat. Das Gesetz muss ehrlich zu seiner Konsequenz durch konstruiert werden, und das geschieht nur dann, wenn auch der geordnete Rechtsschutz gewährt wird. Bereits das allgemeine Landrecht hat den Grundsatz formuliert, dass ein Recht, das gewährt wird, auch mit dem nötigen Rechtsschutz versehen werden muss.

Bedenken formeller Art können meiner Ansicht nach nicht erhoben werden. Es kann auch keineswegs daraus ein Bedenken erhoben werden, dass nach den Bestimmungen, in Bezug auf die wir den geordneten Rechtsschutz wünschen, die Gerichte nun z. B. zu entscheiden haben würden über die Frage der Bescholtenheit und der Staatsgefährlichkeit. Ich darf darauf aufmerksam machen, dass wir zahlreiche Präzedenzfälle haben. Es unterliegen z. B. in Preußen der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung die Ausweisungen auf Grund des Vagabundengesetzes. Dabei spielt u. a. der Begriff der für die öffentliche Sicherheit und Moralität gefährlichen Personen eine große Rolle, und auch darüber haben die Verwaltungsgerichte zu entscheiden. Man kann also irgendwelche formalen Einwendungen nicht erheben.

Man wird aber aus einem besonderen Grunde mit allem Nachdruck darauf bestehen müssen, dass ein geordneter Rechtsschutz gegeben wird, und zwar weil wir es hier zu tun haben mit einem Gesetze, von dem man sagen kann, dass es die verbündeten Regierungen gewissermaßen zum Schutz gegen die Missbräuche der eigenen Verwaltungen eingebracht haben. Meine Herren, es liegt ja doch so, dass das bisherige Staatsangehörigkeitsgesetz gar nicht so schlecht ist, dass das bisherige Staatsangehörigkeitsgesetz insbesondere nicht verhindert hätte, alle die schwersten Missbrauche zu vermeiden, die man gegenwärtig beklagt und durch das jetzige Gesetz unmöglich machen möchte. Diese Missbräuche sind aber nur eingerissen, weil die Verwaltung, weil die Regierungen sie gewollt und geübt haben. Sie hätten es vor allem nicht nötig gehabt, die Anträge auf Einbürgerung in jener kleinlichen Weise zu behandeln; alles lag in ihren eigenen Händen. Und wenn die Reichsregierung nun demgegenüber dieses Gesetz eingebracht hat, so offenbaren sich darin wiederum die zwei Seelen, die sie in ihrer Brust trägt. Es ist ein Kampf ihrer Reichstagswahlkreisseele – möchte ich einmal sagen – gegen ihre Dreiklassenwahlrechtsseele, den sie hier auskämpft.

Meine Herren, wir müssen aber ganz besonders um deswillen notwendig ausgiebigen, geordneten Rechtsschutz verlangen, weil den größten Teil Deutschlands nun trotz alledem noch Preußen ausmacht. Wer etwa auf die Idee kommen möchte, erst einmal zu prüfen, inwieweit das Gesetz auch funktionieren könnte ohne einen geordneten Rechtsschutz, dem möchte ich zurufen: ich warne Neugierige. Meine Herren, es sind ja hier im Hause nicht nur Preußen anwesend, sondern auch Herren aus dem verlängerten Preußen, aus der Verlängerung Preußens. Diese Herren mögen vielleicht glauben, dass sie von dem preußischen Ungeist einen hinreichenden Hauch verspürt haben, um selbst urteilen zu können, wie es in Preußen hergeht. Das ist aber eine Illusion. Jede mögliche Vorstellung über die preußische Verwaltung bleibt, wenn sie nicht durch die Praxis geschult ist, hinter der Wirklichkeit zurück. In Preußen bedeutet: ein Recht haben, noch lange nicht: ein Recht ausüben können. In Preußen ist für jedes Recht, besonders für jedes politische Recht, eine dreifache Panzerung nötig; es muss in einem dreifach gepanzerten Safe untergebracht werden; sonst wird es von der Verwaltung eskamotiert. Den Beweis dafür brauche ich nicht zu erbringen; den Beweis dafür bietet eine hundertjährige Geschichte, die geradezu gepflastert ist mit Bravourleistungen dieser Art.

Meine Herren, die preußische Regierung kann ihrem Schöpfer danken dafür, dass die Erörterung dieses Gesetzes hier im Hause und draußen im Lande nicht diejenige Resonanz gefunden hat, die an und für sich der Bedeutung des Gesetzes entsprechen würde, dass das Interesse an diesem wahrlich wichtigen Gesetz erdrückt worden ist durch der Menschheit größere Gegenstände. Sonst hätte die Regierung noch viel mehr zu hören bekommen; es wäre ihr ganzes Sündenregister aufgerollt worden, von dem jetzt nur ein ganz kleines Zipfelchen gelüftet worden ist. Ich habe eine solche Fülle des Materials in Händen, dass ich nur aufs Lebhafteste wünschen kann, dass wir in absehbarer Zeit einmal unter günstigeren Umständen in die Lage kommen, der preußischen Regierung diesen Spiegel vorzuhalten.

Meine Herren, ein neuer drastischer Beweis dafür, wie vorsichtig man der preußischen Regierung gegenüber sein muss, wie es da nur heißen kann: „Achtung! Äußerste Vorsicht! Grenzenloses Misstrauen!" –, ein neuer drastischer Beweis dafür ist wieder erbracht worden in der gestrigen und der heutigen Sitzung. Das ganze Verhalten der preußischen Regierung – die ja natürlich Inspirator der Reichsregierung ist – hat uns gezeigt, wie sie diejenige Gewissenhaftigkeit, die sie von jedem, auch dem ärmsten und ungebildetsten Staatsbürger verlangt, wenn er sich mit der Ehre und den persönlichen Angelegenheiten seiner Mitmenschen befasst – wie die preußische Regierung diese Gewissenhaftigkeit – wie soll ich mich nun parlamentarisch ausdrücken? –

(Heiterkeit)

ich glaube, meine Herren, ich verschlucke das Weitere; denn jeder weiß, was ich damit sagen will!

Meine Herren, Tatsache ist, dass wir angesichts dieser Erfahrungen, die wir gerade jetzt wieder gemacht haben, darauf bringen müssen, dass jeder, der es ernst nimmt mit diesem Gesetze, auch den erforderlichen Rechtsschutz schafft. Von den drei hier vorliegenden Anträgen ist der nationalliberale Antrag entschieden der schlechteste. Denn dieser Antrag fordert kein Verwaltungsstreitverfahren, sondern in erster Linie das Rechtsmittel des Rekurses, das juristisch gar nicht definiert ist, während unser Antrag ähnlich wie der fortschrittliche Antrag in erster Linie das geordnete Verwaltungsstreitverfahren fordert, wobei unsere Hoffnung natürlich auf die Spitze eines Reichsverwaltungsgerichts gerichtet ist, wenn überhaupt das Verwaltungsgerichtsverfahren nicht gänzlich eliminiert werden kann. Wir haben insbesondere zu der preußischen Regierung nicht das Vertrauen, dass sie, wenn sie den nationalliberalen Antrag zur Verarbeitung erhält, das Verwaltungsstreitverfahren einführen wird. Wir müssen auch damit rechnen, dass in anderen Bundesstaaten dem gerichtlichen Schutz ausgewichen werden würde. Der nationalliberale Antrag legt ihnen das geradezu nahe. Mit Rücksicht hierauf und mit Rücksicht auf das abgründige Misstrauen, das wir insbesondere gegen Preußen haben, bitten wir Sie, unseren Antrag als den energischsten und klarsten anzunehmen und dadurch dem Gesetz erst Hand und Fuß zu geben.

(„Bravo!“ bei den Sozialdemokraten.)

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