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Karl Liebknecht 19111228 Vor der Reichstagswahl

Karl Liebknecht: Vor der Reichstagswahl

Zeitungsbericht über die Rede in einer Wahlversammlung in Spandau

[Vorwärts Nr. 304 vom 30. Dezember 1911. Nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 4, S. 494-496]

Zu einer wuchtigen Demonstration gestaltete sich die am Donnerstag für Charlottenburg und Spandau einberufene Gewerkschaftsversammlung im Spandauer Bock. Obschon der Saal weit abseits beider Städte liegt, strömten die Arbeiter in dichten Scharen heran. Wohl an 2500 Männer und Frauen füllten den geräumigen Saal. Nachdem die Liedertafel Charlottenburg zwei Arbeitergesänge zum Vortrag gebracht hatte, ergriff Genosse Dr. Karl Liebknecht das Wort, um über „Die Aufregung der Gegenwart" zu sprechen.

Sonderbar scheine das Thema gewählt in einer Stunde, da uns noch die Friedenslieder des Weihnachtsfestes in den Ohren klingen. Der Menschheit zum Wohlgefallen soll das Christentum verkündet sein – aber es hat seine Versprechungen nicht erfüllt. Wenn heute das Lied vom Frieden auf Erden ertönt, dann klingt es wie ein Hohn. Nirgends herrscht der Friede. Keine Zeit kann aufregender sein als die unsere. In Asien, in Afrika hallt der Kriegslärm wider, in Europa werden von Tag zu Tag die Kriegsrüstungen gesteigert. Kann man da von einem Frieden reden, ohne der Wahrheit ins Gesicht zu schlagen?

Wer ruft diese Aufregungen hervor? Es ist der Kapitalismus. In ihm spalten sich die Interessen. Der Großgrundbesitzer, der durch Zölle die Lebenshaltung der Arbeiter immer mehr verteuert, zwingt auch dadurch die Arbeiterschaft, in der Industrie auf höhere Löhne zu dringen. Das passt aber den Herren Industrierittern nicht, darum können sie sich mit der großagrarischen Zollpolitik nicht befreunden. Wohl sind die Arbeitslöhne gestiegen – aber die Kaufkraft des Geldes hat sich vermindert; die Steuern werden immer höher, die Preise für Lebensmittel schwellen immer mehr an.

Zwischen dem Proletariat und dem Großkapital steht der Mittelstand, der sich bald dem Proletariat, bald der Reaktion anschließt. In Wahrheit gehört der Mittelstand an die Seite des Proletariats, denn die größte Schädigung erwächst ihm aus dem Drucke des Kapitalismus. Unsere Ritter und Heiligen, die Stützen von Thron und Altar, haben ihren Hauptstützpunkt in dem preußischen Dreiklassenwahlrecht. Wer viel Geld hat, hat auch Rechte.

Wie kann das Volk sich wehren? Dadurch, dass es sich vergegenwärtigt, mit welcher Schamlosigkeit, mit welcher Brutalität ihm die Regierung entgegentritt. Der alte Reichstag war ein Parlament nach dem Wunsche der Herrschenden. Den Höhepunkt der volksfeindlichen Gesetze bildete die Reichsfinanzreform. Als der konservative Kandidat des Kreises Spandau-Osthavelland, Oberbürgermeister Voßberg, dieser Tage um seine Stellung zur Finanzreform befragt wurde, erklärte er: „Die Reichsfinanzreform gehört der Vergangenheit an." Nein, die Finanzreform ist nicht vergessen worden, kann nicht vergessen werden. Wenn der kleine Mann, der Arbeiter, der Handwerker, der Beamte, in sein leeres Portemonnaie sieht, dann wird er sich sagen: Am 12. Januar werde ich den Volksplünderern heimzahlen, dass ihnen Hören und Sehen vergeht. (Stürmischer Beifall.)

Was die Fortschrittlichen betrifft, so sind sie unsichere Kantonisten. Sie waren bereit, vier Fünftel der Lasten dem Volke aufzubürden, sie sind also auch nur um ein Fünftel besser als die schwarzblaue Gesellschaft. (Heiterkeit und Beifall.) Sie haben sich bisher als unzuverlässig erwiesen und werden sich wohl auch in Zukunft nicht ändern. Der neue Reichstag aber braucht Männer, die unentwegt für das Volk eintreten. Es gilt vor allem, die Volksrechte zu erweitern, die geplanten Attentate auf das Koalitionsrecht der Arbeiterschaft zu vereiteln, dem Volke billigeres Brot zu schaffen, den kleinen Beamten vor dem Terrorismus zu schützen. Nur die Sozialdemokratie wird das Volk weiterbringen auf dem Boden der Gleichheit und Wohlfahrt.

Es geht aufs Ganze, hat der Junker von Heydebrand jüngst gesagt. Diesen Schlachtruf wollen wir Sozialdemokraten aufnehmen. Ein Volksgericht, eine Völkerschlacht muss der 12. Januar werden, eine deutliche Dokumentierung des Volkswillens. Drauf und dran, Männer und Frauen! Sie haben die Klinge in der Hand, mögen Sie die Klinge gut führen.

Als Genosse Liebknecht endete, brauste ein.minutenlanger Beifallssturm durch den Saal. Ja, wir wollen die Klingen gut führen, las man auf allen Gesichtern. Unter stürmischem Hoch auf die Sozialdemokratie sowie auf den Genossen Liebknecht wurde die Versammlung geschlossen.

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