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Karl Liebknecht 19110309 Trennung von Staat und Kirche

Karl Liebknecht: Trennung von Staat und Kirche

Rede im preußischen Abgeordnetenhaus zum Kultusetat

[Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Preußischen Hauses der Abgeordneten, 21. Legislaturperiode, IV. Session 1911, 3. Bd., Berlin 1911, Sp. 3608-3622. Nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 4, S. 172-194]

Meine Herren, es ist ein sehr absonderliches Ansinnen gewesen, das gestern der Herr Abgeordnete Winckler1 an das Haus gerichtet hat, wir sollten uns in die inneren Angelegenheiten der evangelischen Kirche nicht einmischen. Meine Herren, das wäre Ihnen gewiss gerade recht; Ihnen könnte es so passen, wenn wir jede Erörterung der Angelegenheiten der Kirche unterlassen würden. Sie vergessen bei Ihrem Wunsche nur das eine, dass für die evangelische Kirche genau wie auch für die katholische Kirche außerordentlich starke Staatsmittel gefordert werden und dass wir infolgedessen geradezu verpflichtet, nicht nur berechtigt sind, uns danach zu erkundigen und uns darüber auszusprechen, in welcher Weise diese Staatsmittel verwendet werden. („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, es ist damit durchaus nicht im Allergeringsten angedeutet, dass wir etwa Freunde eines Kulturkampfes gegen die evangelische Kirche seien; wir sind weit entfernt davon. Der Begriff des Kulturkampfes schließt ein, dass gegen eine religiöse Gesinnung, gegen eine Kirche in irgendeiner Weise mit Ausnahmegesetzen vorgegangen wird. Eine solche Forderung haben wir nie und nimmer aufgestellt und werden wir nie und nimmer aufstellen. Die ganze Geschichte unserer Partei beweist, dass wir allen Ausnahmegesetzen auch in kirchlicher Beziehung stets und mit aller Schärfe entgegengetreten sind. Aber Ausnahmegesetze sind es, die von Ihnen gefordert werden! Sie wollen in kirchlichen Dingen Ausnahmegesetze haben, allerdings nicht Ausnahmegesetze gegen die Kirche, wohl aber Ausnahmegesetze für die Kirche, und natürlich bekämpfen wir Sozialdemokraten auch solche Ausnahmegesetze nachdrücklich. Von diesem Standpunkt aus gelangen wir zur Forderung der Trennung der Kirche vom Staat, einer Forderung, die sich auf sämtliche religiösen Bekenntnisse bezieht, einer Forderung, die, wie das ja gestern dargelegt worden ist, nicht das Geringste mit irgendeinem Kulturkampf zu tun hat.

Meine Herren, wenn wir nun in dieser Weise vollkommene Freiheit für die religiöse Betätigung wünschen, fordern und jederzeit zu vertreten bereit sind, so haben wir andererseits das gute Recht, an den religiösen Vorgängen, an der Betätigung der verschiedenen Kirchen unsere Kritik zu üben; denn davon kann doch natürlich keine Rede sein, dass um deswillen, weil wir uns gegenüber der Forderung nach Freiheit der religiösen Betätigung durchaus zustimmend verhalten, dass wir um deswillen nun auch die Vorgänge innerhalb jeder Kirche ohne weiteres in Bausch und Bogen gutheißen und als noli me tangere behandeln müssten. Im Gegenteil, wir sind aus den von mir vorher angegebenen Gründen zu einer solchen Kritik verpflichtet. Danach betrete ich allerdings dasjenige Grenzgebiet, von dem gestern wiederholt die Rede gewesen ist, und wir scheuen uns nicht im Geringsten, dieses Grenzgebiet zu betreten.

Es ist eine einfache Vertuschung, wenn man den Standpunkt vertritt, dass die kirchlichen Angelegenheiten etwas durchaus außerhalb des allgemeinen politischen Interesses Liegendes seien, dass die kirchliche Machtvollkommenheit die politischen Interessen, die sozialen Interessen in keiner Weise berührte, dass wir infolgedessen innerhalb der Politik absolute Enthaltsamkeit üben könnten in Bezug auf die kirchlichen Angelegenheiten. Es ist ja in den Ausführungen des Herrn Kultusministers, in den Ausführungen, die sonst gestern und vorgestern in Bezug auf den Antimodernisteneid2 gemacht worden sind, ganz klar zutage getreten, dass Ihnen die vollkommene Untrennbarkeit von Politik und Kirchenpolitik in dem Moment, wo irgendwelche Konflikte entstehen, wo von der Kirche Aspirationen aufgestellt werden, von der katholischen Kirche nämlich, die unverträglich erscheinen mit Ihrem Bewusstsein und Ihrer Auffassung vom Staate – dass Sie sich in diesem selben Augenblick nicht im Geringsten scheuen, auch Ihrerseits die absolute Untrennbarkeit der Kirchenpolitik von der allgemeinen Politik anzuerkennen und Ihre Maßnahmen dementsprechend zu ergreifen. Genau dasselbe, was große Parteien dieses Hauses in Bezug auf die katholische Kirche anerkennen, dass man Bedenken hegen müsse, ob jemand, der den Antimodernisteneid geleistet hat, gleichzeitig geeignet sei, „Staatsdiener" zu sein – um Ihren Ausdruck zu gebrauchen –, der seine volle Pflicht und Schuldigkeit tut, gilt auch für die evangelische Kirche; und wir dürfen in Konsequenz Ihrer Auffassung fragen: Wie kann ein Geistlicher oder sonstiger Angestellter der evangelischen Kirche gleichzeitig Staatsdiener sein? Und diese Frage ist darum nicht weniger aktuell, und die Untrennbarkeit von allgemeiner Kirchenpolitik ist um so offensichtlicher, als ja bei uns die evangelische Kirche, die eigentliche Landeskirche, eine Art Staatskirche ist, als bei uns die evangelischen Pastoren in einem ganz außerordentlich hohen Maße unmittelbar unter dem Einfluss der Staatsgewalt stehen, als wir in unserm Kultusministerium zweifellos materiell eine vorgesetzte Behörde auch unserer evangelischen Geistlichkeit haben und als der Monarch gleichzeitig der summus episcopus für die evangelische Landeskirche ist. Wie will man es rechtfertigen, einmal die Frage nach der Kompatibilität zwischen kirchlicher Tätigkeit und Staatstätigkeit in Bezug auf den Katholizismus aufzuwerfen, gleichzeitig aber mit allem Nachdruck es abzulehnen, eine ähnliche Frage in Bezug auf die evangelische Geistlichkeit aufzuwerfen?

Tatsache ist, dass der Staat und die Kirche bei uns auf das Allerengste versippt sind, dass insbesondere eine solche enge Versippung stattgefunden hat zwischen der evangelischen Kirche und dem Staate. Das ist kein Zufall, sondern das hat seinen guten Grund. Die evangelische Kirche ist in die Hände der Staatsgewalt gelangt, von der Staatsgewalt usurpiert worden – ohne dass ich auf die historischen Umstände näher eingehe – einmal aus einfachen materiellen Interessen, der Bereicherung der Macht, andererseits, weil sich die Staatsgewalt nicht das Machtmittel entgehen lassen wollte, das seit je als überaus kräftig und wirksam erkannt worden ist, um die Bevölkerung im Zaume zu halten und den herrschenden Klassen gefügig zu machen, dass die Staatsgewalt sich mit andern Worten die Möglichkeit einer konzentrierten Einwirkung kirchlich-religiöser Art mit Hilfe der Kirche nicht entgehen lassen wollte. Und wenn ich nun daran erinnert habe, dass der Landesherr in Bezug auf die evangelische Kirche als der summus episcopus eine in weitem Umfange unbeschränkte Macht hat, während man versucht, die parlamentarischen Befugnisse in der Beziehung immer mehr auszuschalten, so erinnert mich das an die parallelen Beziehungen auf dem Gebiet des Militarismus. Dort gilt der Kaiser, dieser besonders eximierte Funktionär der Staatsgewalt, als der oberste Kriegsherr, und durch diese Beziehungen des Kriegsheeres zum Kaiser wird der ganze Charakter der Armee, des Militarismus, in einem eigenartigen Sinn definiert, abweichend von allen anderen Staatsinstitutionen. Genauso wie auf diese Weise die Armee in die Hände der höchsten Konzentration der Staatsgewalt gelegt ist, genauso hat man auch die Kirche als das zweite, vielleicht wichtigste Mittel zur Aufrechterhaltung der Staatsautorität im Interesse der herrschenden Klassen in die Hände der höchsten Zentralisation der Staatsgewalt gelegt.

Diese Parallele ist sehr interessant; und es ist wichtig, dass die bürokratische Verwaltung der evangelischen Landeskirche zwar mit sogenannter gemeindlicher Selbstverwaltung Hand in Hand geht, aber alles, was an Selbstverwaltung auf kirchlichem Gebiete bei uns geschaffen ist, an Bedeutung bei weitem überragt. Um das zu beweisen, brauche ich nur auf die neue Disziplinarverordnung hinzuweisen und darauf, wie in dem Falle Jatho vorgegangen ist unter gänzlicher Ausschaltung der Kirchengemeinden, wie einfach der bürokratische Weg, der durch die Behörden, mit denen wir uns bei dem jetzigen Titel zu befassen haben, vorgezeichnet ist, durch diese Behörden beschritten worden ist.

Es ist ein Kennzeichen unserer Zeit, dass die Grundsätze über die Freiheit des religiösen Bekenntnisses, die schon in dem Allgemeinen Landrecht, das in gewissem Sinne getränkt war von dem religiös-freiheitlicheren, rationalistischen Geist eines Friedrich „des Großen", wie diese Anschauungen nach und nach abgebröckelt sind und heute von ihnen nichts mehr übriggeblieben ist. Die Paragraphen des Allgemeinen Landrechts, die sich mit der Freiheit des religiösen Bekenntnisses befassen, sind heute nichts weiter mehr als eine tönende Schelle und ein klingendes Erz. Es ist in der Tat, wenn man die schönen Worte liest, die sich dort allenthalben finden, so, als ob man ein Märchen aus längst vergangener Zeit liest, das allerdings wohl auch einmal wieder in Zukunft Wirklichkeit werden wird. Da heißt es in dem 11. Tit. vom II. Teil des Allgemeinen Landrechts:

§ 1. Die Begriffe der Einwohner des Staates von Gott und göttlichen Dingen, der Glaube und der innere Gottesdienst können kein Gegenstand von Zwangsgesetzen sein.

§ 2. Jedem Einwohner im Staate muss eine vollkommene Glaubens- und Gewissensfreiheit gestattet werden.

§ 3. Niemand ist schuldig, über seine Privatmeinungen in Religionssachen Vorschriften vom Staate anzunehmen.

§ 4. Niemand soll wegen seiner Religionsmeinungen beunruhigt, zur Rechenschaft gezogen, verspottet oder gar verfolgt werden."

Und schließlich steht in § 5 die wunderschöne Bestimmung: „Auch der Staat kann von einem einzelnen Untertan die Angabe, zu welcher Religionspartei sich derselbe bekenne, nur alsdann fordern, wenn die Kraft und Gültigkeit gewisser bürgerlicher Handlungen davon abhängt."

Nun vergleichen Sie einmal diese Bestimmungen, die nominell noch in Geltung sind, mit der heutigen preußischen Wirklichkeit. Zunächst darf ich noch einmal auf den Fall Jatho hinweisen, von dem ich eben bereits sprach. Im Fall Jatho ist unter gänzlicher Übergebung der Kölnischen Gemeinde ein Ermittlungsverfahren eingeleitet worden, und zwar um deswillen, weil der Pfarrer Jatho als einer allzu liberalen Gesinnung verdächtig angesehen worden ist. Ich frage Sie, nach welchen Grundsätzen kann in einem solchen ketzergerichtlichen Verfahren vom Evangelischen Oberkirchenrat geurteilt werden?

Sie haben sich gestern zu einem Teil lebhaft über den Antimodernisteneid entrüstet, der von den katholischen Geistlichen gefordert wird. Nun, meine Herren, bei diesem Eid weiß man doch wenigstens, woran man ist. Hier wird dem Einzelnen ganz klipp und klar, in feierlichster Weise formuliert, vorgeschrieben: Das sind diejenigen Bestimmungen der Lehre, an die du dich ein für allemal zu halten hast! Und jeder Einzelne mit gesunden fünf Sinnen weiß, nachdem er derartig geistig in Ketten gelegt ist, wie weit er noch Bewegungsfreiheit besitzt.

Wie steht es in dieser Beziehung in der evangelischen Kirche? Was gibt dem ketzergerichtlichen Disziplinarverfahren in der evangelischen Kirche den ganz besonders peinlichen Beigeschmack, so dass man sagen möchte, dass mindestens vom Standpunkt des Geistlichen der Zustand unter dem Antimodernisteneid dem Zustand vorzuziehen ist, der in der evangelischen Kirche besteht? Hier weiß der einzelne Geistliche gar nicht recht, wie weit er gehen darf. Wer entscheidet denn darüber? In der katholischen Kirche ist es der Papst, der ex cathedra deklariert, in welcher Weise gelehrt werden muss. In der evangelischen Kirche haben wir dergleichen nicht; da haben wir keinen Papst, aber da gibt es einen Oberkirchenrat, und der entscheidet schließlich genauso wie der Papst. Und, meine Herren, ist es nicht ganz gleichgültig, ob man diese schließlich ex cathedra entscheidende Instanz Papst oder Oberkirchenrat nennt?

Es liegt in all diesen Redereien von der Freiheit der evangelischen Kirche eine ganz außerordentliche Dosis von innerer Unwahrhaftigkeit. Die Freiheit der evangelischen Pastoren ist die Freiheit, dass die vorgesetzte Disziplinarbehörde, die in keiner Weise die Garantie einer unparteilichen Rechtsprechung gewährt, dann, wenn es ihr passt anzunehmen, dass der betreffende Pfarrer über die Grenzen und die Pflichten hinausgegangen sei, die ihm sein Lehramt auferlegt, gegen ihn einschreiten kann. Dadurch haben in der evangelischen Kirche im Schlussresultat die Disziplinarbehörden noch einen viel größeren Einfluss auf die Geistlichen, als dies in der katholischen Kirche der Fall ist. Die katholischen Pastoren sind, wenn sie sich innerhalb ihrer Grenzen halten, auch ziemlich sicher, dass ihnen nichts am Zeuge geflickt wird. Aber der evangelische Pastor muss jeden Augenblick zittern und zagen, ob er mit dem, was er lehrt, nicht irgendwo bei der jetzt herrschenden Strömung oben Anstoß erregt; er muss also immer ängstlich den Mantel nach dem Winde, nach den jeweils herrschenden Luftströmungen in den Kreisen der vorgesetzten Kirchenbehörde hängen. Solange Sie ein derartiges Disziplinarverfahren innerhalb der evangelischen Kirche haben, solange Sie eine solche bürokratische Verwaltung haben, solange es von reiner Zufälligkeit und Laune der Disziplinarbehörden und der vorgesetzten Kirchenbehörden abhängt, wie weit ein Geistlicher in seiner Lehre gehen darf, so lange können Sie beileibe nicht von irgendeiner Freiheit reden, die der Freiheit innerhalb des Katholizismus vorzuziehen sei; im Gegenteil, im Sinne der betreffenden Pfarrer ist, wie ich bereits bemerkte, der Zustand der katholischen Kirche vielleicht sogar noch vorzuziehen.

Nun, meine Herren, ist es zweifellos von großer Bedeutung, dass wir uns an dem Fall Jatho wiederum ein klares Bild über die Willkür machen können, mit der die Kirchenbehörden vorgehen. Dass bereits in anderen Fällen in ähnlicher Weise Splitterrichterei getrieben und Engherzigkeit gezeigt worden ist, das habe ich im vergangenen Jahre zum Kultusetat ausgeführt, und dass das Damoklesschwert der Disziplinierung über jedem protestantischen Pfarrer hängt, darüber sind Sie sich doch wohl auch ganz klar. Die Pfarrer sollen als Staatsdiener in erster Linie die Pflicht und Schuldigkeit erfüllen, diejenige Gesinnung in der Bevölkerung zu verbreiten, die jeweils oben gewünscht wird. Und, meine Herren, das ist denn auch die Grundanschauung, die die Haltung der Pastoren, die sie in allen möglichen halbamtlichen Angelegenheiten einnehmen, durchaus bestimmt …

Meine Herren, nun möchte ich auf die nicht unmittelbare kirchlich-amtliche Tätigkeit der Pastoren hinweisen, die aber nach der bestehenden Disziplinarpraxis auch der Beaufsichtigung durch den Oberkirchenrat und die bürokratischen Kirchenbehörden unterliegt und infolgedessen dringend der Erörterung bedarf, auch deshalb schon, weil die Geistlichen ja zweifellos die Arbeit, die sie nominell außeramtlich leisten, auf Grund der Möglichkeiten leisten, die ihnen die Staatsgewalt beziehungsweise die Kirchenbehörde gewährt, indem sie ihnen ganz bewusst die nötige freie Zeit zu solcher Betätigung lässt und sie auch pekuniär genügend versorgt.

Meine Herren, da möchte ich zunächst einmal an einen Missstand erinnern, der sich in Berlin in Bezug auf die Art der Führung der Vormundschaft und auch der Waisenpflege herausgestellt hat und der einer scharfen Kennzeichnung wert ist. Da haben wir in Berlin einen Herrn Pastor Pfeiffer, der ein Allerweltsvormund ist, der Fürsorgezöglinge in ungezählter Menge unter seinen Fittichen hat und der nun von der Vormundschaftsbehörde zu meinem lebhaften Bedauern immer und immer wieder mit der Führung des ungeheuer wichtigen Amtes der Vormundschaft beauftragt wird. Meine Herren, dieser Pastor Pfeiffer, dieser Generalvormund, ist natürlich absolut außerstande, diese umfangreiche Vormundschaftstätigkeit auszuüben, ohne dass die kirchliche Behörde ihm dazu Urlaub erteilt, jedenfalls eine freie Bewegung verschafft, und er ist selbstverständlich trotz alledem außerstande, seinen Pflichten in gehöriger Weise nachzukommen. Die Klagen über seine vormundschaftliche Amtsführung, die uns immer wieder zukommen, sind geradezu Legion.

Wie kommt man nun dazu, gerade diesen Pastor Pfeiffer in dieser Weise zu bevorzugen bei der Bestellung zum Vormund? Meine Herren, das ist ausschließlich der Tatsache zu verdanken, dass man diesem Herrn den nötigen Bekehrungseifer zutraut, dass man von diesem Herrn erwartet, dass er sein vormundschaftsrichterliches Amt, das vor allen Dingen mit Pietät und Delikatesse ausgeübt werden müsste, dazu benutzt, um auch im Sinne der Kirche zu wirken und damit gleichzeitig der Staatsgewalt und der herrschenden Klasse in durchaus nicht einwandfreier Weise die Stange zu halten.

Meine Herren, wir haben gegen eine derartige Bevorzugung des geistlichen Elementes auf diesem Gebiete aus denselben Gründen die schärfsten Einwendungen zu erheben, denen ich bereits bei Gelegenheit der geistlichen Fürsorge in den Gefängnissen Ausdruck gegeben habe. Wenn gerade die Gefangenen um ihrer Abhängigkeit willen am Allermeisten verschont werden sollten mit aufdringlichen Bekehrungsversuchen, gilt das natürlich von den Kindern im Verhältnis zum Vormund noch viel mehr, und es sollte eine einfache Pflicht des Anstandes, der Humanität sein, eine Pflicht der einfachsten moralischen Reinlichkeit, möchte ich sagen, dass man nicht die Hilflosigkeit der Lage solcher unglückseligen Waisenkinder oder unter Vormundschaft gestellten Kinder dazu ausnutzt, um die kirchlichen Interessen zu vertreten und diese kleinen Wesen vollzufüllen mit den Gedanken und Anschauungen, die den kirchlichen Wünschen und Interessen entsprechen. Meine Herren, das ist eine durchaus, ich möchte fast sagen, unanständige Art, gegen hilflose und der Beeinflussung wehrlos anheimgegebene Personen in dieser Weise vorzugehen.

Meine Herren, ich möchte mich dann mit einem Worte gegen die Art wenden, wie sich die Pfarrer an allerhand inneren Missionsbestrebungen und auch an denjenigen Organisationsbestrebungen beteiligen, die von unserer Staatsgewalt gewünscht werden und den Wünschen der herrschenden Klassen entsprechen. Meine Herren, wir finden fast allenthalben, dass Geistliche als Protektoren derjenigen Arbeiterorganisationen auftreten und oftmals als die energischsten Befürworter und Agitatoren solcher Organisationen auftreten, deren Hauptziel und Zweck es ist, der modernen Arbeiterbewegung in den Rücken zu fallen und Streikbrecher und unanständige Elemente in dem Klassenkampf zu züchten. Meine Herren, dass die gelben Vereine sehr vielfach unter kirchlicher Protektion stehen und dass die konfessionellen Arbeiterorganisationen, die geradezu als Annexe halb offiziöser Art zu der eigentlichen kirchlichen Organisation betrachtet werden können, auch unmittelbar unter der Geistlichkeit stehen, darüber ist eine nähere Ausführung nicht erforderlich.

Dass die Geistlichen ihre Tätigkeit in diesem Sinne ausüben, halten wir für absolut nicht angezeigt und für durchaus in Widerspruch stehend mit den Aufgaben, die die Geistlichen sich zu stellen hätten. Solange der Staat eine Aufsicht zu führen hat gegenüber der Amtsausübung der Geistlichen und solange er diese Aufsicht ausnützt, um die Lehrmeinungen der Geistlichen zu kontrollieren und die schwersten Konsequenzen für etwaige missliebige Meinungen herbeizuführen, so lange können wir mit Fug und Recht an die Staatsregierung und die bürokratischen Kirchenbehörden die Forderung richten: Hier ist Gelegenheit einzugreifen und einer solchen unsozialen, einer solchen höchst gefährlichen und einer solchen unchristlichen, unehrlichen Tätigkeit der Geistlichen ein Ende zu bereiten. Denn zweifellos dient diese Tätigkeit dem Zwecke, die moderne Arbeiterbewegung abzulenken von ihren Zielen, dient sie dem Zwecke, die Arbeiterschaft zu verwirren und zu verdummen, und dient sie dem Zwecke, den herrschenden Klassen zu helfen, dient sie damit dem Zwecke, der Staatsgewalt Schwierigkeiten zu ersparen, Schwierigkeiten, denen die Staatsgewalt entgegengeht vermöge ihres gewalttätigen Charakters gegenüber der großen Masse der Bevölkerung. Diese Tätigkeit dient damit auch dem Zwecke, den herrschenden Klassen, das heißt den im Besitz von Reichtum und Macht befindlichen Klassen, Vorschub zu leisten und genau das zu tun, was das Evangelium verbietet, genau das zu tun, was das Gegenteil allen Christentums ist.

Meine Herren, durch diese Art der Betätigung der Pfarrer in der Arbeiterbewegung zum Zwecke der Verwirrung der Arbeiter wird vor aller Welt festgestellt, dass diese Pfarrer weit davon entfernt sind, die Vertreter desjenigen Christentums zu sein, das einst Jesus von Nazareth als eine revolutionäre religiöse Anschauung gelehrt hat, dass diese Herren vielmehr von der Überzeugung durchdrungen sind, dass sie der Staatsräson zu dienen haben. Sie sind davon durchdrungen, dass die Mahnungen und Warnungen, die das Christentum in seiner unverfälschten Form an die herrschenden Klassen richtet, dass die Forderungen, die dieses selbe Christentum für die untersten Schichten der Bevölkerung, für die Ärmsten und Unglückseligsten aufstellt, von ihnen vergessen und vergraben werden dürfen, und dass sie nichts anderes zu tun haben, als darauf zu sinnen, wie sie mit Hilfe der Mittel der Kirche und unter Anwendung der religiösen Triebe die Nachteile von der herrschenden Klasse und der Staatsgewalt abwenden können, die das Fortbestehen der gegenwärtigen Zustände bedrohen.

Meine Herren, damit ist auch die Art der geistlichen Betätigung betroffen, die unter den Binnenschiffern ausgeübt wird. Das geistliche Interesse für die Schiffer ist nicht sehr alten Datums; es ist erst vor einigen Jahren lebhafter in die Erscheinung getreten. Das hat seinen sehr guten Grund. Die Lage der Binnenschiffer hat sich ungeheuer verschlechtert, wie dies wiederholt in diesem Hause hervorgehoben und allseitig anerkannt worden ist. Und da zeigte sich die große Gefahr, dass die Binnenschiffer radikalen politischen Anschauungen anheimfallen könnten, und in dem Momente, wo diese Gefahr auftauchte – weil der bedauernswerte Stand in so schwierige Verhältnisse geraten war –, wo der herrschenden Klasse und der Staatsgewalt die Gefahr drohte, dass dieser Stand von „Staats- und königstreuer" Gesinnung abfallen würde, da erschienen, um diese Gesinnung zu erhalten, die Geistlichen als Funktionäre für die Interessen der herrschenden Klassen auf der Bildfläche und fingen an, sich mit einer außerordentlichen Liebe dieser Schiffer anzunehmen.

Diese große Liebe kennt gar keine Grenzen. Wenn man liest, welch zahlreiche Organisationen nicht nur von katholischen, sondern auch von protestantischen Geistlichen begründet worden sind, die den Zweck verfolgen, die Schiffer in der von mir erwähnten Gesinnung zu erhalten; wenn man an die Schifferheime denkt, die von eben diesen Organisationen oder sonst unter geistlichem Einfluss begründet worden sind; wenn man die Ausstattung dieser Schifferheime erwägt und daraus Rückschlüsse auf die jedenfalls ziemlich reich fließenden Mittel für diese kirchliche Betätigung innerhalb der Schifferkreise zieht; wenn man weiter daran denkt, wie bei den Festlichkeiten, die von den verschiedenen Schiffergemeinden abgehalten zu werden pflegen, und bei anderen Festlichkeiten immer die Geistlichen sich bemühen, die erste Geige zu spielen, dann merkt man sofort, dass diese Herren diejenigen Zwecke verfolgen, von denen ich vorhin gesprochen habe.

Meine Herren, ich erwähne zum Beispiel das Heimatfest der Schiffergemeinde Tangermünde vom 15. Januar dieses Jahres. Bei diesem Feste hat die evangelische Geistlichkeit ungefähr alles aufgeboten, was sie aufbieten konnte. Da ist der Vorsitz in Vertretung des leider verhinderten Herrn Geheimrats D. Martius vom Superintendenten Rieke geführt worden; da wurde die Versammlung, an der sämtliche Geistliche der Stadt teilnahmen, eingeleitet durch eine Predigt des Schifferpastors Mendelsohn aus Magdeburg; da sprach nachher der Pastor Mendelsohn über die Ziele und Zwecke der Schiffermission. Demnächst wurde die Bildung einer Ortsgruppe des christlich-nationalen Schiffervereins angeregt.

Meine Herren, bei Gelegenheit dieses Festes wird also die Bildung einer Ortsgruppe des christlich-nationalen Schiffervereins angeregt, die den Zweck verfolgen soll – wie ich bereits neulich ausgeführt habe –, innerhalb des großen Bundes der Schiffer die sozialdemokratischen Anwandlungen energisch zu bekämpfen (Abgeordneter von Arnim-Züsedom: „Sehr richtig!") und im Interesse der herrschenden Klassen zu wirken.

Meine Herren, zugleich hat ein Pastor Engel eine Versammlung von Schifferfrauen veranstaltet; dann hat Oberpfarrer Zahn aus Tangermünde auch einen Speech gehalten, und man schloss damit, dass vor allen Dingen der Glaube an Gott notwendig sei: „Fürchte Gott, ehre den König" usw. Auf diese Weise wurde das Schifferfest zu einer kirchlichen Veranstaltung gemacht.

Sehr fatal ist den Herren nur gewesen, dass auf dieser Versammlung der Schiffer auf die Aufforderung dieses Herrn Pastor Mendelsohn, einen christlich-nationalen Schifferverein zu gründen, wie die Zeitung „Das Schiff" bedauernd bemerkt, „sich leider die Ausführungen aus der Versammlung auf diejenigen eines Sozialdemokraten beschränkten, der in der bekannten Weise sich gegen diesen Appell richtete". Meine Herren, das ist diesen Herren schon öfter in ihrer Agitation passiert, dass sie auf Sozialdemokraten gestoßen sind und sehr wenig Anklang mit ihren agitatorischen Bestrebungen gefunden haben.

Dann habe ich auf die Zeitschrift „Gute Fahrt" hinzuweisen, die von der Vereinigung zur kirchlichen Fürsorge für die Fluss- und Kanalschifffahrt herausgegeben wird, ein amtliches Publikationsorgan selbstverständlich. Diese kirchliche Zeitschrift, die dem von mir gekennzeichneten verderblichen Zwecke dient, wird überall an den Schleusen verteilt und den Schiffern aufgenötigt. Ich habe vor kurzem sogar zu Ohren bekommen, dass ein Schleusenmeister, der Trinkgelder und Schmiergelder angenommen haben sollte, indem er das zum Teil eingestand, erklärte, er habe diese Gelder dazu benutzt, um Abonnements auf die „Gute Fahrt" zu bezahlen. („Hört! Hört!") Also, Sie sehen, meine Herren, was schon öfter in der Geschichte vorgekommen sein soll: Dieser fromme Schleusenmeister hat mit einem sehr unfrommen Werk sich bemüht, die Frömmigkeit zu fördern, die durch die „Gute Fahrt" verbreitet werden soll. („Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten.)

Ich muss mich auf diese wenigen Bemerkungen über die Schiffermission beschränken und will nur noch mit einigen Worten auf die Schifferkirche hinweisen, die einzurichten man für notwendig gehalten hat in derselben Zeit, wo die Lage der Binnenschiffer sich so ungünstig gestaltete, dass man die unangenehme politische Wirkung fürchtete, von der ich vorhin sprach. Meine Herren, diese Schifferkirche ist schwerlich besonders beliebt und frequentiert, und sie ist ganz gewiss nicht dasjenige Allheilmittel, in Ihrem Sinne, das Sie (nach rechts) aus ihr machen möchten.

Meine Herren, noch einen Punkt habe ich zu erörtern, indem ich eine ganze Anzahl von Einzelheiten aus dem Spiele lasse: jenen Vorgang, der sich in Dorlingheim abgespielt hat, wo von dem vaterländischen Frauenverein ein Bertha-Haus gegründet worden ist, an dem ein Pastor wirkte. Dieser Pfarrer, Wörner mit Namen, ist in einer geradezu unglaublichen Weise gegenüber einer Krankenschwester, Emma Schröder, vorgegangen, die in diesem Heim angestellt gewesen ist. Während die Ortseinwohner dort mit der Arbeit dieser Krankenschwester durchaus zufrieden gewesen sind und gerade die besonders treue Pflichterfüllung dieser Schwester überall gerühmt wurde, hat doch der Pfarrer an der Tätigkeit dieser Schwester Anstand genommen, weil sie anscheinend nicht in vollem Umfange in dem kirchlichen Sinne wirkte, wie es dem Pfarrer beliebte. („Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, die Einzelheiten, aus denen sich die Intrige, die gegen diese Dame gesponnen worden ist, entwickelt hat, entziehen sich naturgemäß der Kenntnis. Aber es mag vollkommen dahingestellt bleiben, welche Motive den Pfarrer bewogen haben, eine solche Abneigung gegen diese Krankenschwester zu gewinnen; aber die Art, wie er diese Abneigung geltend gemacht hat, ist ein Skandal, und um deswillen ein besonders großer Skandal, weil es sich um einen Pfarrer handelt, der ja doch die Zehn Gebote mit vollen Backen zu lehren und in die Welt hinauszuposaunen pflegt. Meine Herren, er telegrafierte, als der Konflikt ausgebrochen war und sich die Gemeinde zum größten Teile auf die Seite der Schwester stellte, an die Oberin um sofortige Hilfe; im Dorfe breche die Revolution aus, es gehe alles drunter und drüber. Schwester Emma wurde aus dem Bertha-Haus ausgestoßen und damit brotlos gemacht. Wegen der kündigungslosen Entlassung wurde das christliche Mutterhaus verurteilt, an die Schwester 294 Mark zu bezahlen. Es wurde eine andere Schwester eingesetzt, namens Brockhausen. Diese hat ihre Vorgängerin in der unerhörtesten Weise beleidigt und in der öffentlichen Meinung herabgewürdigt. Das gab Veranlassung zu einer Beleidigungsklage der Emma Schröder gegen eben diese Schwester. In dieser Klage wurde festgestellt, das heißt, die Schwester Brockhausen erklärte, dass die Oberin ihr gesagt habe, sie solle alles auf sich nehmen, damit der Pfarrer und seine Frau nicht mit in die Geschichte verwickelt würden. („Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.) Das ist geradezu unerhört; damit ist gegen das Gebot verstoßen, das da sagt: Du sollst nicht falsch' Zeugnis reden wider deinen Nächsten, und du sollst vor allen Dingen nicht lügen. Hier ist ganz deutlich gegen die Pflicht zur Wahrheit verstoßen worden. Hier ist von einer geistlichen Person auf eine untergebene Person dahin eingewirkt worden, dass sie lügen solle, um den Pastor zu schützen, und es ist allgemein die Meinung verbreitet, dass der Pastor selbst hinter dieser Ermahnung der Oberin gesteckt habe. Meine Herren, dass sowohl das Konsistorium wie auch das Kultusministerium sich für unfähig erklärt haben, in der Angelegenheit etwas zu unternehmen, ist einfach selbstverständlich.

Nun, meine Herren, ich will nicht noch näher eingehen auf die verschiedenen sonstigen Missetaten, die sich die evangelische Kirche, speziell die bürokratischen Behörden der evangelischen Kirche, gegen diejenigen Interessen haben zuschulden kommen lassen und fortgesetzt zuschulden kommen lassen, die wir in erster Linie zu vertreten berufen sind und die die christliche Kirche in erster Linie vertreten müsste, wenn sie ihrer Schuldigkeit nachkäme, wie ihr die wahre christliche Lehre sie auferlegt. Meine Herren, ich will nur feststellen, dass nach der ganzen Art der Organisation der evangelischen Kirche, nach ihrer Abhängigkeit vom Staat, nach der Art, wie sie als ein Werkzeug im Interesse der herrschenden Klassen benutzt wird, ganz naturgemäß diese Kirche mehr und mehr bei den breiten Massen des Volkes mit Misstrauen betrachtet werden muss und dass die Massen sich notwendig mehr und mehr von dieser Kirche abwenden.

Das ist nun den kirchlichen Behörden besonders in die Knochen gefahren, und man ist rasch dabei, alle möglichen Hebel in Bewegung zu setzen, um die Massenflucht aus der Kirche zu hindern. Meine Herren, diese Massenflucht ist zu einem großen Teil mit zurückzuführen auf das Verdienst unseres heute leider erkrankten Freundes Hoffmann.3 Sie ist eins der wirksamsten Mittel, um die Kirche Mores zu lehren, um ihr beizubringen, welche Verpflichtungen sie gegenüber der Bevölkerung zu erfüllen hat.

Wenn sie sich so zeigt, dass das Volk mehr und mehr über den wahren Charakter der evangelischen Kirche aufgeklärt wird, dann wird die evangelische Kirche sich vielleicht schließlich doch genötigt sehen, ein klein wenig die Unehrlichkeit, das Doppelspiel, das bisher geübt wurde, aufzugeben, in ihrem eigenen Interesse dann und wann wider den Stachel der staatlichen Aufsichtsorgane zu löcken und in höherem Maße als bisher wenigstens in einem gewissen Umfange wieder für die Interessen der Armen und Bedrückten einzutreten.

Statt dessen sucht die Staatsgewalt und die Kirche heute mal einen andern Ausweg zur Rettung. Die Staatsgewalt bereitet dem Kirchenaustritt die größten Schwierigkeiten. Das nach langen Kämpfen eingeführte Kirchenaustrittsgesetz ist natürlich immer noch sehr unvollkommen; es verknüpft den Kirchenaustritt mit allerhand Klauseln und Formalitäten, für die man einen verständigen Grund überhaupt nicht finden kann.

Meine Herren, ich frage Sie: Kann es etwas Unsittlicheres geben, und zwar im tiefsten Sinne des Wortes (Heiterkeit rechts.), als jemanden, der sich innerlich von einer religiösen Auffassung losgelöst hat, durch allerhand Bedingungen und Hemmnisse, die ihm bereitet werden, dennoch weiter zur Zugehörigkeit zu der religiösen Gemeinschaft veranlassen zu wollen? Wird damit nicht Heuchelei erzielt? Zeigt sich darin nicht, dass diese kirchliche Organisation weniger Gewicht legt auf die innere Gesinnung ihrer Mitglieder, die ja schließlich das allein Entscheidende im Sinne der echten Religiosität ist, als vielmehr auf die äußere Macht der Kirche, dass man eben die Kirche als Machtfaktor betrachtet, ebenso wie die Polizei, die Armee und die Gerichte es sind?

Meine Herren, wie die Pastoren das ihnen eingeräumte Recht, auf diejenigen, die sich zum Austritt aus der Kirche gemeldet haben, einzuwirken, oftmals mit sehr mangelhafter Delikatesse ausüben, darüber ist mir eine große Zahl von Fällen bekannt, die mir von darüber Entrüsteten und Empörten mitgeteilt worden sind. Da wird mit allerhand Drohungen gearbeitet; es wird noch einmal das allerschärfste Geschütz losgelassen – in diesem Falle natürlich nicht das weltliche, sondern das geistliche Geschütz: die Höllenkanonen werden losgelassen (Heiterkeit.) gegen diejenigen, die aus der Kirche ausscheiden wollen. So versucht man noch im letzten Moment, ihren Willen zu beugen, und das mag wohl bisweilen Erfolg haben. Aber bei denen, die unter unserem Einfluss stehen, die von der Sozialdemokratie über den wahren Charakter unserer heutigen Kirche aufgeklärt worden sind, können solche Versuche der Pastoren nur die Abneigung und die Missbilligung gegenüber unseren kirchlichen Institutionen steigern, man kann geradezu sagen: den Hass steigern, der nichts mit dem Hass gegen irgendeine Religion an sich gemein hat, sondern der sich nur gegen dasjenige in unseren kirchlichen Einrichtungen wendet, was als durchaus unreligiös, als irreligiös zu bezeichnen ist, was in Widerspruch mit jeder Religion steht.

Meine Herren, nun wissen Sie ja, welche großen Schwierigkeiten auch noch unsere Judikatur uns dazu bereitet hat. Sie kennen die gerichtliche Verfolgung der Kirchenaustrittsplakate; Sie kennen den Leidensweg, den mein Freund Hoffmann in der Frage des Unterrichts der Kinder der Freireligiösen in den Schulen gegangen ist. Sie wissen – und das ist das besonders charakteristische, worauf ich Sie hinweisen will –, wie das Kammergericht seinen in dieser Beziehung früheren freiheitlicheren und mit dem Wortlaut des Gesetzes – des Landrechts und der Verfassung – übereinstimmenden Standpunkt auf den fortgesetzten Ansturm der kirchlichen Behörden und der Staatsbehörden, der Staatsanwaltschaft, schließlich preisgegeben hat und, was es gestern angebetet hat, gekreuzigt und verbrannt hat, so dass wir jetzt mit großen Erschwerungen zu rechnen haben, wenn wir unsere Kinder nicht in den Religionsunterricht schicken wollen, der in den Schulen gelehrt wird. Aber das ist das Kennzeichnende, dass hier die Gymnasien wiederum besser gestellt sind als die Volksschulen, dass man in Bezug auf die Entbindung der Gymnasiasten von dem Religionsunterricht eine größere Freiheit gewährt als in Bezug auf die Entbindung der Volksschüler vom Religionsunterricht. Das hat seinen Grund in genau demselben Prinzip, das mein Freund Ströbel gestern hier bereits in einer sehr klaren und hoffentlich auch für Sie in einem gewissen Sinne einleuchtenden Weise auseinandergesetzt hat, in jenem Prinzip, das allerdings Ihnen nicht auseinandergesetzt zu werden brauchte, weil es Ihnen durchaus bewusst ist, und Sie, von diesem Prinzip ausgehend, eine ganz klare, zielbewusste, volksfeindliche Kirchenpolitik treiben.

Meine Herren, aber nun etwas anderes. Die Rechtsprechung über den Austritt aus der Kirche hat sich in der neueren Zeit in verschiedener Beziehung noch verschlechtert. Das ist eine Tatsache, die aus zwei Momenten zu erkennen ist. Einmal haben sich in letzter Zeit wenigstens zwei verschiedene Instanzgerichte auf den Standpunkt gestellt, dass Minderjährige nicht berechtigt seien, selbständig aus der Kirchengemeinde auszuscheiden, dass sie dazu der Volljährigkeit bedürften. Nun ist zweifellos nach den Bestimmungen des Allgemeinen Landrechts als das Unterscheidungsalter das vierzehnte Lebensjahr festgesetzt. Das Kirchenaustrittsgesetz betrachtet sich in diesen Bestimmungen selbst als eine Ergänzung des Allgemeinen Landrechts. Es ist also schlechterdings unfassbar, wie man auf diese Auffassung gekommen ist, wenn man sich nicht daran erinnerte, dass ja die Königliche Staatsregierung, von der derartige Maßregeln ausgegangen sind, auch auf einem anderen Gebiete ganz willkürlich die Jugend bis zum 21. Lebensalter für sich usurpiert hat, worüber wir mit dem Herrn Kultusminister noch eine Separatabrechnung zu halten haben werden.

Meine Herren, diese Urteile, von denen ich eben sprach – es ist ein Urteil aus Sagan und ein anderes aus Düsseldorf –, sind allerdings durch die höheren Instanzen aufgehoben worden. Aber wenn die unteren Gerichte in dieser Weise versuchen, gegen das klare Gesetz zu revoltieren, wenn es so erst der letzten Hilfe bei dem höchsten Gerichtshof bedarf, um Remedur zu schaffen, dann beweist das, dass allerhand Bestrebungen im Gange sind, die Judikatur hier umzuwerfen, und nach dem, was wir am Kammergericht bisher auf verschiedenen Gebieten erlebt haben, besorgen wir auf das Lebhafteste, dass es auf die Dauer diesem Ansturm nicht standhalten wird.

Meine Herren, das zweite ist eine Entscheidung des Kammergerichts. Das Kammergericht hat vor kurzer Zeit in einer Entscheidung betont, dass der Kirchenaustritt nach dem Kirchenaustrittsgesetz von 1873 ausschließlich bürgerliche Wirkungen habe und keinerlei kirchliche Wirkungen, und hat aus diesem an und für sich im Prinzip vielleicht nicht einmal anfechtbaren Satz gefolgert, dass nunmehr, wenn die Eltern gestorben sind – obwohl sie ausgetreten sind, und selbst wenn sie mit ihren Kindern ausgetreten sind –, nach den Vorschriften des Gesetzes über den Austritt aus der Landeskirche dennoch die überlebenden Kinder in der Religion, der der Vater vor seinem Kirchenaustritt angehört habe, erzogen werden müssten, weil eben eine kirchliche Wirkung durch den Austritt aus der Landeskirche nach dem Gesetz nicht erzielt sei.

Nun, meine Herren, möchte ich doch darauf hinweisen, dass es gerade das Allgemeine Landrecht ist, das sich in seinen Bestimmungen eingehend mit der Frage befasst, in welcher Religion die Kinder bei gemischt religiösen Ehen usw. zu erziehen sind, wie Waisen zu erziehen sind und dergleichen. Damit ist durch das Gesetz anerkannt, dass es die Frage, in welcher Weise die Kinder zu erziehen sind, eben gerade als eine bürgerlich-rechtlich interessierende Frage betrachtet; denn sie ist ja bürgerlich-rechtlich geregelt. Wie kann denn nun das Kammergericht sagen, dass der Austritt aus der Landeskirche diese zweifellos nach dem Willen des Gesetzes bürgerlich-rechtliche Wirkung nicht habe, weil der Austritt keine kirchenrechtliche Wirkung habe? Der Standpunkt des Kammergerichts kennzeichnet sich ganz deutlich als ein weiterer Rückzug vor den Usurpationsgelüsten unserer Kirche, als ein weiterer Schutzwall gegenüber der Kirchenaustrittsbewegung. Das Kammergericht hat damit wiederum gezeigt, wie unzuverlässig es leider ist.

Ich möchte bei dieser Gelegenheit auch noch auf die pikante Tatsache hinweisen, dass in Lauenburg bisher das preußische Gesetz über den Kirchenaustritt, soviel ich orientiert bin, keine Geltung hat oder doch nach Ansicht der Behörden haben soll. Mir ist im Augenblick nicht vollkommen klar, ob diese Ansicht eine rechtliche Stütze hat. Es wird gesagt, dass Lauenburg sogenanntes Kronland gewesen sei und dass aus irgendwelchen historischen Gründen das Kirchenaustrittsgesetz auf Lauenburg bisher keine Anwendung finde. Ich will kein Wort darüber verlieren, ob diese Anschauung formalrechtlich richtig ist; aber ich möchte denn doch darauf hinweisen, dass, wenn diese Tatsache richtig ist, es ein absolutes Erfordernis ist, dass mit größter Geschwindigkeit ein Kirchenaustrittsgesetz für Lauenburg erlassen wird, damit dem unglaublichen Zustand Abhilfe geschaffen wird, wonach solche Zwangsmitglieder in den kirchlichen Organisationen zu bleiben haben.

Zweifellos haben die Kirchen selbst bisher noch nie etwas unternommen, um dem Missstande abzuhelfen, dass Zwangsmitglieder doch Mitglieder der Kirche bleiben müssen. Wir müssen feststellen, dass die katholische Kirche genau wie die evangelische Kirche die Aspiration erhebt, dass auch solche Personen, die sich innerlich von der kirchlichen Gemeinschaft vollkommen losgesagt haben, dennoch durch Pressions- und Zwangsmittel und durch Einsetzung von allerhand Erschwerungen weiterhin Mitglied der betreffenden Kirche bleiben. Damit ist dem Grundprinzip, von dem ich vorhin sprach und das nur wir mit voller Konsequenz vertreten, dem Prinzip der religiösen Gewissensfreiheit, auf das Schwerste, auf das Schärfste ins Gesicht geschlagen.

Meine Herren, alle die Behauptungen, wonach entweder der evangelische Teil oder der katholische Teil dieses Hauses Toleranz übe, wonach er in der Tat für religiöse Gewissensfreiheit eintrete und jedem Gewissenszwang abhold sei – alle diese Ausführungen sind in ihrem innersten Kern durchaus unwahrhaftig, wie ich eingangs ausgeführt habe. Die einzige Partei, die in der Tat in konsequenter Weise dem Prinzip huldigt, dass Religion Privatsache sei, die das wirklich Ideale, Edle und Unvertilgbare in dem religiösen Leben anerkennt, versteht und auch in der Politik und im Staatsleben usw. würdig zu behandeln sucht, die einzige Partei, die in Wahrheit Gewissensfreiheit vertritt, ist die Sozialdemokratie. Sie ist die einzige Partei, die aus der Forderung der Gewissensfreiheit die Konsequenz zieht, dass eine Trennung von Staat und Kirche einzutreten habe, selbstverständlich in Bezug auf die katholische Kirche, aber auch in Bezug auf die evangelische Kirche, bei der die Verbindung noch viel intensiver ist als bei jener. Das ist die fundamentale Maßregel, die erforderlich ist, damit den Kirchen zum Bewusstsein gebracht wird, dass sie sich keineswegs in der jetzt üblichen Weise unter Anwendung einer privilegierten Macht in die Angelegenheiten der Politik, in die Angelegenheiten des sozialen Lebens einzumischen haben.

Meine Herren, Sie stimmen in Ihrer großen Mehrzahl nicht nur dem Paragraphen 153 der Gewerbeordnung zu, sondern sogar möglichst einer Verschärfung dieses Paragraphen, der denjenigen mit Strafe bedroht, der einen anderen durch Drohungen oder durch Ehrverletzungen oder durch Verrufserklärungen zu nötigen unternimmt, in irgendeine Verbindung zur Erlangung günstiger Arbeitsbedingungen einzutreten. Meine Herren, treten Sie – das wäre viel berechtigter – in Konsequenz dieser Auffassung, wonach der Paragraph 153 die Arbeiterorganisationen in dieser Weise bedroht, doch auch für eine entsprechende Bestimmung für die Kirchengemeinschaften ein; treten Sie dafür ein, dass entsprechend den Grundsätzen, die das Landrecht bereits aufgestellt hat, auch diejenigen mit Strafe bedroht werden, die durch Ehrverletzung oder durch Bedrohung mit irgendeinem beliebigen Übel oder durch Verrufserklärungen oder durch dergleichen Einwirkungen jemanden zu veranlassen suchen, einer kirchlichen Gemeinschaft beizutreten oder ihn zu verhindern suchen, aus einer kirchlichen Gemeinschaft auszutreten! („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.) Das wäre konsequent; das wäre die Konsequenz, die Sie von Ihrem kriminalpolitischen Standpunkte aus ziehen müssten aus einer wirklich idealen Auffassung unseres religiösen Lebens. Aber Sie vertreten diese ideale Auffassung nicht. Für Sie ist die Kirche ein politisch-sozialer Machtfaktor, für Sie ist die Kirche ein materielles Werkzeug, für Sie ist die Kirche in vieler Beziehung eine milchende Kuh, und für Sie ist die Kirche vor allen Dingen ein Mittel zur Niederhaltung der großen Massen des Volkes. Und aus diesem Grunde sind Sie so ungeheuer fromm, sind Sie so ungeheure Freunde der Kirche, wenn Sie sich auch in Ihrer großen Mehrzahl allerdings doch nicht bewogen gesehen haben, den Gottesdienst zu besuchen, der zur Eröffnung der jetzigen Session des Landtages abgehalten wurde …

Meine Herren, lesen Sie – das ist die Mahnung, die ich zuletzt an Sie richten möchte (Heiterkeit rechts und im Zentrum.) – doch einmal wirklich wieder die Bibel, und lernen Sie die Bibel – ich meine vor allem das Neue Testament – wirklich einmal verstehen! Lesen Sie auch einmal die kleine Schrift meines Freundes Hoffmann (Große Heiterkeit und Zurufe rechts und im Zentrum: „Nein! Nein!") über „Die zehn Gebote und die besitzende Klasse!" Das ist eine Schrift, über deren literarische Qualitäten Sie natürlich die Nase rümpfen; aber es kommt auf die formale Bildung wenig an. In dieser Schrift sind mehr Wahrheiten enthalten, Wahrheiten für die Sozialdemokratie und Wahrheiten, die eine brennende Schmach sind für unsere herrschende Gesellschaftsordnung, als Sie bisher begriffen haben. Lesen Sie die Schrift, Sie können daraus viel lernen, und Sie werden darin einen guten Kommentar zu dem Christentum finden, das Sie bisher üben! Ich schließe wiederholt damit: Werden Sie Christen in Ihrem eigenen Interesse! („Bravo!" bei den Sozialdemokraten. Heiterkeit rechts und im Zentrum.)

1 Konservative Partei. Die Red.

2 Glaubenseid, der vom Papst von den katholischen Geistlichen und allen staatlichen Lehrern, die zugleich ein Priesteramt als Prediger oder Beichtiger versahen, gefordert wurde. Er sollte dem „Schutz des Glaubens" dienen, richtete sich gegen die um 1900 innerhalb der katholischen Kirche entstandene Bewegung, die versuchte, die katholische Lehre und modernes (naturwissenschaftliches) Denken (Modernismus) zu verbinden. Er richtete sich gegen den Fortschritt in Wissenschaft, Forschung und Erkenntnis und schränkte damit die Lehrtätigkeit der katholischen Lehrer an den staatlichen Hochschulen ein.

Von den reaktionärsten Kreisen des Zentrums wurde die Eidesleistung als eine innere Angelegenheit der Kirche, in die sich der Staat nicht einzumischen habe, dargestellt. In Wirklichkeit war es der Versuch des Papstes, „einen Konflikt mit der preußischen Staatsregierung herbeizuführen", wie es selbst die „Kreuz-Zeitung" in einem Artikel zum Ausdruck brachte.

3 Die zehn Gebote und die besitzende Klasse. Nach dem gleichnamigen Vortrage von Adolph Hoffmann mit einem Geleit-Brief von Frau Clara Zetkin …, Berlin o. J. – Adolph Hoffmann; Los von der Kirche. Die Red.

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