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Karl Liebknecht 19110812 Marokko-Hundstagspolitik

Karl Liebknecht: Marokko-Hundstagspolitik

[Freie Volkszeitung, Tageblatt für die Oberämter Göppingen, Gmünd, Schorndorf und Welzheim, Nr. 186 vom 12. August 1911. Nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 4, S. 451-454]

Auf einer neuen Basis wird verhandelt"; „zwischen der französischen und der deutschen Regierung ist eine Annäherung über den prinzipiellen Standpunkt erfolgt". So hat die preußisch-deutsche Regierung gnädigst den nach Aufklärung und Mitbestimmung in der Marokkoaffäre schreienden Untertanen zu offenbaren geruht. Und damit, so verkündet dieses mit Tamtam in die Welt gesetzte „Kommuniqué", sei die diplomatische Geheimkunst der Kiderlen-Wächter und ihrer Hintermänner glänzend gerechtfertigt. Großartig, in der Tat! „Wenn das nicht zieht, zieht gar nichts mehr!"

Man hat verteufelt leichtfertig am gefüllten Pulverfass herumhantiert; es ist bisher dennoch nicht explodiert: Freue dich, Volk, und frohlocke über die Weisheit, mit der du regiert wirst! Man macht ein paar nichtssagende Redensarten und nennt sie Kommuniqué: Preise, Volk, die Vorsicht und Rücksicht derer, die dein Geschick in die Hand genommen haben, die die Würfel um dein Gut und Blut werfen; vertraue der Zukunft und hoffe und harre!

Aufgeblasenes Geschwätz eines eingebildeten Höflings verhöhnte einst das deutsche Proletariat, das unsere Politik in der Hasenheide machen wolle. Aber man weiß gar wohl, dass im Deutschland des 20. Jahrhunderts das Proletariat unter dem Banner der Sozialdemokratie eine Macht ist, stark genug, den diplomatischen Geheimköchen der kapitalistischen Kolonialfreibeuter ihr Rezept recht gründlich zu verderben. So sucht man in letzter Stunde Fühlung mit der Öffentlichkeit in echt preußischer Weise nicht durch Aufklärung, sondern durch eine Portion Sand in die Augen und blauen Dunst vor die Augen.

Das Proletariat aber zerbläst diesen Dunst und reibt sich den Sand aus den Augen und blickt klar und scharf in die Situation und wird sich nicht in beseligendem Vertrauen auf all die Stellvertreter Gottes auf Erden, mit denen es beglückt ist, einlullen lassen; fest und entschlossen wird es nach wie vor seinen Willen, seine Macht in die Waagschale des Friedens werfen.

Höchst einflussreiche Kreise hetzen heute wie gestern zum kriegerischen Konflikt; und wer könnte den Bethmann und Kiderlen-Wächter trauen, jenen Kumpanen der Kröcher und Junkergenossen, deren ganze innerpolitische Hoffnung auf die Entfesselung chauvinistischer Instinkte gebaut ist?

Wie sie toben, die Alldeutschen und die nationalkapitalistischen Scharfmacher freikonservativer und nationalliberaler Couleur und die Panzerplattenpatrioten dazu. Die Sorge um ihre Felle, die ihnen wegschwimmen könnten, entlockt ihnen die tollsten Majestätsbeleidigungen und neuestens sogar den Ruf nach Einberufung des Reichstags! Ganz wie im November 1908! Ein Kampf gegen das persönliche Regiment, eröffnet von den gehässigsten Feinden jeder Demokratie, jedes demokratisch-parlamentarischen Regimes. Nur eben, weil dieses persönliche Regiment nicht ganz so will, wie sie wollen. Eine köstliche und lehrreiche Illustration zur Erkenntnis vom Wesen unserer Monarchie und Bürokratie! Der Flittertand des Gottesgnadentums wird abgestreift von den eifrigsten Priestern dieses Gottesgnadentums selbst; den Götzen, der ihnen nicht gehorcht, möchten sie zertrümmern; wie das preußische Junkertum, so reimt auch der weltmachthungrige Kapitalismus: Und der König absolut, wenn er unsren Willen tut.

Mächtige Einflüsse sind am Werke gegen den Frieden; die Hauptstipendiaten der preußisch-deutschen Misswirtschaft suchen nach wie vor den Damm des Friedens zu unterwühlen und mörderisches Unheil über Europa heraufzubeschwören.

Da hat das Proletariat doppelte Pflicht, die Hand am Schwertknauf zu halten. Die künftige Entwicklung des wahnwitzigen und verbrecherischen Abenteuers ist nicht abzusehen. Von endgültiger Wegräumung der Kriegsgefahr ist beileibe keine Rede. Nur angespannteste Wachsamkeit und andauernde Bekundung der proletarischen Bereitschaft zum rücksichtslosen Kriege gegen den Krieg kann die Gelüste jener politischen Piraten endgültig niederringen.

Und noch andere Aufgaben hat das sozialistische Proletariat zu erfüllen:

Wie auch im Übrigen die Affäre ablaufen mag: Neue Kolonien sollen dem deutschen Volke beschert werden, neue Kolonien, neue gewaltige Lasten, neue Volksausplünderung im Interesse einer Handvoll Kolonialinteressenten, eine Verschärfung der imperialistischen Macht- und Gewaltpolitik mit ihrem Drum und Dran von neuen Rüstungen und ihrer verhängnisvollen Rückwirkung auf die innere Politik: Stärkung aller Mächte der Unterdrückung, aller geschworenen Feinde des Proletariats.

Auch die bonapartistische Seite der Sache ist um nichts in der Welt erledigt: Hier gilt's vor allem auf der Hut sein. Denken wir der Faschingswahlen 18871, der Hottentottenwahlen 19072. Die Regierung und ihre Treiber verstehen den demagogischen Rummel chauvinistischer Aufpeitschung und Verwirrung aus dem ff. Jedes Mittel ist ihrer machiavellistischen Politik seit je recht gewesen. Auf Überraschungen und Skrupellosigkeiten jeden Kalibers heißt's gefasst sein.

Aber wenn das Proletariat auf dem Posten ist, so soll's den Feinden des Volks hier ergehen, wie es ihnen mit ihren unsauberen Manövern zur Fruktifizierung der Moabiter Krawalle3 erging: Die Sozialdemokratie wird über alle Machenschaften ihrer tückischen Gegner triumphieren.

Aus dem erhofften Kriegsabenteuer wird werden eine Kräftigung der internationalen Solidarität des Proletariats, eine Befestigung des Völkerfriedens; aus dem Bravourstück der unverantwortlichen absolutistischen Diplomatie eine Anfeuerung zum Kampf gegen das persönliche Regiment und darüber hinaus gegen den weltpolitischen Despotismus des profitgierigen Kapitalismus; aus der Wahlparole, die den Rattenfängerkünsten der Volksfeinde als betörende Melodie dienen sollte, eine Wahlparole der Sozialdemokratie, der die Massen des deutschen Volkes jubelnd und begeistert folgen, auf dass endlich des Volkes Wille das höchste Gesetz werde und alle Ketten der Ausbeutung und Unterdrückung zerbrechen.

1 Bezeichnung für die Reichstagswahl vom 21. Februar, dem Rosenmontag 1887, die, trotz des Terrors unter den Bedingungen des Sozialistengesetzes, den Sozialdemokraten beträchtlichen Stimmengewinn brachte.

21906 löste Reichskanzler von Bülow den Reichstag auf, weil außer den Sozialdemokraten nun auch das Zentrum zusätzliche Mittel zur Niederschlagung der um ihre Freiheit kämpfenden Eingeborenen Deutsch-Südwestafrikas, vor allem der „Hottentotten“ (Nama), verweigert hatte. Die Neuwahlen am 25. Januar 1907, die sogenannten Hottentottenwahlen, gewann unter beispiellosem Terror gegen die Sozialdemokratie und durch chauvinistische Verhetzung ein „regierungsfreundlicher" Block aller liberalen und konservativen Parteien, der Hottentottenblock.

3 Im September 1910 streikten die Arbeiter der Firma Kupfer & Co., einer dem Stinnes-Konzern angeschlossenen Kohlengroßhandlung in Berlin-Moabit. Als Streikbrecher des Streikbrechervermittlers Hintze, geschützt durch die Polizei, provokatorisch auftraten, kam es zu blutigen Zusammenstößen zwischen der Polizei und der Bevölkerung. Die brutal vorgehende Polizei tötete zwei und verwundete zahlreiche Personen. In zwei großen Prozessen – vom 9. November 1910 bis 11. Januar 1911 vor einer Berliner Strafkammer und vom 9. bis 23. Januar 1911 vor dem Schwurgericht des Berliner Landgerichts I – wurde gegen 18 Angeklagte verhandelt, von denen 14 insgesamt 67 ½ Monate Gefängnis erhielten. Der Rest wurde freigesprochen.

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