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Karl Liebknecht 19100207 Gegen die preußische Klassenjustiz

Karl Liebknecht: Gegen die preußische Klassenjustiz

Rede im preußischen Abgeordnetenhaus zum Justizetat

[Nach Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Preußischen Hauses der Abgeordneten, 21. Legislaturperiode, III. Session 1910, 1. Bd., Berlin 1910, Sp. 1311-1351 und nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 3, S. 5-55]

Meine Herren, es ist leider nicht möglich, in diesem Hause die großen Fragen der Justizreform in ausgiebiger Weise zu behandeln. Es ist auch nicht möglich, in diesem Hause eingehender darauf hinzuweisen, wie der neue Vorentwurf zum Strafgesetzbuch in seinen wesentlichen Bestimmungen als ein ausgeprägtes Ausnahmegesetz gegen das kämpfende Proletariat zu betrachten ist. Wir haben aber auch nicht nötig, uns mit diesen neuen Versuchen einer Beschneidung der Volksrechte und einer Schädigung der Volksinteressen zu befassen. Was wir an dem gegenwärtigen Zustand unserer Justiz zu kritisieren haben, genügt bereits vollständig

1Meine Herren, auch wir Sozialdemokraten oder gerade wir Sozialdemokraten halten die Rechtspflege wohl für die höchste und edelste Aufgabe des Staates, für diejenige Aufgabe, in der der Staat gewissermaßen über sich selbst hinauswächst und eine Einrichtung zu seiner eignen Kontrolle schafft – wenigstens schaffen sollte. Das ist das Höchste, was der Staat tun kann. Aber, meine Herren, ich frage Sie: wie verhält sich die wirkliche Stellung unserer Justiz zu dieser ihrer idealen Aufgabe? Sie müsste die höchste und die angesehenste Funktion des Staates sein, so wie sie in Zeiten freien Volkstums wirklich die edelste Funktion der freien Volksgemeinschaft gewesen ist. In unseren gegenwärtigen Verhältnissen aber, besonders in Preußen, darf man die Justiz ruhig als das Aschenbrödel unserer Staatsinstitutionen bezeichnen, und zwar um deswillen, weil die einzelnen Ressorts unserer Regierungen keineswegs in ihrer Bedeutung rubrizieren nach den idealen Rücksichten auf die Bedürfnisse der staatsbürgerlichen Freiheit und auf die Forderungen eines stolzen bürgerlichen Selbstbewusstseins, sondern weil sie nach ihrer Bedeutung für die Schaffung der staatlichen Autorität und für die Unterdrückung der Mehrheit des Volkes gewürdigt werden. Gerade unser Programm ist es, das die Justiz ihrer hehren Aufgabe zuführen wird. Aber wir sind leider in der Notlage, konstatieren zu müssen, dass die Justiz, wie ich noch näher auszuführen haben werde, heute nicht einmal gewillt ist, diese große Aufgabe zu erfüllen.

Meine Herren, wenn wir das Verhältnis zwischen Justiz und Verwaltung betrachten, so sehen wir sofort, dass auch heute noch die Verwaltung der Justiz in jeder Beziehung voran geordnet ist. Wir sehen das in sozialer Beziehung, wir sehen es in Bezug auf die Titulaturen, wir sehen es auch in Bezug auf die Gehaltsverhältnisse. Das gilt für die Gleichstellung der Richter mit den Verwaltungsbeamten, die Gleichstellung der Regierungssekretäre mit den Gerichtsschreibern usw. Alle diese Forderungen, die an und für sich selbstverständlich sind, weil sie nur zum Ausdruck bringen, dass die Justiz der Verwaltung mindestens gleichwertig ist, sind bis zum heutigen Tage noch nicht erfüllt.

Meine Herren, wir sind absolut nicht geneigt, an der Zahl der Richterstellen zu sparen, wir wissen zu genau, dass gerade eine Überlastung der Richter zum großen Teil mit die Ursache dafür ist, dass sich gewisse Missstände, die nicht gerade auf dem Gebiet der Klassenjustiz liegen, herausgebildet haben, und deshalb werden wir jederzeit dafür eintreten, dass die Zahl der Richterstellen nach Möglichkeit vermehrt wird. Wir sind nicht der Ansicht, dass der Etat gegenwärtig in Bezug auf die Forderung von neuen Richterstellen zu weit geht.

2Wenn gelegentlich in der Debatte vom Herrn Abgeordneten Peltasohn auf das Gerücht hingewiesen worden ist, dass besondere Richterstellen für größere Objekte eingerichtet werden sollen, so möchte ich doch dringend darum bitten, dass vom Regierungstisch auf diese Anfrage Antwort kämmen möchte. Leider ist das in der vorigen Sitzung, soweit ich orientiert bin, nicht geschehen. Wenn es wirklich der Fall sein sollte, dass ein derartiger Plan besteht, müssten wir konsequent unserer Gesamtauffassung über die Aufgaben der Justiz einem solchen Plane mit aller Rücksichtslosigkeit entgegentreten. Es würde das nichts weiter sein, als eine ungenierte Bevorzugung der wohlhabenden vor den minder wohlhabenden Schichten wie sie schon in der Einschränkung der Revision auf die höheren Objekte zum Ausdruck kommt. Meine Herren, wir sind der Auffassung, dass jede Einschränkung der Revision vom Übel sein wird; sie würde wiederum eine Erschütterung des Vertrauens zur Rechtspflege zur Folge haben müssen. Ich habe mich bereits bei Gelegenheit des Gerichtskostengesetzes ausgelassen über die Bedeutung der Erleichterung der Rechtsmittel. Die Rechtsmittel sind ein wichtiges Mittel, um Vertrauen in die Rechtspflege zu erzeugen, und jede Vorschrift, die die Rechtsmittel erschwert, bedeutet eine zweifellose Gefahr in Bezug auf das Vertrauen zur Rechtspflege, soweit von einem solchen Vertrauen überhaupt die Rede sein kann.

Der Herr Justizminister hat darauf hingewiesen, dass die Gebühren für Zeugen und Sachverständige erhöht werden sollen; nur das Geld fehle. Wir würden einem derartigen Projekt selbstverständlich sympathisch gegenüberstehen, und wir glauben nicht, dass die Bemerkung, es fehle an Geld, hinreichen kann, um die Ausführung des Planes zu verzögern. Denn in der Tat, Geld gibt es genug, es liegt auf der Straße; es ist nur notwendig, dass der Staat sich entschließt, es dort zu holen, wo es ist; er wagt das nur nicht. Und nur das ist die Ursache unserer Finanzkalamität.

Meine Herren, wenn von einigen Rednern auf die ungünstige Lage derjenigen Kanzleigehilfen hingewiesen worden ist, die nicht im Besitz des Zivilverfügungsscheines sind, können wir uns diesen Klagen nur anschließen trotz der entgegenstehenden Bemerkungen des Herrn Justizministers. Wir sind der Auffassung, dass die Militäranwärter zwar summa summarum eine tüchtige Arbeit leisten, wir können aber dennoch nicht anerkennen, dass die gegenwärtige Gesetzeslage betreffend die Versorgung der Militäranwärter eine derartige hochgespannte Bevorzugung der Militäranwärter gegenüber den Zivilanwärtern, eine so vielfach sinnlose Zurücksetzung der Zivilanwärter gegenüber den Militäranwärtern rechtfertigt. Meine Herren, es wird bei einem anderen Titel Gelegenheit sein, darauf hinzuweisen, dass besonders die Gerichtsdiener und auch diejenigen Arbeiter, die in der Justiz dauernd beschäftigt sind, ein ganz besonderes Recht darauf haben, bei dem Justizetat im Abgeordnetenhause freundlich behandelt zu werden. Ich werde bei der ersten Gelegenheit speziell auf diese Angestellten und Beamtenkategorien einzugeben mir erlauben.

Meine Herren, der Herr Justizminister hat am Freitag erklärt, er sei ja nicht der einzige, dem ich und meine Freunde allerhand Bedenken und Zweifel entgegenbringen. Es ist richtig, das Justizressort ist nicht einzige, es hat sich in die gleiche Verdammnis gegenüber der Sozialdemokratie mit allen Ressorts unserer preußischen Regierung zu teilen. Aber, meine Herren, das darf ich kühnlich sagen: es gibt immerhin kaum ein Ressort in unserem preußischen Staatswesen, dem wir noch noch mit einer solchen relativen Sympathie gegenüberständen, wie es gerade die Justiz ist. Meine Herren, das Ressort der Justiz ist zweifellos gegenüber dem Ressort des Kultusministeriums und dem des Ministeriums des Innern Gold, möchte ich geradezu sagen; und wir können nicht bestreiten, dass die ordentlichen Gerichte wenigstens in einigen Kammern und an einigen Orten in der Tat noch das relativ Beste an Garantie bieten für die Sicherung der bürgerlichen Interessen, was wir im preußischen Staate, im deutschen Reiche haben. Meine Herren, wie diese Auffassung, die ich hier zum Ausdruck bringe, von der Sozialdemokratie lebendig vertreten wird, wie wenig also die Sozialdemokratie etwa hier in ihrer Kritik und ihrer Feindseligkeit gegenüber der Justiz zu weit geht, ersehen Sie aus der Tatsache, dass die Sozialdemokratie wiederholt bereits Gelegenheit genommen hat, gegenüber den Übergriffen der Verwaltung ein Eingreifen der ordentlichen Rechtspflege planmäßig herbeizuführen. Ich darf Sie daran erinnern, wie wir z. B. durch Aufforderung zum Ungehorsam gegen Gesetze es erreicht haben, dass die Lübecker Streikpostenverordnung an die ordentlichen Gerichte kam und dort für ungültig erklärt würde, und dass wir kürzlich gegenüber den Übergriffen des Kultusministeriums in Bezug auf den Turnunterricht an Jugendliche wiederum zu demselben Mittel gegriffen haben, um die ordentlichen Gerichte in Bewegung zu setzen, und dass wir auch in diesem Falle uns im Vertrauen auf die ordentliche Rechtspflege nicht getäuscht haben, sondern haben sehen dürfen, dass das Berliner Landgericht das Vorgehen des Kultusministeriums als das gekennzeichnet hat, was es ist, als eine Ungesetzlichkeit.

Meine Herren, es lässt sich nicht bestreiten, dass es besonders in einer Stadt wie Berlin gegen eine allzu große Engherzigkeit und Weltfremdheit der Richter immerhin manche Korrektive gibt. Es ist ihre Weite der Anschauung, die durch das Leben, das große und bunte Getriebe erzeugt wird, die eine solche Rückständigkeit, wie man sie an anderen Orten vielfach findet, nicht gut auf die Dauer bestehen lässt. Meine Herren, ich nehme infolgedessen keinen Anstand, zu erklären, dass wir in Berlin wie auch anderwärts gelegentlich recht erträgliche Anschauungen bei Richtern finden und dass wir recht sympathischen Personen auf dem Richterstuhl begegnen, denen die Anwälte, speziell sogar ein sozialdemokratischer Anwalt, wie ich es bin, mit Vertrauen gegenüberstehen, und wir wollen auch nicht zurückhalten, und ich will speziell nicht zurückhalten mit der Anerkennung, dass sich auch bei der Staatsanwaltschaft in Berlin vielfach sehr sympathische, sehr tüchtige Herren finden, die in weitherziger Weise und in großzügiger Auffassung ihres Berufes ihres Amtes walten. Ich halte für notwendig, das ausdrücklich hervorzuheben, damit man hier nicht der Meinung ist, als ob wir Sozialdemokraten das Gute dort, wo es zu finden ist, nicht auch anerkennen würden.

3Meine Herren, dass zuweilen von den ordentlichen Gerichten vernünftige Urteile und sozial verhältnismäßig vorurteilslose Urteile gefällt werden, kann nicht geleugnet werden; ich erinnere Sie neben all dem, was ich vorhin mir schon erlaubt habe zu erwähnen, an das bekannte Urteil des Berliner Landgerichts I, in dem der Vorwurf gegen die sächsische Justiz, sie behandle die Sozialdemokratie als minderen Rechtes, als erwiesen erachtet worden ist.

Meine Herren, das ist die eine Seite der Sache. Ich habe diese Seite nicht hervorgehoben um der Kontrastwirkung willen. Ich habe sie wirklich aus dem ehrlichen Bedürfnis hervorgehoben, zu betonen, dass wir in der Tat innerhalb der Justiz immerhin noch nicht ganz selten auf verhältnismäßig erfreuliche Erscheinungen stoßen. Aber selbstverständlich wäre es in höchstem Maße fehlerhaft, wenn wir Sozialdemokraten uns durch diese gelegentlichen verhältnismäßig erfreulichen Erscheinungen in unserer Kritik und unseren Wünschen irre machen lassen und uns hinwegtäuschen lassen würden über den Durchschnitt der Zustände, wie sie in Preußen in der Justiz herrschen. Da kommen wir allerdings zu einem anderen Urteile. Es lässt sich nicht bestreiten, meine Herren, dass es in Preußen manche Richter und manche Strafkammern gibt, die dem Publikum und den Angeklagten in einer Weise gegenübertreten, dass das Publikum schließlich mit Furcht und Zittern und Zähneklappern vor sie tritt. Das ist keine Übertreibung. Um darüber ein Urteil zu haben, muss man in der unmittelbaren Anwaltspraxis stehen; man darf dabei nicht Richter sein; man muss wissen, was vor den Gerichtssälen, außerhalb der Gerichtssäle vorgeht. Es ist keine Übertreibung, wenn ich sage, dass es in Preußen Richter gibt, die ungehemmt und ungescheut ihren staatsretterischen und volksfeindlichen Stimmungen auch auf dem Richterstuhle die Zügel schießen lassen. Ich will dabei durchaus nicht sagen, dass diese Herren etwa bewusst ihrer Pflicht entgegen handelten; denn ich betone gleich im Eingang meiner weiteren Ausführungen, dass dasjenige, was wir Sozialdemokraten als Klassenjustiz bezeichnen, dass die Hauptschäden unserer Rechtspflege gerade darum so ungemein gefährlich und bedeutsam sind, weil sie nicht aus irgendeinem bösen Willen eines verbrecherischen Individuums hervorgehen – mit denen würde rasch reiner Tisch gemacht werden können –, sondern weil sie hervorgehen aus der gesamten sozialen Grundlage und den dadurch hervorgerufenen Weltanschauungen, Auffassungen und seelischen Stimmungen innerhalb der Richterschaft. Ich werde Veranlassung haben, das, was ich hier allgemein ausführe, noch näher zu belegen.

Wenn ich jetzt Angriffe gegen die Richter richte, so betone ich gleich von vornherein, dass ich nicht etwa eine Rektifizierung der Richter durch die Aufsichtsinstanz oder durch das Parlament herbeiführen will. Das wäre nicht zulässig und würde ein Eingriff in die richterliche Unabhängigkeit sein. Trotz alledem muss es sich der Richterstand selbstverständlich gefallen lassen, dass er öffentlich kritisiert wird. Diese öffentliche Kritik wird bei pflichtgetreuen Richtern, die es mit ihrem Amte so tiefernst nehmen, wie es genommen werden muss, meiner Überzeugung nach dazu führen müssen, dass sie hier und dort vielleicht trotz ihrer klassenmäßigen Voreingenommenheit einsehen, dass ihre vermeintliche Objektivität in der Tat oft hochgradige soziale Befangenheit ist.

Meine Herren, ich kann diejenigen Richter und Kammern, die ich für gefährlich halte, ruhig mit Namen nennen, ohne dass ich damit etwa den Verdacht auf mich lenke, eine Denunziation auszusprechen und sie in ihrer Abwesenheit anzugreifen. Man kann hier im Parlament nicht immer nur Anwesende angreifen, und abgesehen davon ist es ja doch nun einmal von alters her die beliebte preußische Gepflogenheit, dass Angriffe, die von der Sozialdemokratie ausgehen, durchaus nicht geeignet sind, vor den maßgebenden Instanzen die Stellung eines Beamten zu erschweren, dass sie im Gegenteil der Regel nach bei der beliebten Manier der Brüskierung der öffentlichen Meinung viel eher dazu beitragen, seine Stellung zu befestigen. Ich tue den Herren, die ich hier persönlich angreife, durchaus keinen Schaden, sondern, wie ich leider besorgen muss, tue ich im Gegenteil etwas für ihre Beförderung, für ein rascheres Fortkommen in ihrem Beruf. Meine Herren, es wäre freilich bedenklich, wenn ich einzelne Richter hier loben würde; denn ein Lob aus unserm Munde könnte den betreffenden Herren sehr leicht den Hals brechen. Ich habe infolgedessen Einzelheiten über dasjenige, was wir in der Justiz begrüßen, nach Möglichkeit vermieden.

Meine Herren, der Herr Justizminister hat im vergangenen Jahre erklärt, dass er im Allgemeinen ein Urteil ablehnen wolle über die Art, in der die richterliche Tätigkeit ausgeübt werde. Er hat aber schließlich doch ein Urteil gefällt über das bekannte Königsberger Schandsäulenurteil4. Dieses Urteil, das bekanntlich mit einer Gefängnisstrafe von 15 Monaten für den sozialdemokratischen Redakteur abschloss, wurde vom Justizminister als eine „durchaus glückliche Lösung dieses höchst unerfreulichen Vorgehens" angesehen. Ich hebe hervor, dass der Justizminister damit einen der schlimmsten Exzesse der Klassenjustiz geradezu in seiner amtlichen Stellung belobigt hat, in einer Weise, die leicht die Wirkung erzeugen kann, die Klassenjustiz und ihre Exzesse weiter zu fördern.

Man sagt allgemein, es bedürfe gegenwärtig eines scharfen Richtertums, weil die Zunahme der Kriminalität erschreckend sei. Das trifft ja doch gar nicht zu. Die Kriminalität hat ja gar nicht zugenommen. Es ist allerdings richtig, dass, während 1882 nur 996 Verurteilte auf 100.000 Einwohner kamen, 1907 das Verhältnis 1222 zu 100.000 stand. Wenn man also diese eine Zahl betrachtet, kommt man leicht zu der Überzeugung, Gott, wie schlimm ist es um die Moral und die Innehaltung der Gesetze in unserer preußischen Bevölkerung bestellt. Aber diese Zahl muss näher betrachtet werden, und da sieht man denn, dass gerade die schwereren Delikte allenthalben in dieser Zeitspanne abgenommen haben. Ich weise darauf hin, dass zum Beispiel die Zuchthausstrafen von 13.400 auf 7200 gesunken sind, dass drei Fünftel der Gefängnisstrafen nach der Statistik von 1907 weniger als einen Monat betragen und dass die Fälle, in denen auf Ehrverlust erkannt ist, in der gleichen Periode von 20.400 auf 11.500 herabgesunken sind. Die Stellung unter Polizeiaufsicht ist in derselben Zeit herabgesunken von 8200 auf 2100 Fälle. Und zwar alles dies, obwohl sich in der gleichen Periode die Bevölkerungszahl um ungefähr 20 Millionen gesteigert hat. Es ist also schlechterdings unmöglich, von einer wirklichen Steigerung der Kriminalität zu sprechen. Die Wahrheit ist, dass die Zahl der Geldstrafen sich wesentlich gesteigert hat, und gerade darin und in der Steigerung der kleinen Bagatellgeschichten liegt die Ursache für die Schlussziffer, die eine scheinbare Steigerung der gesamten Kriminalität vortäuscht.

Wenn wir uns mit der Frage befassen, aus welchen Ursachen die Verbrechen hervorgehen, so darf ich darauf hinweisen, dass schon der freikonservative Abgeordnete Viereck im vorigen Jahre darauf hingewiesen hat, dass eine Zunahme der Strafprozesse und überhaupt der Prozesse infolge des wirtschaftlichen Niederganges zu verzeichnen sei. Der Herr Abgeordnete hat damit erkannt, was in der Tat jedem, der in der praktischen Rechtspflege steht, ad oculos demonstriert wird, wenn er die Augen ein wenig aufmacht. Es ist zum Beispiel längst allen Beamten an Untersuchungs- und Strafgefängnissen bekannt – das werden Sie hören können, wenn Sie einmal bei den Inspektionen unserer Gefängnisse nachfragen, wo man einen Überblick darüber hat –, dass, wenn der Winter kommt, wenn eine Periode wirtschaftlichen Niedergangs kommt, die Gefängnisse sich füllen.

Daraus geht deutlich hervor, in wie hohem Maße die Straftaten, die kriminellen Verfehlungen, mit sozialen Verhältnissen zusammenhängen. Es gilt in der Tat für den Durchschnitt der Verbrecher: „Ihr führt uns in das Leben ein, ihr lasst den Armen schuldig werden, dann überlasst ihr ihn der Pein, denn alle Schuld rächt sich auf Erden." Das Verhältnis zwischen Krisis und krimineller Häufigkeit wird in unserer Statistik zum Teil ja deutlich zum Ausdruck gebracht.

Weiter ist von großer Wichtigkeit das Verhältnis zwischen Kriminalität und unehelicher Geburt, Halb- oder Ganzverwaisung, die größere Anzahl der Kinder von Witwen oder der Mutterlosen oder der Vollwaisen unter den Verbrechern. Eine größere Kriminalität entsteht, wo die Mutter auf Arbeit geht; sie steht auch mit der gewerblichen Kinderarbeit in Verbindung und in besonders hohem Maße mit dem Wohnungswesen und mit den verschiedenen Arbeitsbedingungen.

Steigerung der Kriminalität ist weiter mit dem Alkoholismus verbunden. Nach einer Statistik, die der verstorbene, so ungemein tüchtige Psychiater und Gefängnispraktiker Geheimrat Dr. Baer vor längerer Zeit 1869 aufgestellt hat, waren nicht weniger als 43,9 Prozent aller männlichen Gefangenen Alkoholiker oder aus alkoholischer Umgebung hervorgegangen. Ich glaube, dass gegenwärtig die Ziffer günstiger sein wird, infolge der ethisierenden und auf Enthaltsamkeit von alkoholischen Getränken hinwirkenden Tätigkeit der proletarischen Emanzipationsbewegung. Meine Herren, Sie werden nicht bestreiten können, und es gibt Einsichtige genug auch in den bürgerlichen Kreisen, die es nicht bestreiten, dass die Gewerkschaften vor allem zur Verringerung des Alkoholgenusses ungemein Tüchtiges geleistet haben. Ich habe bereits wiederholt gerichtliche Bestätigungen dieser nützlichen Wirksamkeit zu verzeichnen gehabt. Für das Senftenberger Revier ist vom Landgericht Cottbus, dem man im Allgemeinen nicht viel Gutes nachsagen kann, in dem Urteil im Prozess Gärtner und Genossen 1906 ausdrücklich hervorgehoben, dass sich nicht bestreiten lasse, dass die Tätigkeit der Gewerkschaften darauf hingewirkt habe, unter den vielfach ausländischen Arbeitern, die an starken Schnapsgenuss gewöhnt seien, eine Besserung der Verhältnisse herbeizuführen. Ebenso ist bekannt, wie systematisch die Organisationen des Proletariats darauf hingewirkt haben, dass insbesondere im Baugewerbe der Schnaps jetzt nahezu verbannt ist. Auf den Bauten war früher der Maurer, der Steinträger mit der Schnapsflasche in der Tasche eine geradezu typische Erscheinung. Seitdem die Sozialdemokratie und die Gewerkschaften hier mit ihrem Erziehungswerk begonnen haben, ist ein eminenter Fortschritt zu verzeichnen; es wird jetzt auf den Bauten fast nur Tee, Kaffee, Milch und Selterswasser getrunken, fast keine alkoholischen Getränke.

Aber, meine Herren, diejenigen, die den Schnapskonsum fördern, die den Schnapsgenuss der breiten Masse der Bevölkerung gewissermaßen zu einer Grundlage ihrer wirtschaftlichen Machtstellung machen, sind, indem wir den Einfluss des Alkoholismus auf die Hervorrufung der Verbrechen konstatieren, damit in letzter Instanz auch Förderer und Nutznießer des Verbrechens.

Meine Herren, es ist bekannt, dass schon vor Menschenaltern der belgische Statistiker Quetelet den Zusammenhang zwischen Getreidepreisen und Kriminalität festgestellt hat. Es ist jetzt wieder statistisch dargelegt worden, dass ein Sechser höherer Getreidepreise durchschnittlich auf 100.000 Einwohner einen Diebstahl mehr produziert. Wer also für eine Verteuerung der Nahrungsmittel eintritt, tritt damit für eine Förderung des Verbrechens, der Kriminalität, ein.

Meine Herren, dass im Winter eine um 30 Prozent höhere Kriminalität besteht als im Sommer, ist wiederum statistisch festgestellt worden. Kurzum, wir dürfen, indem wir uns ein Wort unseres verehrten Kollegen, des Herrn Geheimrats von Liszt, zu eigen machen, betonen, dass das Verbrechen im Wesentlichen eine sozialpathologische Erscheinung ist, die nicht durch Herumkurieren an Äußerlichkeiten beseitigt werden kann, sondern eben als sozialpathologische Erscheinung durch Beseitigung der Krankhaftigkeiten und Schädlichkeiten beseitigt werden muss, die unserm sozialen Organismus innewohnen.

Meine Herren, wie viel Verbrechen hat nicht der Zolltarif verursacht! Wenn Sie von den Darlegungen fortschreiten, die ich mir eben zu machen erlaubt habe, auf die Gesamtheit der agrarischen Politik, wie viel Verbrechen, Delikte hat sie nicht auf dem Gewissen! Und die Politik der Erhaltung der Bevölkerung in Dummheit, die Politik der Verhinderung des Aufsteigens der Bevölkerung zu einem freien Selbstbewusstsein, zu einer freien bürgerlichen Würde, diese gewalttätige Unterdrückungspolitik, die das Wesen des preußischen Staates ausmacht, all das sind so wesentliche Ursachen der Steigerung der Kriminalität, dass wir wohl sagen dürfen, dass diejenigen, die eine Politik, wie ich sie eben gekennzeichnet habe, fördern, die wahrhaft Schuldigen sind an der ungemein großen Zahl der schweren Verbrechen und der Not und des Elends, die aus diesen Verbrechen hervorgehen, die wir gegenwärtig zu unserm lebhaften Bedauern regelmäßig zu verzeichnen haben.

Meine Herren, ich möchte darauf hinweisen, dass es ein vollständiger Irrtum ist, wenn man meint, dass hier mit der Religion viel anzufangen ist. Meine Herren, ich will hier durchaus keine Kulturkampfpauke, auch keine Pauke gegen die Religion an und für sich halten. Wenn wir gegen die Kirche und ihren Einfluss auf die Bevölkerung kämpfen, so sind wir weit davon entfernt, das Tiefste in der Religion damit treffen zu wollen. Aber, meine Herren, das, was man im landläufigen Sinne unter Religiosität versteht, ist weit davon entfernt, einen wirklichen Damm gegen die kriminellen Ausschreitungen zu bilden… Wie wenig das, was man landläufig unter Religiosität versteht, einen wirklichen Damm gegen das Verbrechen bildet, beweist unter anderem die bekannte Schweizer Statistik, in der einmal in sehr drastischer Weise gegenübergestellt wurde, wie die Kenntnisse der Sträflinge auf religiösem Gebiete geradezu im umgekehrten Verhältnis zu der Schwere der Straftat stehen. Ich bin weit davon entfernt, so törichte Schlussfolgerungen zu ziehen, als ob die Kirche etwa schuld daran sei, dass eine derartige Kriminalität existiere. Der Einfluss der Kirche und die Kriminalität sind Erscheinungen, die parallel laufen. Ein großes Maß Abhängigkeit von der Kirche ist der Regel nach eben nur bei verhältnismäßig tiefstehenden sozialen Verhältnissen möglich. Es ist das also eine Erscheinung, aus derselben Wurzel hervorgehend wie ein großer Teil der Kriminalität, und infolgedessen sehen wir, dass, ohne dass der Kirche eine Schuld in dieser Beziehung direkt beizumessen ist, doch vielfach gerade die Kirche dort ihre stärkste Position hat, weil dort eben die Verhältnisse sozial am niedrigsten liegen und die gesamten Bildungsverhältnisse am ungünstigsten gestaltet sind, wo auch die Kriminalität vermöge der niedrigen sozialen Lage am höchsten steht.

Meine Herren, ich möchte jetzt zunächst einmal der Königlichen Staatsregierung in diesem Zusammenhang ein paar Wünsche in Bezug auf eine Ergänzung der Kriminalstatistik vortragen. Es lässt sich auf diesem Gebiete noch ungeheuer viel mehr tun. Wir können die bisherige Art der Kriminalstatistik noch durchaus nicht für vollkommen halten, so sehr wir anerkennen, dass hier schon sehr viel Nützliches geleistet ist. Ich möchte meinen, dass man die Beziehungen zwischen der Erwerbstätigkeit der Jugendlichen und der Kriminalität in besserer Weise statistisch zu erfassen suchen sollte, als das gegenwärtig der Fall ist. Wir meinen, dass insbesondere auch das Verhältnis der Kriminalität zur Nachtarbeit, das Verhältnis der Kriminalität zur Frauenarbeit, zur Mutterarbeit in irgendeiner Weise erfasst werden müsste, weiter das Verhältnis der Kriminalität zur Gesamtheit der Arbeitsverhältnisse, der Arbeitsdauer, der Arbeitslöhne usw. Man würde damit meiner Überzeugung nach zu sehr wichtigen Schlussfolgerungen kommen können. Ich meine, dass man natürlich hierbei nicht die einfachen Nominallöhne zu berücksichtigen haben würde, man müsste stets den Reallohn, die Kaufkraft des Geldes festzustellen haben. Meine Herren, es wäre auch von großem Interesse, wenn die Kriminalstatistik das Verhältnis zwischen der Kriminalität und den einzelnen Berufen nach Möglichkeit zu erfassen suchte, weil ja auch in den verschiedenen Berufen die sozialen Verhältnisse noch so gar verschieden sind, dass man auch hier aus den Differenzen in der Kriminalität in der Lage ist, auf die feineren Abzweigungen der Psychologie des Verbrechens Schlussfolgerungen zu ziehen. Auch das Verhältnis der Kriminalität von Stadt und Land, kleinen und großen Städten würde von außerordentlicher Bedeutung sein. Meine Herren, die Prostitution als eine sehr wesentliche Quelle, als ein Nährboden für das Verbrechen sollte auch in der Statistik in schärferer Weise herausgearbeitet, ihre Wirkung auf die Kriminalität festgelegt werden. Es wäre auch nicht ohne Interesse, wenn einmal versucht würde, eine Statistik über die Kriminalität der im Interesse des Unternehmertums nach Deutschland und Preußen hereingezogenen ausländischen Arbeiter im Verhältnis zur Kriminalität der inländischen Arbeiter festzustellen. Ich glaube, man würde auch hier an der Kriminalitätsziffer erkennen, dass das niedrigere Kulturniveau, auf dem die ausländischen Arbeiter der Regel nach stehen, auch in einer höheren Kriminalitätsziffer seinen Ausdruck findet.

Meine Herren, es ist des weiteren nicht zu bestreiten, dass eine derartig ausgebaute Kriminalstatistik in klärlicher Weise darauf hinweisen würde, dass jeder Versuch, die Lebenshaltung unserer breiten Massen zu verschlechtern oder ihre Steigerung hintan zu halten, nichts anderes als eine Förderung der Kriminalität beziehungsweise als eine Hinderung der Besserung unserer Kriminalität bedeutet.

Wenn die Kriminalstatistik auf allen diesen Gebieten erweitert würde, so wäre das selbstverständlich eine sehr ernste und schwere, aber eine sehr nützliche Arbeit, eine Arbeit, bei der sicher die aufgewandte Kraft nicht außer Verhältnis zur Bedeutung der Sache selbst stehen würde.

Meine Herren, ich will nun nicht zur Illustrierung der Beziehungen zwischen den sozialen Verhältnissen und der Kriminalität auf einzelne sozial besonders empörende Fälle, die immer und immer wieder in der Presse gemeldet werden müssen, hier eingehen. Fälle wie jener, den ich neulich schon erwähnt habe, in Bezug auf einen Forstdiebstahl mit exorbitant hohen Strafen, Fälle, wie sie ja wiederholt in Preußen und außerhalb Preußens vorgekommen sind und in denen wegen einer geringfügigen Entwendung von Brennholz und dergleichen, die leider gegenwärtig noch nicht unter Mundraub fallen und dementsprechend behandelt werden, schwere Strafen, beim Rückfall sogar Zuchthausstrafen oder wenigstens Gefängnisstrafen von längerer Frist, verhängt werden. Meine Herren, ich habe einen derartigen Fall hier vor mir, wo bei einem gestohlenen Objekt von 40 Pfennig auf nicht weniger als ein Jahr Gefängnis erkannt worden ist. Und auch wenn da alle Erschwerungsmomente mit in Betracht kommen, die überhaupt nur denkbar sind, ist doch ein derartiges Urteil fürchterlich, ein Urteil, das in die tiefsten Abgründe des menschlichen Elends und auch desjenigen Elends hineinleuchtet, das durch unsoziale Justiz hervorgerufen werden kann.

Meine Herren, ich darf des weiteren auch auf die gar nicht seltenen Fälle hinweisen, in denen in überlegter Weise Verbrechen begangen werden – besonders beliebt sind dabei die Majestätsbeleidigungen –, um sich aus der Not heraus zu helfen, um Unterschlupf im Gefängnis zu finden. Meine Herren, von einsichtsloser Seite ist daraus häufig die Konsequenz gezogen worden: Ihr seht ja doch, dass es in den Gefängnissen viel zu schön ist, sonst würden die Leute nicht freiwillig in die Gefängnisse hineinlaufen. Es ist eine Einsichtslosigkeit, wenn man ein derartiges Urteil abgibt. Im Gegenteil, solche Vorkommnisse sind ein Beweis, wie jammervoll die sozialen Verhältnisse vielfältig bestellt sind, wenn die Flucht in das Gefängnis in der Tat für manche Kreise eine Flucht, ich möchte sagen, in das Paradies darstellt.

(Zuruf rechts.)

Gott, Herr von Pappenheim, es ist, wie mir scheint, gerade kein sehr günstiges Zeugnis, das Sie Ihrer sozialen Einsicht mit dieser Bemerkung ausgestellt haben. Sie meinen, es sei Faulheit, wenn die Leute ins Gefängnis hineingehen.

(Zurufe rechts.)

Ich freue mich, dass ich wiederum konstatieren kann, dass Herr von Pappenheim in dieser Beziehung die Zustimmung seiner politischen Freunde gefunden hat. Meine Herren, ich lege das absichtlich fest; das gibt wiederum einen Einblick in Ihre Weltanschauung, der geradezu unbezahlbar ist. Herr von Pappenheim, ich danke Ihnen vielmals für das Wort, das Sie hier hineingeworfen haben. Ich danke Ihnen vielmals! Ich kann Ihnen nicht oft genug dafür danken.

Meine Herren, ich darf vielleicht darauf hinweisen, wie jüngst in Aurich ein Urteil gefällt worden ist, wonach ein allerdings vielfach vorbestrafter Dachdeckergehilfe, der ein Stadtgeschenk erbeten hatte, obwohl er noch ein paar Groschen in der Tasche hatte, wegen Betrugsversuchs vier Monate Gefängnis erhalten hat. Ich will im Augenblick weitere Einzelheiten hier nicht erörtern; ich muss in einem späteren Zusammenhang auf weitere Einzelfälle zur Charakterisierung des sozialen Wesens der Justiz sowieso noch zurückkommen.

(Zurufe von den Nationalliberalen.)

Meine Herren, ich kann mir nicht helfen: Wir Sozialdemokraten haben nun einmal ein großes Register,

(Heiterkeit.)

und ich muss halt heute meine Vorwürfe loswerden; ich kann mir nicht helfen.

5Meine Herren, es ist in der Begründung zum Entwurf einer Abänderung der Strafprozessordnung unter anderem darauf hingewiesen worden, dass eine rasche Justiz zweckmäßig und notwendig sei. In Anwalts- und auch in andern juristischen Kreisen ist diese Auffassung wiederholt zum Gegenstand von Angriffen gemacht und mit vollem Recht gesagt worden, dass wir nicht eine rasche Justiz, sondern eine richtige Justiz wünschen, dass es nicht so sehr auf die Fixigkeit als auf die Richtigkeit und Gerechtigkeit der Urteile ankommt. Ich darf des Weiteren auf die Tatsache hinweisen, dass durch unsere Bestimmungen über das Wiederaufnahmeverfahren der Rechtskraft des Urteils eine ganz außerordentliche Überspannung zuteil geworden ist. Ich verkenne gar nicht, dass ein gewisses Bedürfnis besteht, einen Prozess in einem gewissen Stadium zur Ruhe kommen zu lassen. Deshalb hat die Institution der Rechtskraft selbstverständlich einen gewissen Wert. Man sollte aber die Wiederaufnahme des Verfahrens nicht gar zu sehr erschweren. Und sogar über dasjenige hinaus, was das Gesetz an und für sich zulässt, schränkt die Praxis unserer Gerichte die Wiederaufnahme des Verfahrens in einer geradezu ungeheuerlichen Weise ein, so dass es fast nichts Aussichtsloseres mehr gibt als den Versuch der Wiederaufnahme des Verfahrens, abgesehen davon, wenn jemand nachweislich zur Zeit der Begehung der Tat geisteskrank gewesen ist. Ich halte das für eine gefährliche Sache weil dadurch das Vertrauen in die Justiz aufs Äußerste gefährdet wird. Es würde durchaus nicht mit dem Bedürfnis nach einem Schutz der Rechtskraft unvereinbar sein, wenn die Gerichte auf diesem Gebiete einer milderen, einer humaneren Praxis die Tore öffnen würden. Im Gegenteil, ich bin überzeugt, dass eine mildere Praxis, eine größere Weitherzigkeit auf diesem Gebiete nur dazu beitragen würde, das Vertrauen in die Justiz und das Ansehen der Justiz zu fördern. Es ist bürokratenhaft, wenn man sich einbildet, das Ansehen der Justiz dadurch zu fördern, dass man formelle Hindernisse, formelle Schranken aufstellt und sagt: bis hierher und nicht weiter; die Rechtskraft ist eingetreten, die Staatsmacht steht hinter dem Urteil; du kannst dir den Schädel an dieser Barriere einrennen, du kannst nicht durchkommen. Das ist nicht die Art, wie die staatliche Autorität dem Bürger gegenüber zur Geltung zu bringen ist. Wir fordern nicht bloß Richtigkeit, sondern Gerechtigkeit der Urteile, wir fordern nicht Rechtskraft, sondern richtige Urteile, die von dem Vertrauen der Bevölkerung getragen sind. Wir können uns auch nicht mit dem Bestreben nach Abkürzung der Urteile u. dgl. einverstanden erklären, Worüber ich noch zu reden haben werde.

Es ist vor kurzer Zeit in einem Organ der Ordnungsparteien, einem Erfurter Blatt, im Oktober vorigen Jahres als ein „bedauerlicher" „Gefühlsgrundsatz" bezeichnet worden, der in der Justiz zeitweilig herrsche, dass man lieber 20 Schuldige laufen lasse, als dass man einen Unschuldigen einstecke. Ich möchte meinen, dass dieser Grundsatz der einzige Grundsatz ist, von dem ein Richter, der pflichtmäßig seines Amtes waltet, auszugehen hat, dass jeder Richter, der sich sagen würde: ich stecke lieber einen Unschuldigen ein, als dass ich 20 Schuldige laufen lasse, in gröblicher Weise pflichtwidrig handeln würde. Aber vielfach betrachten unsere Richter den Angeklagten nur als einen Menschen, der ihnen in böswilliger und niederträchtiger Weise recht unangenehme Arbeit macht, insbesondere dann, wenn er die Kühnheit hat, zu leugnen und sich gegen die Anklage mit allzu großem Nachdruck zu wehren. Wir stehen auf dem Standpunkt, dass das Zentrum des Strafprozesses, die Hauptperson des Strafprozesses nach wie vor nicht der Richter ist, sondern dass das Zentrum des Strafprozesses der Angeklagte ist, dass der Angeklagte nicht bloß Objekt, sondern vor allen Dingen Subjekt des Strafprozesses ist, und dass dementsprechend die Tätigkeit des Gerichts innerhalb des kriminellen Verfahrens einzurichten ist.

Es ist viel über die Weltfremdheit der Richter gesprochen worden. Dieses Wort stammt keineswegs nur aus Kreisen, die außerhalb des Richterstandes stehen, sondern es ist sicherlich auch in diesem Hohen Hause bereits jene bekannte Auslassung des Breslauer Senatspräsidenten Dr. Fabricius vorgetragen worden, der im Mai des Jahres 1907 in einer Versammlung des nationalliberalen Wahl-Vereins in Breslau ausdrücklich auf diese Weltfremdheit der Richter als eine sehr bedauerliche Erscheinung hingewiesen hat. Deshalb dürfte es wohl wenig am Platze sein, wenn der Herr Justizminister den Vorwurf der Weltfremdheit, der gegen die Richter erhoben worden ist, als einen persönlichen, einen persönlich kränkenden, beleidigenden Vorwurf zurückweist. Davon kann gar keine Rede sein. Hier handelt es sich um einen Vorwurf, dessen Berechtigung sich einfach aus der ganzen Art der Ausbildung unseres Richterstandes ergibt, aus seiner Stellung im Staate, vielfach auch aus seiner Überbürdung, die es dem Richterstande unmöglich macht, sich in dem Umfange mit der Gesamtheit unserer sozialen Verhältnisse vertraut zu machen, wie es notwendig ist für den Stand, der die Verpflichtung, der die Aufgabe hat, schließlich über die Gesamtheit der sozialen Verhältnisse, über alle Variationsmöglichkeiten, die sich in unseren sozialen Verhältnissen ergeben, jederzeit ein maßgebliches und schwerwiegendes Urteil fällen zu können. Meine Herren, man verlangt ja von keinem Stande eine gleich große Vertrautheit mit der Welt und mit dem Leben mit mehr Recht und mit mehr Notwendigkeit als gerade von dem Richterstande. Und deshalb, so schwer diese Aufgabe in vollem Umfange zu erfüllen ist, ist es gerade notwendig und ist es keine Zufälligkeit, wenn man gegen den Richterstand hier immer wieder kritisch einsetzt, um zu bessern, was etwa doch zu bessern ist.

Meine Herren, die Weltfremdheit zeigt sich ganz besonders In psychischer Beziehung. Ich bin hier auf dem Standpunkt, den auch der Staatsanwalt Dr. Wulffen in Dresden ausgesprochen hat, dass unser Richterstand sehr wohl eine verfeinerte und vertiefte psychologische Ausbildung vertragen könnte. Wir sehen auf dem Gebiete eine ungemeine Neigung zur Schematisierung – den Angeklagten und den Zeugen gegenüber. Wir sehen bei gewissen Kammern eine Neigung, mit unbeschreiblicher Beharrlichkeit jedem Angeklagten zunächst einmal die niedrigsten und schmutzigsten Motive zu unterstellen und nur mit großer Mühe sich bewegen zu lassen, für den Angeklagten auch an sich anständige Motive glaubhaft erscheinen zu lassen, eine Erfahrung, die wir unendlich häufig machen. Ich werde noch Gelegenheit haben, darauf zurückzukommen. Es ist besonders charakteristisch, wie man vielfach geneigt ist, eine Rekognition von Zeugen für glaubhaft und maßgeblich zu halten, wenn der betreffende Zeuge auch nur in der kürzesten Weise irgendeine Person jemals gesehen hat. Es ist erstaunlich, wie häufig immer wieder die Glaubhaftigkeit einer Aussage gemessen wird nach der Bestimmtheit, mit der die Aussage äußerlich abgegeben wird, während gerade diese Bestimmtheit doch sehr häufig im umgekehrten Verhältnis zur objektiven Richtigkeit der Aussage steht.

Einen besonderen Grad von Weltfremdheit muss ich zu meinem Bedauern konstatieren bei unseren Richtern in Bezug auf die Psychiatrie. Es ist eine gar unerfreuliche Tatsache, dass wir so vielfach in Richterkreisen eine wenig freundliche Gesinnung gegenüber der speziellen Psychiatrie und gegenüber den Spezialisten auf dem Gebiete der Psychiatrie zu verzeichnen haben. 6Der Herr Abgeordnete Boehmer hat es ja am vergangenen Sonnabend für erforderlich gehalten, aus Anlass der bedauerlichen Allenstein-Affäre – Frau v. Schönebeck7 zu betonen, dass durch diesen Vorgang von neuem das Vertrauen in die Zuverlässigkeit psychiatrischer Gutachten erschüttert worden sei. Ich würde es auf das Lebhafteste bedauern, wenn das der Fall wäre, für so ungemein bedauerlich ich auch den Fall Schönebeck an und für sich halte. Meine Herren, wir müssen uns doch darüber klar sein, dass dasjenige, was hier der Herr Abgeordnete Boehmer als Ursache für eine Erschütterung des Vertrauens betrachtet, nichts anderes ist, als dass verschiedene Instanzen über die Frage der geistigen Gesundheit der Frau v. Schönebeck verschiedener Auffassung gewesen sind. Nun möchte ich gerade die Herren, die mit der Justiz in enger Fühlung stehen, fragen, ob sie denn nicht gerade in der Justiz unendlich häufig sehen, dass die drei Instanzen, die zumeist über Strafsachen usw. zu urteilen haben, über dieselbe Sache sehr verschiedener Ansicht sind, obwohl doch der Tatbestand in solchen Strafsachen viel offenkundiger daliegt und viel leichter zu beurteilen ist als der psychiatrische Tatbestand. Wenn wir so weit gehen wollten, wie der Herr Abgeordnete Boehmer es in seinen Angriffen auf die Psychiatrie getan hat, würden wir allerdings Veranlassung haben, ein noch viel schlechteres Urteil über die Justiz zu fällen. Wir würden darauf hinweisen, wie viele Urteile von Richtern umgestoßen werden, und daraus herleiten, dass das Vertrauen in die Rechtspflege nicht mehr bestehen könne.

Wir sind vielmehr gerade der Auffassung, dass gerade auf dem Gebiet der Psychiatrie das Vertrauen noch immer mehr gestärkt werden muss, bei aller Anerkennung der Tatsache, dass man es bei der Psychiatrie mit einer medizinischen Spezialabteilung zu tun hat, die noch im Werden begriffen ist und die auf absolut feste Fundamente vorläufig noch nicht aufgebaut sein kann. Aber das gilt von der Justiz ja auch, das gilt ja schließlich von der ganzen staatlichen Tätigkeit. 8Man darf deshalb nicht zu einem solchen Vorwurf gegen die Psychiater Anlass nehmen. Ich gehe nicht fehl – und das ist meine persönliche feste Überzeugung aus meiner Praxis heraus –, dass die häufige Abneigung der Richter gegen die Psychiater daraus hervorgeht, dass sie vielfach den Psychiater, der ihnen den Angeklagten entreißen will, sozusagen als ein feindliches Element betrachten, das ihrem Bedürfnis, den Angeklagten die Schwere des Gesetzes fühlen zu lassen, widerstrebt. Das ist dieselbe Ursache, die auch den Verteidiger vielfach so unbeliebt macht, weil er ihnen nur als Hemmnis in Bezug auf die Ausübung der Fülle der staatlichen Strafgewalt erscheint.

In welchem Umfang die richterliche Weltfremdheit auf dem Gebiet der Psychiatrie immer wieder konstatiert werden muss, ergibt die Erfahrung, die ich allein an den Berliner Gerichten in den letzten Jahren zweimal gemacht habe. Der Vorsitzende richtete, wenn vom Verteidiger unter Beibringung von Material die Behauptung aufgestellt wurde, der Angeklagte sei geisteskrank, an diesen die Frage: „Angeklagter, wollen Sie im Ernst den Einwand aufrechterhalten, dass Sie geisteskrank sind?" Wenn das nicht ein Vorhalt ist, der in der Tat zu Kopf schütteln Veranlassung gibt und ein ungeheures Maß von Weltfremdheit erkennen lässt, dann weiß ich nicht, welche stärkeren Beispiele ich wählen soll.

Meine Herren, es ist vielfach die Meinung aufgestellt worden, ein wichtiges Mittel zur Besserung unserer Justiz sei ein günstiges Zusammenwirken zwischen Anwaltschaft und Richterstand. Es ist insbesondere auch von dem Herrn Abgeordneten Peltasohn am Sonnabend darauf hingewiesen worden, dass die Beziehungen zwischen Anwaltschaft und Richterstand im Allgemeinen sehr günstig seien. Ich persönlich bin als Anwalt empfindlich genug, dieser Auffassung nicht beitreten zu können. Ich habe die persönliche Empfindung – vielleicht wegen meiner allzu großen Feinfühligkeit auf diesem Gebiet –, dass die Anwaltschaft, auch soweit sie meint, dass sie als ein gleichberechtigter Faktor in unserer Rechtspflege betrachtet werde, sich hier doch in einer großen Selbsttäuschung befindet. Die guten Beziehungen zwischen Richterstand und Anwaltschaft bestehen selbstverständlich im Allgemeinen in dem Sinn, dass man nicht gerade auf dem Kriegsfuß lebt; aber es lässt sich doch nicht bestreiten, dass hier die allerernstesten grundsätzlichen Missstände bestehen. Beachten Sie doch nur einmal die Tatsache, dass der Anwalt – im Gegensatz zum Staatsanwalt, der sich der Ordnungsgewalt des Vorsitzenden nach der bekannten Auffassung nicht zu unterwerfen braucht – der Ordnungsgewalt des Vorsitzenden so unterliegt, dass er mit Ordnungsstrafen gewissermaßen aus seiner Tätigkeit heraus geprügelt werden kann. Die mangelnde Gleichstellung zwischen der Staatsanwaltschaft, der Anklagebehörde, und der Verteidigung ist ein deutlicher Ausfluss der ungleichartigen Behandlung, der Nichtvollberechtigung der Anwaltschaft innerhalb der Rechtspflege. Es tritt in der gesamten Struktur unseres Strafprozesses immer wieder das Misstrauen gegen den Verteidiger, gegen den Anwaltsstand hervor. Wie kann man angesichts solcher Erscheinungen der Gesetzgebung, die vielfach noch durch die Praxis verschlimmert werden, im Ernst davon sprechen wollen, dass die Anwaltschaft sich innerhalb der Justiz in einer Stellung befinde, die ihrer Bedeutung auch nur einigermaßen entspräche!

Meine Herren, ich will mich nicht mit Einzelheiten aufhalten. Ich will nur darauf hinweisen, dass diese mindere Stellung, die der Verteidiger hat, naturgemäß abfärbt auf das Verhalten der Gerichte gegenüber dem Verteidiger. Sie werden häufig beobachten können – ich will eine Äußerlichkeit erwähnen –, dass, wenn der Verteidiger in das Zimmer eintritt, seine Verbeugung macht und sich den Herren vorstellt, in den allerseltensten Fällen die Herren sich für verpflichtet halten, sich ihrerseits vorzustellen. Sie lassen den Anwalt seinen Bückling machen, nehmen es gnädig hin und lassen ihn Platz nehmen. Das ist nicht allgemein so, aber es ist jedenfalls weit verbreitet. Der Verteidiger wird eben vielfach als ein Intruse, ein Eindringling, als ein widerwärtiger Störenfried empfunden, der dem Richterkollegium, welches meint, ganz allein schon imstande zu sein, das Rechte finden zu können, in höchstem Maße lästig ist.

Diese Abneigung gegen den Anwaltsstand, besonders die Verteidigung, hat sich bei gewissen Gelegenheiten zu einer geradezu monomanischen Stärke entwickelt. Ich darf an den bekannten Fall Brausewetter erinnern, der allerdings nun bereits älter ist. Ich darf erinnern an den früheren Landgerichtsrat Braun beim Landgericht I Berlin. Ich entsinne mich, wie dieser Herr einst in einer Verhandlung, als ein Zeuge etwas lebhaft wurde und einmal mit der Hand auf den Tisch schlug, den Zeugen anschrie: „Sie Rindvieh, Sie Hornochse, Sie bilden sich wohl ein, Sie seien ein Verteidiger? Was fällt Ihnen denn ein?" Das ist eine positive Tatsache; der Herr pflegte in dieser Weise Fraktur zu reden. Es ist erst vor wenigen Jahren gewesen, der Herr fungiert im Augenblick nicht mehr.

Ich habe jüngst erst wieder in einer Verhandlung vor der Strafkammer in Wittenberg erlebt, dass ein Amtsrichter namens Hörning seine Überzeugung, die er auch in seiner ganzen Praxis immer wieder vertreten hat, in nachdrücklichster Weise dahin ausgesprochen hat, dass alle Vertreter einschließlich der Anwälte vom Übel seien, dass der Richter am besten die ganze Geschichte allein mache und dabei der Gerechtigkeit am nächsten kommen könne. Dass dieser Herr etwa die Absicht gehabt habe, Angeklagte zu vergewaltigen, will ich nicht behaupten; aber Sie sehen, wie man vielfach gegenüber dem Anwaltsberuf, dem Verteidigerberuf auftritt. Wie ungemein selten, meine Herren, werden Kosten der Verteidigung der Staatskasse auferlegt, und zwar mit welchen Begründungen! Man gesteht eben der Regel nach nicht zu, dass die Wirksamkeit eines Verteidigers wirklich nützlich gewesen sei für den Ausgang, dass sie zur Aufklärung der Sache gedient habe, und deswegen kommt man nur in den seltensten Fällen, abgesehen von fiskalischen Gründen, dazu, diese Kosten auch der Staatskasse aufzubürden.

Ein ganz besonders bedauerlicher und kennzeichnender Fall ist der, der sich jüngst in Berlin wiederholt abgespielt hat. Es handelt sich darum, dass es in Berlin beim Amtsgericht einige Richter gibt, die es nicht dulden wollen, dass der Verteidiger während der Verhandlungen mit dem Angeklagten in irgendwelchen Meinungsaustausch eintritt. Nun wird jeder Anwalt, der in der Praxis gestanden hat, wissen, dass sich das schlechterdings gar nicht vermeiden lässt. Der Angeklagte muss mit seinem Verteidiger, seinem Vertrauensmann, konform sein. Der Verteidiger ist genötigt, über die Aussage eines Zeugen, das Ergebnis einer Beweisaufnahme jeweilig Schlag auf Schlag den Angeklagten fragen zu können: Ist das wahr? Wie ist das nach Ihrer Auffassung gewesen? Er wird sich ein kurzes Wort von ihm zuflüstern lassen. Sonst wird man jeden lebendigen Kontakt mit der mündlichen Verhandlung verlieren müssen. Trotzdem hat es besonders ein Herr für notwendig gehalten, den Verteidigern jegliche Unterhaltung mit dem Angeklagten zu verbieten und ihnen die Pflicht aufzuerlegen, wenn sie mit dem Angeklagten sprechen wollen, eine Pause in der Verhandlung zu beantragen. Jeder einsichtige Richter wird mir zugeben, dass das ein Ding der Unmöglichkeit ist, dass das in der Konsequenz dazu führen müsste, alle drei Minuten zu sagen: Ich bitte eine Pause eintreten zu lassen, ich will mit dem Angeklagten reden. Natürlich darf das nicht zu weit gehen, man darf nicht mit dem Angeklagten große Unterhaltungen anfangen, die von der Verhandlung ablenken. Es geht aber nicht, dass man jenes Prinzip aufstellt und mit Ordnungsstrafen durchzusetzen sucht, wie dies in zwei Berliner Fällen geschehen ist. In dem einen Falle ist es gelungen, diese Ordnungsstrafe in der Berufungsinstanz zur Aufhebung zu bringen. Der zweite Fall, der gegen meinen speziellen Freund Dr. Rosenfeld gerichtet ist, ist im Augenblick noch in der Schwebe.

Meine Herren, wie kann man denn davon reden, dass ein Zusammenarbeiten von Richtern und Anwälten auf dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens und der gegenseitigen gleichen Wertschätzung stattfinden könne in demselben Augenblick, wo von der Königlichen Staatsregierung ein Gesetzentwurf emaniert wird, der nichts anderes bezweckt, als der Verteidigung ihre stärksten Rechte aus der Hand zu winden, ein Entwurf, der so getragen ist von dem Misstrauen gegen den Verteidigerstand? Ich möchte dem Herrn Justizminister wünschen, dass er am vergangenen Freitag vor acht Tagen in der Sitzung des Berliner Anwaltvereins zugegen gewesen wäre; er würde dort eine Auffassung über diese Attentate auf die Rechte und Grundlagen der Verteidigung gehört haben, nicht nur von Anwälten vertreten, sondern auch von dem Herrn Professor Lilienthal, von dem Herrn Geheimrat von Liszt, ein Urteil, dass ihm ganz gewiss nicht angenehm in den Ohren geklungen hätte. Meine Herren, es ist also nicht Schuld der Anwaltschaft, wenn vorläufig hier ein wirklich zweckmäßiges Zusammenarbeiten noch nicht stattfindet.

Der Herr Abgeordnete Dr. Boehmer hat sich von neuem zum Fürsprecher der Forderung eines numerus clausus in Bezug auf den Anwaltsstand gemacht. Diese Forderung ist getragen nicht vom Vertrauen, sondern vom Misstrauen gegen den Anwaltsstand. Meine Herren, die freie Advokatur ist eben vielen Kreisen, vielen Schichten der Gesellschaft gegenwärtig politisch unbequem, die Anwälte sind nicht genügend unter der Fuchtel des Staates, man möchte diese Fuchtel schärfer auf sie herab sausen lassen. Es ist ja auch leider nicht immer gelungen, diejenigen aus der Anwaltschaft herauszubringen, die man gern hätte herausbringen mögen. Gerade das, was dem Anwaltsstande das Vertrauen der Bevölkerung sichert, ist die relative Unabhängigkeit, die unser Anwaltsstand gegenüber allen staatlichen Gewalten besitzt. Nehmen sie diese relative Unabhängigkeit weg, pressen Sie den Anwaltsstand ein in einen numerus clausus und damit in eine ungemein scharfe staatliche Kontrolle, und Sie werden auch diesem letzten Stande, der an der Rechtspflege beteiligt ist, das Vertrauen der großen Masse der Bevölkerung nehmen.

Meine Herren, ich habe eine solche Masse von Material hier, ich muss Ihnen das Wesentliche daraus vortragen, selbst wenn mein Vortrag über Gebühr lange dauern sollte.

(Zuruf: „Oh, oh!")

Ja, Gott, ich begreife vollständig Ihren Standpunkt, Sie müssen aber auch meinen Standpunkt verstehen.

(Zuruf.)

Dann bedaure ich das.

Meine Herren, in welchem Umfange die Richter der Verteidigung und den Angeklagten gegenüber oftmals eine schiefe und verkehrte Stellung einnehmen, dafür möchte ich einige Kuriosa anführen. Als in Berlin das neue Strafgericht eingerichtet wurde und wir zunächst zu einer vorläufigen Besichtigung eingeladen wurden, sahen wir, dass die Verteidiger so schmale Tische vorgesetzt bekommen hatten, dass man knapp ein Stück Papier darauf legen konnte; natürlich waren auch keine Tintenfässer da usw. Es wurde remonstriert, und es darf anerkannt werden, dass die Justizverwaltung einsichtig genug gewesen ist, sofort Remedur eintreten zu lassen.

(Zuruf.)

Aber dass es überhaupt nötig war, an eine vernünftige Einsicht zu appellieren, ist doch betrübend.

Meine Herren, ein weiteres Kuriosum. Wir trauen unseren Augen nicht; wir sehen, wie als Sitzgelegenheit für die Anwälte im neuen Kriminalgericht Klappsitze nach Art der Gefängnisklappsitze angebracht waren, Klappsitze an der Anklagebank.

(Zuruf.)

Natürlich haben Sie hier Klappsitze. Ich sage Ihnen aber: Klappsitze nach Art der Gefängnisklappsitze. Das sind einfach Holzklappsitze ohne besondere Lehne.

(Zuruf.)

Nun hören Sie doch einmal weiter zu! Die Pointe kommt noch. Natürlich haben sich die Anwälte diese unbequeme Sitzgelegenheit nicht oktroyieren lassen. Auch hier wurde Remedur geschaffen. Man erfuhr aber, aus welchem Grunde man diese Art der Sitzgelegenheit geschaffen hatte. Es war nämlich von einem überängstlichen Herrn – es war einer der Herren, der auf Grund seiner richterlichen Tätigkeit Anlass hatte, auf eine sehr feindliche Stimmung zu rechnen – die Befürchtung geäußert worden, es könnte doch mal ein rabiater Angeklagter den Stuhl nehmen und auf den Richter schmeißen.

(Heiterkeit.)

Das ist kein Scherz, den ich Ihnen erzähle, sondern das ist Wahrheit.

Wenn wir die heutige Art des Verfahrens betrachten, müssen wir ungemein viele Erscheinungen für im höchsten Maße verderblich halten. Zunächst greife ich heraus die Vertrauensseligkeit, die man vielfältig noch den polizeilichen Protokollen entgegenbringt. Obwohl jeder Gerichtshof schon einmal oder öfter die Unzuverlässigkeit dieser Protokolle erprobt hat, erleben wir es immer und immer wieder, dass die Richter, wenn die Unzuverlässigkeit nicht im speziellen Falle nachgewiesen wird, auf die Zuverlässigkeit der polizeilichen Protokolle schwören.

(Zuruf.)

Es gibt Ausnahmen; aber leider ist das, was ich ausgeführt habe, die Regel.9

Meine Herren, des weiteren darf ich darauf hinweisen, welche ungeheure Erschwerung der Ausübung der anwaltlichen Tätigkeit speziell in Berlin durch die Zersplitterung der Gerichte eingetreten ist. Das belastet den Anwaltsstand auf das Schwerste und hat dazu geführt, dass jetzt ein großer Teil der Anwaltstätigkeit im Zurücklegen großer Entfernungen besteht. Man hat schon das Scherzwort geprägt, dass die Tüchtigkeit des Berliner Anwalts weniger im Kopfe liege als in den Beinen. Das hat etwas Wahres an sich. Insbesondere hat diese ungeheure Zersplitterung, die die Justizverwaltung, sozusagen, in fraudem advocatorum eingeführt hat, auch zu einer Besteuerung der Rechtspflege und zu einer Erschwerung der Rechtsverfolgung geführt. Es geht das Gerücht, und zwar wohl beglaubigt, dass man die Absicht hegt, jetzt ein besonderes Landgericht IV zu schaffen, das wiederum irgendwo außerhalb, wenn ich nicht irre, in Rixdorf, liegen soll. Es wäre geradezu verhängnisvoll, wenn die Königliche Staatsregierung dieses Projekt weiter verfolgen sollte, wenn sie nicht aus den Erfahrungen, die sich aus der bisherigen Zersplitterung ergeben haben, die Lehre schöpfen würde, dass es auf das Energischste zu vermeiden ist, die Zersplitterung unserer Gerichte noch weiter zu treiben.

Ich komme auf eine weitere Frage zu sprechen. Wir erleben es tagtäglich – wir Anwälte und das Publikum sind in dem Fall die gleichen Leidtragenden –, dass wir in Berlin, aber auch an kleineren Gerichten, in der unerhörtesten Weise genötigt werden, auf die Verhandlungen zu warten. Man kann nicht darauf rechnen, jemals zu seiner Zeit heranzukommen. Wenn man mehrere Strafsachen an einem Tage zu erledigen hat, so weiß man niemals, wenn auch die Zeit an und für sich noch so gut stimmen mag, ob sie nicht am Ende in derselben Minute zusammenkommen. Diese Überhäufung der Terminzettel der Gerichte muss als ein Missstand schlimmer Art zurückgewiesen werden. Die Richter sind allerdings daran nicht schuld. Es ist zu einem sehr großen Teil die Wirkung der Arbeitsüberhäufung der Richter. Aber das kann uns nicht daran hindern, scharfe Kritik zu üben. es besteht, meine Herren, zweifellos ein großer Missstand insofern, als die Richter vielfältig um deswillen mehrere Termine auf eine Terminstunde legen, weil sie auf alle Fälle vermieden wissen wollen, dass sie auch nur ein einziges Mal vielleicht sehr kurze Zeit zu warten haben sollten. Sie rechnen damit, dass dieser oder jener Termin ausfällt, und sorgen schon dafür, dass Ersatz dafür da ist. Natürlich, wenn sein Termin ausfällt, ist die Wirkung die unendliche Warterei, übrigens eine Warterei, die auch im höchsten Maße fiskalisch unzweckmäßig ist: denn alle die Zeugen usw. müssen dafür mehr bezahlt bekommen.

Meine Herren, das lange Sitzen der Kammern ist auch eine Wirkung der Arbeitsüberhäufung. Es sollte auch beseitigt werden durch Vermehrung der Richterstellen. Es ist keine Rede davon, dass unsere Richter imstande seien, ihre Aufmerksamkeit immer lebendig, ihre Spannkraft frisch zu erhalten, wenn sie oftmals Sitzungen von 8, 10 und mehr Stunden haben, ohne dass sie die Möglichkeit haben, sich ernstlich zu erfrischen.

Meine Herren, dass die Erschwerung der Akteneinsicht für den Verteidiger eine außerordentlich bedauerliche Erscheinung ist, das möchte ich hier auch nicht unbetont lassen. Meine Herren, man hat die Möglichkeit in der Strafprozessordnung, dem Anmalt die Akten in die Wohnung zu schicken. An kleineren Orten geschieht das auch; in Berlin ist es ausgeschlossen. Man sollte daher Sorge tragen, dass von dieser Maßregel, die sicherlich auch eine Erleichterung für das Gericht darstellt, jedenfalls eine größere Erleichterung für den Verteidiger bei uns auch in den großen Städten, in größerem Umfange Gebrauch gemacht werde. Es ist nur ein Misstrauen gegen den Anwaltsstand, das in der Verweigerung dieser an sich zulässigen Maßregel seinen Ausdruck findet. Es ist das auch ein Punkt, wo die Justizverwaltung direkt in der Lage ist, einzugreifen. – Die Staatsanwaltschaft hat in Berlin die ganz generelle Verfügung getroffen, dass die Sekretäre der Staatsanwaltschaft nie berechtigt sein sollen, dem Anwalt die Akten vorzulegen. Meine Herren, in Fällen, wo das eine Frage des Ermessens ist, will ich dagegen gar nichts einwenden. Aber bedauerlicherweise besteht diese Praxis auch dann, wenn nach den Bestimmungen unserer Strafprozessordnung die Aktenansicht seitens des Anwalts ein selbstverständliches Recht darstellt. Z.B. nehmen Sie an: es handelt sich um die einwöchige Revisionsbegründungsfrist. Da sind die Akten meist längere Zeit bei der Staatsanwaltschaft. Der Anwalt kann nicht sechsmal gelaufen kommen. Es ist hier klar, dass der Anwalt ohne Rücksicht die Akten sehen darf. Wenn er also nach Eröffnung des Hauptverfahrens zu den Akten als Verteidiger legitimiert ist, sollte man den Sekretären der Staatsanwaltschaft so viel Vertrauen, so viel Urteilsfähigkeit beimessen, dass man sie für solche Fälle ermächtigt, die Akten einfach dem Anwalt ohne weitere Verzögerung zu geben.

Ich will auf den Unfug hinweisen, der sich vielfach gebildet hat in Bezug auf die Bestellung von Referendarien als Offizialverteidiger. Ich erkenne durchaus an, dass vielfach diese jungen Herren ihre Tätigkeit in einer Pflichteifrigen und tüchtigen Weise ausüben, und ich begreife durchaus, dass ein gewisser Wunsch besteht, dass sie sich in dieser Weise praktisch betätigen. Aber es ist nicht das Richtige, wenn der bei derselben Kammer beschäftigte Referendar nun als Offizialverteidiger bestellt wird, von der er im höchsten Maße abhängig ist, und ernste Sachen gar sollte man diesen jungen Kräften niemals als Probier- und Ausbildungsgegenstand anvertrauen. Das mag man in anderer Weise tun und der Zeit überlassen, Wo die Referendare bei den Rechtsanwälten und der Staatsanwaltschaft beschäftigt sind.

Es ist vielfältig mit Bedauern vermerkt worden, dass die Gerichte in Bezug auf die Feststellung der zur Erkenntnis der Strafbarkeit erforderlichen Einsicht bei Jugendlichen sehr oberflächlich Vorgehen. Ich weise weiter darauf hin, dass die Richter es oft ohne Not in ernsten Fällen an der nötigen Rechtsbelehrung gegenüber den Parteien ermangeln lassen. Wir erleben es oft, dass nach Schluss einer Verhandlung, wenn ein Urteil gegen die Auffassung des Angeklagten gesprochen ist, der ohne Verteidiger anwesende Angeklagte dem Richter sagt: gegen das Urteil lege ich Berufung ein, dass er überzeugt ist, hiermit alles getan zu haben, was er zu tun hat, und dass er nach Hause geht, und dass er nachher erfahren muss, dass diese Rechtsmitteleinlegung nicht wirksam ist. In solchen Fällen ist es Pflicht des Richters, den Angeklagten rechtlich dahin zu belehren: das ist unwirksam, Was du tust, du musst die Sache schriftlich ober zu Protokoll einreichen. Der Regel nach geschieht das; aber es wäre zu wünschen, wenn es ausnahmslos geschähe.

Ein Vorwurf, der mit Recht vielfach gegen die Richter erhoben wird, ist, dass sie während der Verhandlung nicht genügend aufpassen. Das ist ein sehr ernster Vorwurf, den ich erhebe, und zwar auf Grund einer sehr genauen Erfahrung. Wir haben die Einrichtung, dass der Vorsitzende, der die Verhandlung leitet, und dass der Referent, die der Regel nach die Akten sorgfältig studiert haben, der Verhandlung wohl folgen. Aber nicht selten erleben wir, dass alle übrigen Richter außer dem Vorsitzenden und Referenten sich als fünftes Rad am Wagen betrachten, nur mit halbem Ohr der Behandlung zuhören, obwohl sie schließlich im Beratungszimmer dennoch den Ausschlag geben für die Beurteilung der Sache. Ich bin weit davon entfernt, diese Behauptung zu einem persönlichen Vorwurf gegen die Richter zuzuspitzen. Es ist auch dieses Verhalten zweifellos eine Wirkung der Überlastung der Richter und einer fehlerhaften Organisation. Ich kenne in Berlin eine Zahl von Kammern, in denen es geradezu allgemein üblich ist, dass die Richter außer dem Referenten und dem Vorsitzenden während der Sitzung umfangreiche Arbeiten erledigen, Urteile machen usw. Sie haben einen Stoß Akten vor sich und arbeiten sie auf. Entweder können die Urteile die sie da niederschreiben, nichts taugen, wenn sie bei der Verhandlung aufpassen – und das wäre vom Übel –, oder die Urteile, die sie unterschreiben, sind gut, dann taugt ihre Aufmerksamkeit in der Behandlung nichts. Hier kann niemand zween Herren dienen; das ist ein Missstand schlimmster Sorte, dem nachdrücklich abgeholfen werden muss.

Meine Herren, ich kann Ihnen auch einen Breslauer Fall dieser Art vortragen. Mein Parteigenosse Albert war wegen Beleidigung angeklagt. Die Herren Richter arbeiteten während der Behandlung, so dass ihm ihre Aufmerksamkeit nicht zuteil wurde. Er legte Beschwerde ein, die aber von dem Herrn Landgerichtspräsidenten zurück gewiesen wurde, weil es sich nicht ganz vermeiden lasse, dass gelegentlich einmal irgend welche kurzen Anordnungen oder Verfügungen, die die Aufmerksamkeit nicht nennenswert stören, von dem Richter während der Verhandlung getroffen werden. Es heißt im Bescheid:

Ist es nun auch wohl wünschenswert, dass die Mitglieder einer Strafkammer während einer Hauptverhandlung jeder Nebenbeschäftigung sich enthalten, so ist es doch bei den langen Sitzungen fast unvermeidlich, dass hin und wieder nebenher unbedeutende und zugleich eilige Geschäfte erledigt werden, um nicht den Geschäftsgang stocken zu lassen.

Zu Maßnahmen der Dienstaufsicht gibt dies nur in dem hier nicht vorliegenden Falle Anlass, dass dadurch die Aufmerksamkeit der Richter von der Verhandlung abgelenkt und so das Interesse der Rechtsprechung gefährdet wird.“

Auf Grund meiner praktischen Erfahrungen stelle ich die Behauptung auf, dass der Fall, dass die Aufmerksamkeit der Richter von der Behandlung durch Nebenbeschäftigungen abgelenkt und damit das Interesse der Rechtsprechung gefährdet wird, bei unseren bedauerlicherweise sehr viel beschäftigen Gerichten recht häufig ist. Die Justizverwaltung ist meiner Ansicht nach wohl in der Lage und verpflichtet, hier im Bereich ihrer Kompetenz – denn das liegt ja außerhalb der eigentlichen richterlichen Funktionen – mit Nachdruck einzugreifen.

Haben wir doch sogar erlebt – was ich als ganz besonders missbräuchlich bezeichnen muss –, dass ein Richter, Mitglied einer Strafkammer – aus Zeitmangel, will ich auch hier mal wieder sagen –, in einem Fall, der einen; befreundeten Kollegen hier in Berlin passiert ist, das Urteil bereits vor Beginn der Behandlungen abzusetzen angefangen hatte. Diese schriftliche „Urteilsbegründung" begann etwa mit der Bemerkung: entsprechend dem Inhalt der Akten und der polizeilichen Protokolle hat die Beweisaufnahme das und das ergeben. Damals ist zwar Remedur eingetreten, und die Justizverwaltung hat zweifellos diesen Fall als höchst bedauerlich und unerträglich erkannt. Dieser Fall ist zugleich auch ein Ausfluss der Erscheinung, dass gegenüber der mündlichen Behandlung allzu viel auf den Akteninhalt gegeben wird. Diese Erscheinung, die wir sehr bedauern, sollte durch die Strafprozessnovelle beseitigt werden.

Eine weitere Praxis unserer Gerichte, die die Anwälte, und nicht nur die sozialdemokratischen Anwälte, in höchstem Maße empören muss, ist die Neigung vieler Kammern, in dem Falle, wo der Angeklagte einen Beweisantrag stellt, der zu einer Vertagung führt, die dem Gerichtshof unbequem ist, und von dem er darum prima facie meint, dass er nur eine Verzögerung der Sache hervorrufen werde, zwar dem Beweisantrag stattzugeben, gleichzeitig aber einen Haftbefehl gegen den Angeklagten zu erlassen. Meine Herren, das ist eine Brutalisierung der Angeklagten, der gar nicht scharf genug entgegengetreten werden kann. Ich hoffe, dass diese Fälle immer seltener werden, Wenn ich auch leider betonen muss, dass nach meiner Erfahrung diese Fälle eher zunehmen, dass sich bei gewissen Kammern geradezu eine Praxis in dieser Richtung herausbildet.

Genau so bedauerlich und eine nicht gerade chevalereske Art der Justizführung ist es, wenn man dem Angeklagten, der in Haft sitzt und sich dieser in einer Zwangslage befindet, die Entscheidung darüber ansinnt, ob er ein Rechtsmittel einlegen will ober nicht. Die Strafprozessordnung schreibt vor, und zwar mit gutem Grunde, dass diese Frage an den verhafteten Angeklagten gerichtet werden muss. Wir erleben es aber ungemein häufig, dass Urteile gefällt werden, auf Grund deren die Gerichte gar nicht mehr einen Haftbefehl aufrechterhalten wollen oder können, wo seine Aufhebung zugleich mit dem Urteil verkündet werden müsste, wo aber doch an den noch unter dem Druck der Untersuchungshaft stehenden Angeklagten die Frage gerichtet wird: Verzichten Sie auf Revision, dann können Sie die Strafe sofort antreten; in solchem Falle werden die Angeklagten, besonders wenn ihnen kein Verteidiger zur Seite steht, gar zu leicht geneigt sein, unter diesem Druck auf ihr Rechtsmittel zu verzichten.

Meine Herren, ein Missstand, gegen den ich auch in lebhaftester Weise anzukämpfen habe, ist die Einrichtung unserer Gerichtsärzte. Meine Herren, ich schätze die Gerichtsärzte, die ich in meiner Praxis kennen gelernt habe, im allgemeinen außerordentlich hoch;

(na also! links)

hören Sie den Nachsatz, Herr Abgeordneter! – es sind sehr tüchtige und gewissenhafte Leute; aber, meine Herren, es besteht bei uns leider die Praxis, dass die Gerichtsärzte – die zudem in Abhängigkeit von der Justizverwaltung stehen –, als Universalmediziner und Spezialisten für alles betrachtet werden, mit einem Urteil, das maßgebender ist auf jedem Spezialgebiet der Medizin als selbst das Urteil irgendeines Spezialisten. Nun kann sich ein Gerichtsarzt eine noch so große Praxis aneignen, speziell auf psychiatrischem Gebiete, – ein wirklicher Spezialist für Psychiatrie wird er dadurch meiner Überzeugung nach nicht, weil er sich viel zu sehr zersplittern muss und gar nicht in der Lage ist, den Bewegungen der Wissenschaft auf diesem Gebiete in demjenigen Umfang unausgesetzt zu folgen, wie es notwendig ist. Also die Sachkunde und die Tüchtigkeit der Herren in allen Ehren, bei der Vielfältigkeit der medizinischen Wissenschaft ist es meiner Ansicht nach eine Verpflichtung der Justizverwaltung, dass sie wenigstens von diesen generellen Gerichtsärzten Abstand nimmt und statt dessen Spezialärzte heranzieht, die sie ja, wenn sie das Institut nicht ganz beseitigen will, was das beste wäre, mit den Funktionen der Gerichtsärzte versehen kann. Wenn dadurch mehr Kosten entstehen, so glaube ich, würden diese sehr gern bewilligt werden, und wir speziell würden bereit sein, diese Kosten gern zu bewilligen, weil sie zur Forderung der Justiz dienen können.

Meine Herren, ein bedauerlicher und unbilliger Fiskalismus macht sich in unserer Justiz so ungemein vielfach breit. Ich habe vorhin bereits die Übernahme der Verteidigungskosten, der notwendigen Auslagen auf die Staatskasse erwähnt, wie sie fast regelmäßig mit den sonderbarsten Begründungen entgegen allem Rechtsempfinden und Bedürfnis abgelehnt wird. Ich darf des weiteren auf den Fiskalismus hinweisen in Bezug auf die Übernahme der Gebühren von unmittelbar geladenen oder bestellten Zeugen, die ja nach der Strafprozessordnung bei Erheblichkeit übernommen werden können, aber der Regel nach doch nicht übernommen werden. Ich darf weiter darauf hinweisen, in wie außerordentlich fiskalischer Weise von unsern Gerichten die Gesetze über die Entschädigung unschuldig Verurteilter und unschuldig in Untersuchungshaft Genommener angewandt werden. Hier wäre eine größere Weitherzigkeit am Platze. Der Richter ist nicht diejenige Instanz, die sich um die Finanzen des Staates zu kümmern hat. Er soll ganz unbekümmert darum, ob er meint, dass es dem Staat und seinen Finanzen unbequem sein kann, dasjenige tun, was ihm recht und billig scheint, was ihm vor allen Dingen billig und im Interesse der Humanität scheint.

Meine Herren, ein Missstand kann nicht außer acht gelassen werden, der vielfach in bösartigster Weise in den ganzen Gang unserer Strafprozesse eingreift. Ich meine die vielfältige Gepflogenheit, dass man mit der ersten Ermittlung in irgendwelchen Strafsachen dieselben Schutzleute, dieselben Polizeibüros betraut, die als unmittelbar Verletzte in Frage kommen. Meine Herren, ich habe einen Fall aus Dortmund, der gerade erst am 31. Januar seine letzte Szene gespielt hat; es handelt sich um die Strafsache gegen Stensbeck, in der es sich um Schutzmannnsmisshandlungen dreht, ausgeübt von den Dortmunder Schutzleuten Blum und Gräfe. Diese Misshandlungen wurden in der Verhandlung festgestellt. Es wurde der Angeklagte freigesprochen und ein sehr ernstes Verdikt über die Ausschreitungen der Schutzleule gefällt. Aber, meine Herren, was mir Anlass gibt, die Sache gegenwärtig vorzubringen, das ist die Tatsache, dass die ernsten Erhebungen in dieser selben Sache von eben diesen Schutzleuten Blum und Gräfe und ihren unmittelbaren Kollegen gemacht sind. Ich habe ähnliches wiederholt erlebt. Ich erinnere mich an einen Fall, der gerade vorgestern vor der Berliner Strafkammer wiederum ein Nachspiel erlebt hat, an die Strafsache gegen Werber, deren erster Akt sich allerdings schon 1892 abgespielt hat. Damals war der Kriminalkommissar, der jetzige Kriminalinspektor Krause in Charlottenburg, ein unmittelbar Beteiligter. Dieser Mann hat persönlich die ihn unmittelbar interessierende Sache geführt; er hat die ganzen Ermittlungen angestellt, hat sie in einer persönlich so um gemein gehässigen Weise geführt, dass sogar das Amtsgericht, das über die eben von mir erwähnte Sache zu urteilen hatte, darüber ein sehr scharfes Urteil gefällt hat; er hat mit seinen Eingaben und seinen Versuchen, auf den Gang der Justiz einzuwirken, nicht nachgelassen, auch nach Eröffnung des Hauptverfahrens nicht, bis zu der Schwurgerichtsverhandlung, die über des unglücklichen Werbers Schicksal entschied.

Meine Herren, es müsste meiner Überzeugung nach – wenn auch nirgends in dem Gesetz steht, dass andere als die Richter unbefangen sein müssen – von der Justizverwaltung als ihre besondere Aufgabe, als eine Ehrenpflicht betrachtet werden, dass auch die nicht-richterlichen Justizorgane überall dort, wo sie unmittelbar beteiligt sind, von allen Ermittlungen auszuscheiden haben, dass man auch die frühesten polizeilichen Ermittlungen, die sehr häufig dem ganzen weiteren Verfahren den Stempel aufdrücken, aus den Händen befangener, voreingenommener, interessierter Personen nimmt und in die Hände von ferner flehenden, objektiven Personen legt. Meine Herren, ich glaube, dass ich, wenn ich diese Forderung hier aufstelle, keine allzu übertriebenen Forderungen erhebe, die man als sozialdemokratische Übertreibungen mit einer Handbewegung beiseite schieben könnte.

Meine Herren, ich will davon nicht weiter sprechen, dass bedauerlicherweise neuestens trotz aller Anweisungen und Ermahnungen zur Besserung wiederum doch mit dem Zeugniszwang gegen die Presse teilweise begonnen ist. Ich will mich auch mit anderen Verschlechterungen in Bezug auf die Justizorganisation, die sich speziell in Berlin abgespielt haben, hier nicht näher befassen. Aber, 10meine Herren, ich muss mich jetzt noch mit einigen Worten der Frage der Klassenjustiz zuwenden, und zwar zunächst der Frage, ob es eine Klassenjustiz gibt oder nicht.

Der Herr Abgeordnete Strosser hat sich im vergangenen Jahre für verpflichtet gehalten, gegenüber meinem Freunde Leinert zu bemerken, er habe einer doppelten Moral das Wort geredet, er wolle nur Recht für die Arbeiter, nicht für die Arbeitgeber usw. Meine Herren, das ist in der Tat eine hanebüchene Behauptung, die bei vorurteilsloser Betrachtung sicherlich von niemandem, auch nicht von den Herren auf der rechten Seite des Hauses, aufrechterhalten werden kann. Das Urteil, das von Nordhausen über die Klassenjustiz gefällt worden ist, wie es der Herr Abgeordnete Leinert. im vergangenen Jahre vorgetragen hat, das ist bedauerlicherweise nicht von den Herren unter die Lupe genommen und zum Gegenstand der Erörterung gemacht worden; dass der nationalliberale Abgeordnete Dr. Heinze in der Sitzung des Reichstages vom 18. Februar 1908 ausdrücklich anerkannt hat, dass so etwas wie Klassenjustiz in der Tat existiere, dürfte Ihnen auch bekannt sein, und der Abgeordnete Müller-Meiningen von der Freisinnigen Volkspartei hat gleichfalls ausdrücklich anerkannt, dass es eine Klassenjustiz gäbe und dass der Kapitalismus der heimliche Kaiser unserer Justiz sei.

Meine Herren, die Politik ist aus dem Gerichtssaal bedauerlicherweise nicht zu verbannen. Es zeigt sich fast allgemein bei den Gerichten eine große Verständnislosigkeit für die Psychologie der Arbeiterschaft und der unteren Stände. Es genügt nicht, dass man die Gleichberechtigung der Arbeiterschaft zur Vertretung ihrer Interessen theoretisch anerkennt; man muss vor allen Dingen ein lebendiges Verständnis und eine Sympathie für die Psychologie der Arbeiterschaft und des kämpfenden Proletariats haben, um dieser Psychologie, dieser Gesinnung gerecht werden zu können. Meine Herren, die Pflichten der Solidarität, die von der Arbeiterschaft aus ihren besonderen Klasseninteressen heraus in den Vordergrund der proletarischen Moral gerückt werden, werden häufig von Richterseite als geradezu verbrecherische Auswüchse einer Demoralisation betrachtet, und dabei würden dieselben Herren, die in dieser Weise über das Solidaritätsbedürfnis der Arbeiterschaft aburteilen, am ehesten ein Verständnis dafür bekommen können, wenn sie auf ihre eigenen Solidaritätsgefühle zurückgehen würden. Meine Herren, nirgends herrscht schärfere Solidarität als innerhalb der Bürokratie, nirgends herrscht schärfere Solidarität als innerhalb des Offizierskorps, nirgends wird die Solidarität mit schärferen Mitteln gegebenenfalls erzwungen als gerade innerhalb der Bürokratie durch inoffizielle Maßregelungen, durch gesellschaftliche Ächtung usw. Meine Herren, Sie sollten dasjenige, was Sie für sich selbst in Anspruch nehmen, wenn Sie wirklich eine Gleichberechtigung zur Grundlage Ihrer Weltanschauung gemacht haben, wenn Sie auf dem christlichen Standpunkt der Gleichheit alles dessen, was Menschenantlitz trägt, stehen würden, auch der Arbeiterschaft zuerkennen; denn die Arbeiterschaft tut für sich nur, was Sie auch für sich tun.

Meine Herren, wenn die Politik nicht während der Verhandlung in den Gerichtssaal kommt, so pflegt sie doch leider im Beratungszimmer sehr häufig eine gar zu große Rolle zu spielen.

Meine Herren, die Quellen der Klassenjustiz sind verschiedene. Wenn Sie betrachten, wie an und für sich schon jeder formal gebildete, jeder wohlhabendere Mensch in unserer Justiz bessere Chancen hat, so werden wir schon darin etwas finden, was mit dem Klassencharakter unserer Gesellschaft auf das Engste zusammenhängt. Meine Herren, wer kein Geld hat, um sich Zeugen selbst zu laden, um sich einen Anwalt zu nehmen, um sich Schreibarbeiten machen zu lassen, wer nicht die nötige formale Bildung hat, um sich gewandt selbst verteidigen zu können, etwaige Anträge selbst zu stellen, und wer seinen Anwalt nur schwer informieren kann, wenn er einen hat, ist an und für sich schon und auch durch die ganze Art seines Auftretens vor Gericht, in einer unglücklichen Lage gegenüber dem wohlhabenden Menschen.

Meine Herren, also einmal werden die armen Schichten durch ihre soziale Lage in die Verbrechen hineingedrängt: „Ihr lasst den Armen schuldig werden"; zweitens ist er durch seine Armut in eine schwierigere Lage gekommen; drittens durch seine mangelnde formale Bildung, die wiederum der Regel nach eine Folge der Armut ist. In dreifacher Weise ist somit der arme Mensch gegenüber unserer Justiz benachteiligt. Das müsste zur Folge haben, dass unsere Justiz es sich zur Aufgabe machen würde, gerade den armen Leuten mit der denkbar größten Sanftmut, Ruhe und Bereitwilligkeit in allen Teilen zu helfen und entgegenzukommen. Leider finden wir, dass die Schwierigkeiten, die die Verhandlung mit ungeschickten Leuten macht, immer und immer wieder dazu führen, nicht, dass man diesen Leuten hilft, wie man müsste, sondern, dass man sie in ungünstigerer Weise behandelt und dass sie durch diese ungünstige Art der Behandlung zu den übrigen Nachteilen noch weiter benachteiligt werden. Das sind auch Sachen, bei denen ich einfach an das ritterliche Gefühl und an die ritterlichen Pflichten unserer richterlichen Bürokratie glaube appellieren zu dürfen. Das sind Sachen, die außerhalb des politischen Kampfes stehen. Es müsste möglich sein, dass hier in höherem Maße die Einsicht und die Freundlichkeit und Barmherzigkeit gegenüber der armen Bevölkerung zum Ausdruck kommt.

Schon in der Art und Weise, wie der Angeklagte behandelt wird, wie die Verhandlung geleitet wird, kann die Klassenjustiz sich äußern, ebenso in der Art der Rechtsauslegung, in der Art der Tatsachenwürdigung, im Strafmaß, in der Art, wie die Urteile vollstreckt werden. Dass eine Verständnislosigkeit an und für sich gegenüber der Nichtbürokratie besteht, eine Weltfremdheit, das habe ich erwähnt; dass andere Klassen von dem Richterstande ungünstiger beurteilt werden, weil kein Verständnis für sie besteht, ist gleichfalls ausgeführt. Dass die armen Leute ungünstig gestellt sind gerade mit Rücksicht auf ihre Armut, in Bezug auf die Möglichkeit ihrer Verteidigung, habe ich nicht minder bemerkt. Dass auch gegenüber den höheren Klassen eine gewisse Verständnislosigkeit besteht, mag zutreffen. Aber es lässt sich nicht bestreiten, dass diese Verständnislosigkeit sich hier in einer Weise auswirkt, die dem Betreffenden günstig ist. Besonders zeigt sich die Neigung zur Klassenjustiz bei sozialen Konflikten, bei ökonomischen Konflikten, bei politischen Konflikten, bei Konflikten mit der Staatsgewalt und am intensivsten bei Konflikten, die sich gegen die Bürokratie richten; denn die Solidarität der Bürokratie zeigt ihre ganze Stärke gegenüber jedem Angriff gegen die Bürokratie. Da heißt es: Die Staatsautorität muss nachdrücklich geschützt werden; da werden strenge und schwere Strafen verhängt, die außer jedem Verhältnis zu der moralischen Verschuldung stehen, wobei Milderungsgründe, die verständigerweise herangezogen werden müssen, einfach unter den Tisch fallen. Die politische Spannung ist ein ganz besonderer Fall, in dem die Klassenjustiz sich offenbart. Wir wollen abwarten, wie sich die Justiz bei all den Stürmen verhalten und bewähren wird, die jetzt der Wahlrechtskampf entfesseln muss mit Rücksicht auf die schnöde Provokation des Volkes, die in der Wahlrechtsvorlage enthalten ist.11 Wir wollen sehen, wie die Justiz in diesem Falle bestehen wird, ob sie sich in diesem Falle als ein Hort der Freiheit und der bürgerlichen Unabhängigkeit bewähren wird oder ob sie sich wiederum, wie gar so häufig, als ein staatliches Zwangs- und Gewaltmittel zur Aufrechterhaltung der herrschenden Staats- und Gesellschaftsordnung – in Anführungszeichen, wohlgemerkt – erweisen wird.

Meine Herren, ich darf leider noch nicht schließen.

(Heiterkeit.)

Wenn wir sehen, woher unser Richterstand sich rekrutiert, so genügt das bereits, um zu kennzeichnen, aus welchem Milieu, aus welchen Auffassungen heraus unsere Richter der Regel nach urteilen werden. Es sind naturgemäß nur die besitzenden Klassen, die für den Richterstand in Frage kommen, schon wegen der teuren Kosten der Ausbildung, wegen der verhältnismäßig niedrigen Gehälter in den unteren Stufen, die das Bedürfnis standesgemäßen Lebens, das dennoch besteht, allein nicht befriedigen können. Dass die Ausbildung der Juristen auf der Universität nebenbei bedauerlicherweise eine sehr unzureichende ist, dass speziell gerade in Bezug auf die Ausbildung in sozialpolitischer Hinsicht nicht alles geschieht, das ist etwas, was ja nicht nur von der Sozialdemokratie wiederholt hervorgehoben worden ist. Aber, meine Herren, etwas anderes: Leider schon auf den Universitäten werden unsere Juristen, unsere künftigen Richter heran gedrillt zu einer Beschränktheit der politischen Auffassung, die wir auf das Lebhafteste bedauern müssen. Leider ist auf unseren Universitäten bereits eine Neigung zum politischen und sozialen Drillen der Studenten eingerissen, die, wie uns scheint, nur zu einer Gefährdung der künftigen Entwicklung unseres Volkes und unserer Jugend dienen kann. Sie wissen, wie unsere Studentenvereine aus politischen Gründen wiederholt aufgelöst, wie Vorträge bei den Studenten verboten worden sind usw. Sie wissen, wie die Zulassung zum Referendariat vorläufig noch Sache der absoluten Willkür der Verwaltungsbehörde ist. Ich selbst bin auch in diesem Falle ein lebendiges Beispiel. Man hat mir die Zulassung zum Referendariat zunächst schlechterdings verweigert, unter allerlei Ausreden, zunächst hier in Berlin, dann in Kiel; wäre nicht der aufrechte Mann, der frühere Kultusminister Falk, in Hamm Oberlandesgerichtspräsident gewesen, meine Herren, es wäre mir niemals gelungen, Referendar zu werden. Sie (nach rechts) würden das natürlich nicht bedauern,

(Zustimmung rechts.)

des bin ich ganz gewiss. Ich hebe nur hervor, in welchem Maße die künftigen Richter hier bereits gesiebt werden und abhängig sind von der Willkür der Verwaltung. Wir haben noch vor wenigen Jahren einen ähnlichen Fall gehabt bei meinem Freunde Heimann, der, obwohl er das Studium gut absolviert hatte, zum Referendariat nicht zugelassen worden ist, weil er sich zu einer oppositionellen Gesinnung bekannt hatte. Sie wissen ferner, dass jeder Referendar ad nutum ist, dass er einfach entlassen werden kann aus dem geringfügigsten Anlass heraus, ohne dass ein Recht auf förmliches Disziplinarverfahren besteht. Parteigenossen von mir, wie Quarck und Katzenstein, sind dieser Macht der Verwaltungsbehörde zum Opfer gefallen.

Man sagt, die Anstellung der Richter sei ein ausschließliches Recht der Krone, über das hier nicht geredet werden dürfe. Das ist eine ganz verkehrte Auffassung. Die Krone übt hier nur als Repräsentant des Staates diese Aufgabe aus, und selbstverständlich unterliegt diese Aufgabe stets der Kritik des Parlaments, und das Parlament wird, wie ich hoffe, sie sich niemals nehmen lassen. Es ist bedauerlich, dass durch die Qualifikation zum Assessor das Recht auf Anstellung vorläufig noch nicht gegeben wird; nur ein solches Recht auf Anstellung könnte verhindern, dass bei der Auswahl der Assessoren, der künftigen Richter, aus den bereits gesiebten Referendaren außerdem eine weitere Siebung durch die Justizverwaltung stattfindet.

Die Zusammensetzung des Richterstandes ist ja auch von dem Herrn Abgeordneten Boehmer erwähnt worden; er hat den Wunsch geäußert, dass unsere höheren Stände, besonders auch der vielgeschmähte Junkerstand, sich wieder entschließen möchten, ihre Söhne dem Richterstande zuzuführen; das würde zur Hebung des Ansehens des Richterstandes führen. Meine Herren, zunächst einmal möchte ich fragen: Woher rekrutieren sich denn gegenwärtig die Richter, wenn nicht aus den höheren Ständen? Aber wenn hier das Wort „höherer Stand" in diesem Zusammenhang gebraucht ist, so ist offenbar damit der Adel gemeint. Nun, meine Herren, ob der Adel die nötige Masse von Intelligenz würde aufbringen können, um auch noch in der Justiz eine nennenswerte Rolle zu spielen, ist mir zunächst einmal im höchsten Maße zweifelhaft. Aber eine Feudalisierung des Richterstandes, wie sie Herr Abgeordneter Boehmer gewünscht hat, müsste von uns im höchsten Maße als bedauerlich und gefährlich bezeichnet werden. Die für den Gesellschaftsorganismus so ungemein unerhebliche Junkerkaste kann, nachdem sie bereits eine so wichtige Machtstellung innerhalb der Bürokratie besitzt, nicht noch eine weitere Machtstellung gewinnen, indem man ihr die Justiz auch noch als eine Domäne überantwortet. Es ist dies ein Wort des konservativen Übermuts, das der Herr Abgeordnete Boehmer gesprochen hat, ein Wort, das sicherlich auch in weiten Kreisen ein Echo finden wird, das Ihnen nicht angenehm sein wird. Meine Herren, Sie wünschen damit nur zu erreichen, dass die Justiz ja nicht einmal doch noch in aufgeregten Zeiten als Mittel der Unterdrückung versagen könnte; Sie wünschen, dass dieses Machtmittel, dieses Gewaltmittel der Justiz – wie die Verwaltung – auch in die derberen Fäuste der Junkerkaste gelegt wird, weil Sie denken, dass es damit möglich sein wird, die unteren Klassen in schärferer und brutalerer Weise gewalttätig in den Schranken zu halten.

(Zuruf.)

Durch Ihren Zuruf ist die Richtigkeit meiner Auffassung bestätigt worden. Ich danke Ihnen wiederum für diese Bestätigung.

Über die Art der Beförderung will ich nicht weiter sprechen. Es ist in der Tat nicht erfreulich, wenn allzu viele Staatsanwälte in Richterstellen aufrücken. Dabei will ich nicht verkennen, dass nicht selten die aus der Staatsanwaltschaft hervorgegangenen Richter in der Anwaltschaft und überhaupt im Publikum ein großes Vertrauen gefunden haben. Ich kenne eine ganze Anzahl solche Herren, die wir nur mit großem Bedauern aus der Strafjustiz wieder haben herausgehen sehen. Aber es ist im Prinzip nicht empfehlenswert, wenn aus der Staatsanwaltschaft, die sich im höheren Maße in Abhängigkeit befindet und ihrem Beruf und ihrem Betriebe nach eine einseitige Stellung einnimmt, im größeren Umfange Richter genommen werden. Aus prinzipiellen Gründen müssen wir gegen diese Methode Einspruch erheben, obwohl wir manche guten Erfahrungen gemacht haben.

Ich wende mich zu einigen Beförderungen, die geeignet sind, böses Blut zu machen, und es auch bereits gemacht haben. Es handelt sich um einige Richter der 4. Strafkammer des Landgerichts I in Berlin. Der Landgerichtsdirektor Oppermann war in den weitesten Kreisen, und zwar nicht nur in der Anwaltschaft, sondern auch im Publikum, ein sehr unbeliebter Richter. Er war ein Richter, von dem man in der Tat der Überzeugung war, dass er seine Beute, den Angeklagten, mit Zähnen und Nägeln verteidigte und dass er nur dann, wenn er durch irgendwelche besonderen Umstände der Verteidigung geradezu überwältigt wurde, geneigt war, den Angeklagten freizusprechen. Durch die Art seiner Prozessleitung wurde eine solche persönliche Gehässigkeit in die Verhandlungen hineingetragen, dass sie stets nur in ein Gefühl der Empörung über eine derartige Rechtspflege ausklangen. Dieser Herr ist – Reichsgerichtsrat geworden und übt damit an höchstrichterlicher Stellung in einem Strafsenat einen ungemein maßgebenden Einfluss auf unsere Rechtspflege aus, nachdem er sich aus Anlass des bekannten Plötzenseeprozesses hier in Berlin unmöglich gemacht hatte. Ein anderer Richter dieser Kammer, der gleichfalls im höchsten Maße dem Misstrauen und der unfreundlichen Gesinnung weiter Kreise mit Rücksicht auf die Art seiner Amtsführung begegnet ist, der Landgerichtsrat Grabe, ist Kammergerichtsrat geworden, sitzt dort im Strafsenat und übt da nach meiner Überzeugung eine ebenfalls unheilvolle Tätigkeit aus. Der Landgerichtsrat Gohr war längere Zeit Untersuchungsrichter und sitzt gegenwärtig in einer Kammer, die bekannt ist wegen der ungemeinen Schärfe der Urteile, wegen der außerordentlichen Inhumanität in der Beurteilung der Angeklagten, in Bezug auf die Strafzumessung, in der Strafkammer 6 des Landgerichts I unter dem Vorsitz des Landgerichtsdirektors Goebel.

Nach alledem, meine Herren, ist wohl schon klar, dass von einer wirklichen Unabhängigkeit des Richterstandes, die wir im höchsten Maße gesichert wünschen, leider in Anbetracht des Beförderungswesens und tausend anderer Sachen keine Rede sein kann.

Dann haben Sie auch das Disziplinarverfahren. Meine Herren, unterliegt es denn dem geringsten Zweifel, dass man jeden Richter, der es wagen sollte, sozialdemokratische oder sonst oppositionelle Gesinnung energisch zum Ausdruck zu bringen, disziplinarisch fassen und maßregeln würde? Es ist ja von dem Herrn Justizminister im vergangenen Jahre in Bezug auf die Zulassung von Polen zum Richterstande die sehr kennzeichnende Bemerkung gemacht worden, dass sie allerdings zugelassen werden würden, aber immer nur unter der selbstverständlichen Voraussetzung, „dass diejenigen, die den Vorteil genießen wollen, auch die Pflichten, die damit verbunden sind, erfüllen", das heißt natürlich, dazu beitragen, den Staat zu stützen, in derselben Weise, wie Sie das bedauerlicherweise von allen Ihren Beamten, diesen Staatssklaven, verlangen. Meine Herren, wir sind der Auffassung, dass der Richterstand erst dann im Volke ein volles Vertrauen zu seiner Unabhängigkeit erwerben würde, wenn es möglich wäre, dass ein Richter auch als Sozialdemokrat auftreten könnte, wie das in der Schweiz, in Belgien, in Frankreich der Fall ist, und dass er dabei sein Richteramt ausüben könnte, ohne dass ihm irgendwelche Schwierigkeiten bereitet würden.

Dass auch das Hilfsrichtertum auf diesem Gebiet als eine Gefährdung der Unabhängigkeit zu erwähnen ist, ist wiederholt hervorgehoben worden. Es ist wohl bekannt, dass in der Hamburger Bürgerschaft vor wenigen Wochen eine eingehende Debatte darüber stattgefunden hat und dass die Bürgerschaft verständigerweise ihren alten ablehnenden Standpunkt gegenüber irgendwelchem Hilfsrichtertum wiederum durch ihren Beschluss bestätigt hat.12

Noch einen Vorgang will ich vermerken, der zeigt, wie es um die Unabhängigkeit der Richter von der Justizverwaltung besteht. Ich will gewiss dem Herrn Justizminister nicht die Absicht ansinnen, dass er in die Unabhängigkeit der Richter bewusst eingreifen möchte, und ich will nicht verkennen, dass das Gebiet, von dem ich eben spreche, außerhalb des Gebiets der Klassenjustiz liegt. Aber es liegt immer noch innerhalb eines Gebietes, das Sie im Interesse der Aufrechterhaltung der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung für wichtig halten: ich spreche von den Ehescheidungen. Ich halte es für sehr bedauerlich, dass der Herr Justizminister gemeint hat, befugt zu sein, an die Zivilgerichte eine Verfügung zu erlassen, dass sie – in einem Falle, wo sie hoch als urteilende Richter aufzutreten haben, also jeglicher Einwirkung der Verwaltung entzogen sein sollten, in höherem Maße als bisher von dem Versuch der Versöhnung, der Aussetzung des Verfahrens, Gebrauch machen sollten. Meine Herren, ich möchte lebhaft wünschen, dass diese Versuche, solche Anweisungen an die Richter erlassen, im Guten und im Bösen, unterbleiben. Selbst wenn solche Anweisungen in einem Sinne erfolgen sollten, der uns an und für sich sympathisch ist, müssten wir sie bedauern, weil sie erkauft würden durch den Verzicht auf das bei weitem Wichtigere: dass die Richter das Gefühl behalten, tatsächlich unabhängig gegenüber der Justizverwaltung zu sein, wenigstens soweit sie innerhalb der Rechtsprechung tätig sind.

Der Herr Abgeordnete Boehmer hat zur Frage der Unabhängigkeit des Richterstandes bemerkt, von oben sei diese Unabhängigkeit nicht bedroht, er wünsche aber, dass die Richter auch nicht um die Gunst der Massen buhlen möchten und sich als widerstandsfähig gegen die Bestrebungen der Massen erweisen. Meine Herren, das stellt zunächst einmal die Wahrheit auf den Kopf. Denn wenn die Unabhängigkeit irgendwo bedroht ist, so ist sie von oben bedroht, von außen, von Seiten der ökonomisch und sozial übermächtigen Klassen, aus denen sich der Richterstand rekrutiert und die in sozialem Konnex, mit dem Richterstande flehen; und, meine Herren, was den Einfluss der Massen auf den Richterstand in Preußen, in der preußischen Justiz anlangt, so könnte man wahrhaftig wie Diogenes die Laterne nehmen und nach irgendeiner Spur eines solchen Einflusses suchen. Meine Herren, ein etwaiges geringeres Verständnis der Justiz für die Bedürfnisse der modernen Entwicklung und für die Interessen des Proletariats genügt ja den Herren von der konservativen Partei der Regel nach bereits, um Feuer und Zetermordio zu schreien: die Justiz beginne hier in einer unzulässigen Weise um die Gunst der Massen zu buhlen. Meine Herren, Sie wünschen eben und das ist in dieser Ausführung des Herrn Dr. Boehmer einmal klar zum Ausdruck gebracht –, dass die Justiz in aufgeregten Seiten ein bequemes und noch bequemeres Werkzeug sein möge als gegenwärtig zur gewalttätigen Unterdrückung der Massen.

Meine Herren, dass ein preußischer Richterverband nach der Gesinnung, wie sie im preußischen Richterstand besteht, in Bezug auf seine soziale Unabhängigkeit der Regierung nicht unbequem werden wird, wie der Herr Justizminister zu seiner Freude konstatiert hat, glaube ich gern. Aber, meine Herren, wenn es ein Mittel gäbe, um die Justiz wirklich auf einen höheren Standpunkt zu heben und ihr einen größeren Einfluss zu sichern, so weiß ich dieses Mittel wohl, und dieses Mittel hat die Justiz sogar in ihrer eigenen Hand. Es handelt sich darum, dass insbesondere die preußische Justiz, aber leider auch die Reichsgerichtsjustiz mit ganz besonderem Nachdruck und ganz besonderer Vorsicht die Kompetenzen der Verwaltungsbehörden gegenüber der Justiz abgrenzen, und dass die Gerichte nur allzu