Wladimir I. Lenin: Rede und Schlusswort über den Frieden 8. November (26. Oktober) [I. „Iswestija" Nr. 208 und „Prawda" Nr. 171 9.-10. November (27.-28. Oktober) 1917; II. „Prawda" Nr. 171, 10. November (28. Oktober) 1917. Nach Sämtliche Werke, Band 22, Zürich 1934, S. 9-18] I. Rede über den Frieden Die Friedensfrage ist eine brennende Frage, eine akute Frage der Gegenwart, über diese Frage ist viel gesprochen und geschrieben worden, und ihr alle habt sie wahrscheinlich nicht wenig diskutiert. Gestattet mir deshalb, zum Verlesen der Deklaration überzugehen, die die von euch gewählte Regierung herausbringen muss. Dekret über den Frieden Die durch die Revolution vom 6.-7. November (24.–25. Oktober) geschaffene und sich auf die Arbeiter-, Soldaten- und Bauernräte stützende Arbeiter- und Bauernregierung schlägt allen kriegführenden Völkern und ihren Regierungen vor, unverzüglich Verhandlungen über einen gerechten demokratischen Frieden aufzunehmen. Ein gerechter oder demokratischer Frieden, nach dem die überwältigende Mehrheit der durch den Krieg erschöpften und gepeinigten Arbeiter und werktätigen Klassen aller kriegführenden Länder lechzt, ein Frieden, den die russischen Arbeiter und Bauern nach dem Sturz der zaristischen Monarchie aufs Antschiedenste und Hartnäckigste forderten – ein solcher Frieden ist nach Auffassung der Regierung ein sofortiger Frieden ohne Annexionen (d. h. ohne Eroberung fremden Gebietes, ohne gewaltsame Angliederung anderer Völker) und ohne Kontributionen. Die Regierung Russlands schlägt allen kriegführenden Völkern vor, unverzüglich einen solchen Frieden zu schließen, und erklärt sich bereit, ohne den geringsten Aufschub, sofort alle entschiedenen Schritte zu unternehmen, bis zur endgültigen Bestätigung aller Bedingungen für einen solchen Frieden durch die bevollmächtigten Volksvertretungen aller Länder und aller Nationen. Unter Annexion oder Eroberung fremder Gebiete versteht die Regierung entsprechend dem Rechtsbewusstsein der Demokratie im Allgemeinen und der werktätigen Klassen im Besonderen jede Angliederung einer kleinen oder schwachen Nation an einen großen oder mächtigen Staat, wenn diese Nation nicht klar, deutlich und freiwillig ihr Einverständnis und ihren Willen zum Ausdruck bringt, unabhängig davon, wann diese gewaltsame Angliederung erfolgte, ob die gewaltsam angegliederte oder gewaltsam innerhalb eines gegebenen Staates festgehaltene Nation eine fortgeschrittenere oder rückständigere Nation ist, und schließlich unabhängig davon, ob diese Nation in Europa oder in den fernen Überseeländern lebt. Wenn irgendeine Nation innerhalb eines gegebenen Staates gewaltsam festgehalten wird, wenn entgegen ihrem zum Ausdruck gebrachten Willen – einerlei, ob dieser Wille in der Presse, in Volksversammlungen, in Beschlüssen der Parteien oder Empörungen und Aufständen gegen die nationale Unterdrückung zum Ausdruck gekommen ist – ihr nicht das Recht eingeräumt wird, über die Form ihrer staatlichen Existenz durch freie Abstimmung zu entscheiden, bei völliger Evakuierung der Truppen der Nation, die die Angliederung durchführt, oder überhaupt der stärkeren Nation, ohne den geringsten Zwang, so ist die Angliederung dieser Nation eine Annexion, d. h. eine Eroberung und Vergewaltigung. Diesen Krieg fortzuführen, um die Frage zu entscheiden, wie die starken und reichen Nationen die von ihnen unterjochten schwachen Nationen untereinander aufteilen sollen, hält die Regierung für das größte Verbrechen gegen die Menschheit und erklärt feierlich, dass sie entschlossen ist, sofort Friedensbedingungen zu unterzeichnen, die diesem Krieg ein Ende machen unter den erwähnten, für alle Völker ohne Ausnahme in gleicher Weise gerechten Bedingungen. Gleichzeitig erklärt die Regierung, dass sie die oben erwähnten Friedensbedingungen keineswegs für ultimativ erachtet, d. h. damit einverstanden ist, auch alle anderen Friedensbedingungen zu prüfen, und lediglich darauf besteht, dass irgendein beliebiges kriegführendes Land möglichst rasch Friedensbedingungen anbiete, in ganz klarer Form, ohne die geringste Zweideutigkeit und Geheimdiplomatie. Die Regierung schafft die Geheimdiplomatie ab und erklärt, dass sie fest entschlossen ist, alle Verhandlungen ganz offen, vor allem Volke zu führen und sofort mit der Veröffentlichung aller Geheimverträge zu beginnen, die die Regierung der Gutsbesitzer und Kapitalisten vom Februar bis zum 7. November (25. Oktober) 1917 bestätigt oder abgeschlossen hat. Den ganzen Inhalt dieser Geheimverträge, insofern er –- wie das zumeist der Fall war – darauf gerichtet ist, den russischen Gutsbesitzern und Kapitalisten Vorteile und Privilegien zuzuschanzen, die Annexionen der Großrussen aufrechtzuerhalten oder zu vergrößern, erklärt die Regierung für aufgehoben, und zwar sofort und rückhaltlos. Indem die Regierung sich an die Regierungen und Völker aller Länder mit dem Vorschlag wendet, sofort offene Verhandlungen über den Abschluss eines Friedens aufzunehmen, erklärt sie sich bereit, diese Verhandlungen sowohl schriftlich, telegraphisch als auch durch Verhandlungen zwischen den Vertretern der verschiedenen Länder oder auf einer Konferenz solcher Vertreter zu führen. Zur Erleichterung solcher Verhandlungen ernennt die Regierung ihren bevollmächtigten Vertreter für die neutralen Staaten. Die Regierung schlägt allen Regierungen und Völkern aller kriegführenden Länder vor, sofort einen Waffenstillstand zu schließen, und zwar hält sie es für wünschenswert, dass dieser Waffenstillstand auf eine Frist von nicht weniger als drei Monaten geschlossen werde, auf eine Frist, innerhalb der es durchaus möglich ist, sowohl die Friedensverhandlungen unter Teilnahme der Vertreter aller Völker oder Nationen, die in den Krieg verwickelt oder zur Teilnahme am Kriege gezwungen wurden, abzuschließen, als auch die bevollmächtigten Volksvertretungen aller Länder zur endgültigen Bestätigung der Friedensbedingungen einzuberufen. Indem die Provisorische Arbeiter- und Bauernregierung Russlands dieses Friedensangebot an die Regierungen und Völker aller kriegführenden Länder richtet, wendet sie sich insbesondere auch an die klassenbewussten Arbeiter der drei fortgeschrittensten Nationen der Menschheit und der größten an diesem Kriege beteiligten Staaten: an die klassenbewussten Arbeiter Englands, Frankreichs und Deutschlands. Die Arbeiter dieser Länder haben der Sache des Fortschritts und des Sozialismus die größten Dienste erwiesen: die großen Vorbilder der chartistischen Bewegung in England, einer Reihe von Revolutionen von welthistorischer Bedeutung, die das französische Proletariat vollbracht hat, und schließlich der heroische Kampf gegen das Sozialistengesetz und die für die Arbeiter der ganzen Welt vorbildliche, langwierige, hartnäckige, disziplinierte Arbeit der Schaffung von proletarischen Massenorganisationen in Deutschland. Alle diese Vorbilder proletarischen Heldenmuts und geschichtlichen Schöpfertums sind uns eine Bürgschaft dafür, dass die Arbeiter dieser Länder die ihnen jetzt gestellte Aufgabe der Befreiung der Menschheit von den Schrecken des Krieges und seinen Folgen begreifen werden; denn diese Arbeiter werden durch ihre allseitige, entschiedene, angespannteste Tätigkeit uns helfen, die Sache des Friedens und damit zugleich die Sache der Befreiung der werktätigen und ausgebeuteten Massen der Bevölkerung von jeder Knechtschaft und Ausbeutung zu Ende zu führen. ★ Die durch die Revolution vom 6.–7. November (24.–25. Oktober) geschaffene und sich auf die Arbeiter-, Soldaten- und Bauernräte stützende Arbeiter- und Bauernregierung muss unverzüglich Friedensverhandlungen aufnehmen, Wir müssen uns sowohl an die Regierungen als auch an die Völker wenden. Wir können die Regierungen nicht ignorieren, denn sonst würde die Möglichkeit des Friedensschlusses hinausgeschoben werden. Eine Volksregierung darf so etwas nicht tun. Wir haben aber die unbedingte Pflicht, uns gleichzeitig auch an die Völker zu wenden. Überall besteht ein Gegensatz zwischen Regierungen und Völkern, und deshalb müssen wir den Völkern helfen, in die Fragen des Krieges und Friedens einzugreifen. Wir werden natürlich unser ganzes Programm eines Friedens ohne Annexionen und Kontributionen mit aller Energie verteidigen. Wir werden von unserem Programm nicht abgehen, aber wir müssen es unseren Feinden unmöglich machen, zu sagen, ihre Bedingungen seien andere, und deshalb sei es zwecklos, mit uns Verhandlungen aufzunehmen. Nein, wir müssen ihnen diesen Trumpf aus den Händen schlagen und dürfen unsere Bedingungen nicht ultimativ stellen. Deshalb haben wir auch den Satz mit aufgenommen, dass wir alle Friedensbedingungen, alle Vorschläge prüfen werden. Prüfen heißt noch nicht annehmen. Wir werden sie der Konstituante zur Beratung vorlegen, die bereits befugt sein wird, zu entscheiden, wo man nachgeben kann und wo nicht. Wir kämpfen gegen den Betrug der Regierungen, die alle von Frieden und Gerechtigkeit reden, aber in Wirklichkeit räuberische Eroberungskriege führen. Keine einzige Regierung spricht alles aus, was sie denkt. Wir aber sind gegen die Geheimdiplomatie und werden offen vor dem ganzen Volke handeln. Wir schließen nicht die Augen vor den Schwierigkeiten und haben das auch nicht getan. Der Krieg kann nicht durch einen Verzicht, auch nicht durch eine Partei beendet werden. Wir schlagen einen Waffenstillstand auf drei Monate vor, lehnen aber auch eine kürzere Frist nicht ab, damit die erschöpfte Armee wenigstens für einige Zeit aufatmen könne. Außerdem müssen in allen Kulturländern die Volksvertretungen einberufen werden, um die Bedingungen zu beraten. Indem wir vorschlagen, unverzüglich einen Waffenstillstand zu schließen, wenden wir uns an die klassenbewussten Arbeiter der Länder, die viel für die Entwicklung der proletarischen Bewegung getan haben. Wir wenden uns an die Arbeiter Englands, wo es eine Chartistenbewegung gegeben hat, an die Arbeiter Frankreichs, die wiederholt die ganze Stärke ihres Klassenbewusstseins in Aufständen bewiesen haben, an die Arbeiter Deutschlands, die den Kampf gegen das Sozialistengesetz durchgefochten und mächtige Organisationen geschaffen haben. In dem Manifest vom 27. (14.) März forderten wir auf, die Bankiers zu stürzen, stürzten aber damals nicht unsere eigenen Bankiers, sondern schlossen sogar ein Bündnis mit ihnen. Jetzt haben wir die Regierung der Bankiers gestürzt. Die Regierung und die Bourgeoisie werden alle Anstrengungen machen, um sich zusammenzuschließen und die Arbeiter- und Bauernrevolution im Blute zu ersticken. Aber die drei Jahre Krieg haben den Massen genug beigebracht. Wir sehen eine Rätebewegung auch in anderen Ländern, den Aufstand in der deutschen Flotte, der von den Junkern des Henkers Wilhelm unterdrückt wurde1. Und schließlich dürfen wir nicht vergessen, dass wir nicht im tiefen Afrika leben, sondern in Europa, wo alles schnell bekannt wird. Die Arbeiterbewegung wird die Oberhand gewinnen und dem Frieden und dem Sozialismus den Weg bahnen. II. Schlusswort zur Rede über den Frieden Ich will nicht über den allgemeinen Charakter der Deklaration sprechen. Die Regierung, die euer Kongress einsetzen wird, wird Änderungen in unwesentlichen Punkten vornehmen können. Ich bin entschieden dagegen, dass unsere Friedensforderung ultimativen Charakter trage. Das kann für unsere ganze Sache verhängnisvoll werden. Wir können nicht zulassen, dass irgendeine unwesentliche Abweichung von unseren Forderungen den imperialistischen Regierungen die Möglichkeit gebe, zu sagen, dass sie wegen unserer Unversöhnlichkeit keine Friedensverhandlungen mit uns aufnehmen konnten. Wir werden unseren Aufruf überall verbreiten, alle werden von ihm erfahren. Es wird nicht möglich sein, die von unserer Arbeiter- und Bauernregierung aufgestellten Bedingungen zu verheimlichen. Man kann unsere Arbeiter- und Bauernrevolution, die die Regierung der Bankiers und Gutsbesitzer gestürzt hat, nicht verheimlichen. Stellen wir unsere Forderungen ultimativ, so haben die Regierungen die Möglichkeit, darauf nicht zu antworten. Auf die Forderungen in unserer Fassung müssen sie antworten. Möge jeder wissen, was seine Regierung denkt. Wir wollen keine Geheimdiplomatie. Wir wollen, dass die Regierung stets unter Kontrolle der öffentlichen Meinung ihres Landes stehe. Was wird der Bauer irgendeines abgelegenen Gouvernements sagen, wenn er wegen unserer Konspiration nicht wissen wird, was eine andere Regierung will. Er wird sagen: Genossen, weshalb habt ihr es unmöglich gemacht, dass auch andere Friedensbedingungen angeboten werden? Ich hätte sie diskutiert, geprüft und dann meinen Vertretern in der Konstituante Anweisungen erteilt, wie sie sich zu verhalten haben. Ich bin bereit, einen revolutionären Kampf für gerechte Bedingungen zu führen, wenn die Regierungen sich nicht einverstanden erklären werden. Es können allerdings für einige Länder Bedingungen entstehen, unter denen ich bereit wäre, diesen Regierungen zu empfehlen, den Kampf selbst fortzusetzen. Die völlige Verwirklichung unserer Ideen hängt nur von dem Sturz der gesamten kapitalistischen Ordnung ab. Das kann uns der Bauer entgegenhalten. Er wird uns allzu große Unnachgiebigkeit in Kleinigkeiten vorwerfen, in einem Augenblick, wo für uns die Aufdeckung der ganzen Gemeinheit, der ganzen Niedertracht der Bourgeoisie und ihrer gekrönten und ungekrönten Henker, die an der Spitze der Regierungen stehen, die Hauptsache ist. Wir dürfen den Regierungen auf keinen Fall die Möglichkeit geben, sich hinter unserer Unnachgiebigkeit zu verstecken und den Völkern zu verheimlichen, wofür sie zur Schlachtbank geführt werden. Das ist nur ein Tropfen, aber wir dürfen auch auf diesen Tropfen nicht verzichten, der den Stein der kapitalistischen Eroberungspolitik höhlt. Ultimative Forderungen werden unseren Gegnern die Situation erleichtern. Wir aber werden alle Bedingungen dem Volke zeigen. Wir werden allen Regierungen unsere Bedingungen stellen. Mögen sie ihren Völkern Rede und Antwort stehen. Wir werden alle Friedensbedingungen der Konstituante zur Prüfung übergeben;, Genossen, es gibt noch eine Frage, der ihr größte Aufmerksamkeit zuwenden müsst. Die Geheimverträge müssen veröffentlicht werden. Die Punkte über Annexionen und Kontributionen müssen annulliert werden. Es gibt da verschiedene Punkte, Genossen, denn die räuberischen Regierungen haben nicht nur über Räubereien Abkommen getroffen, sondern neben solchen Abkommen auch wirtschaftliche Abmachungen getroffen und verschiedene andere Punkte über freundnachbarliahe Beziehungen festgelegt. Wir wollen uns nicht durch Verträge binden. Wir werden uns nicht durch Verträge einwickeln lassen. Wir lehnen alle Punkte über Raub und Vergewaltigung ab, aber alle Punkte über freundnachbarliche Beziehungen und wirtschaftliche Abkommen werden wir freudig annehmen. Diese Punkte können wir nicht ablehnen. Wir schlagen einen Waffenstillstand von drei Monaten vor. Wir wählen eine längere Frist, weil die Völker erschöpft sind, weil sie nach Erholung von diesem blutigen Kriegsgemetzel lechzen, das über drei Jahre andauert. Wir müssen verstehen, dass die Völker die Friedensbedingungen beraten, ihren Willen zum Ausdruck bringen müssen, unter Teilnahme des Parlaments. Dazu bedarf es aber einer bestimmten Frist. Wir fordern einen längeren Waffenstillstand, damit die Armee in den Schützengräben sich von diesem Entsetzen des ewigen Mordens erholen könne, aber wir sind auch nicht gegen Vorschläge eines kürzeren Waffenstillstands; wir werden sie prüfen und annehmen müssen, sogar wenn man uns einen Waffenstillstand von einem oder anderthalb Monaten anbieten wird. Unser Waffenstillstandsangebot darf ebenfalls keinen ultimativen Charakter tragen, denn wir werden unseren Feinden nicht die Möglichkeit geben, den Völkern die ganze Wahrheit zu verheimlichen und sich hinter unserer Unversöhnlichkeit zu verstecken. Unser Angebot darf nicht ultimativ sein, denn verbrecherisch würde die Regierung handeln, die keinen Waffenstillstand wünschte. Wenn wir unserem Waffenstillstandsangebot keinen ultimativen Charakter geben, so werden dadurch die Regierungen vor den Augen des Volkes zu Verbrechern, mit solchen Verbrechern aber werden die Völker nicht viel Umstände machen. Man wendet dagegen ein, dass nicht-ultimative Forderungen unsere Schwäche offenbaren würden. Es ist aber Zeit, mit all den verlogenen bürgerlichen Redensarten von der Stärke des Volkes ein Ende zu machen. Nach den Vorstellungen der Bourgeoisie ist man dann stark, wenn die Massen blindlings zur Schlachtbank gehen und den Befehlen der imperialistischen Regierungen Folge leisten. Die Bourgeoisie hält nur dann einen Staat für stark, wenn er mit der ganzen Macht des Regierungsapparates die Massen dorthin zu dirigieren vermag, wohin es die bürgerlichen Machthaber wünschen. Unser Begriff von Stärke ist ein anderer. Nach unserer Auffassung ist es das Bewusstsein der Massen, das den Staat stark macht. Er ist stark, wenn die Massen alles wissen, über alles urteilen können und alles bewusst tun. Wir brauchen uns nicht davor zu fürchten, die Wahrheit über die Erschöpfung zu sagen, denn welcher Staat ist jetzt nicht erschöpft, welches Volk spricht nicht offen darüber? Nehmt Italien, wo sich infolge dieser Erschöpfung eine langwierige revolutionäre Bewegung entwickelte, die die Beendigung des Gemetzels forderte. Sehen wir nicht in Deutschland Massendemonstrationen der Arbeiter, in denen die Losungen der Beendigung des Krieges ausgegeben werden? Ist etwa nicht die Erschöpfung die Ursache jener Erhebung in der deutschen Flotte, die der Henker Wilhelm und seine Handlanger so erbarmungslos unterdrückt haben? Wenn solche Erscheinungen in einem so disziplinierten Lande wie Deutschland möglich sind, wo man von Erschöpfung, von Beendigung des Krieges zu reden anfängt, so brauchen wir keine Angst davor zu haben, ebenfalls offen darüber zu reden; denn das ist die Wahrheit, die sowohl für uns als auch für alle kriegführenden, ja sogar für die am Kriege nicht beteiligten Länder, in gleicher Weise wahr bleibt. 1 Lenin meint die Aktionen der Matrosen in Wilhelmshaven vom Juli bis August 1917. Die Bewegung wurde von einem Matrosenrat auf dem Kriegsschiff „Friedrich der Große" geleitet. Die Matrosenorganisation soll nach Mitteilungen von Teilnehmern 5-10.000 Mann stark gewesen sein. Die Führer der Bewegung, die zur Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei gehörten, versuchten die Aufgaben der Matrosenorganisation auf den Kampf für die Friedenslosungen der geplanten Stockholmer Konferenz zu beschränken. Das Mittel zur Durchsetzung dieser Forderungen sollte ein Flottenstreik sein. Die Bewegung durchbrach diesen Rahmen und nahm spontan einen revolutionäreren Charakter an. Auf den Kriegsschiffen „Prinzregent Luitpold" und „Pillau" wurde ein Hungerstreik durchgeführt, und nach der Einstellung des Hungerstreiks verließen 400 Matrosen demonstrativ das Schiff. Die Bewegung wurde rasch und grausam unterdrückt. Das Kriegsgericht verurteilte die Führer zum Tode und zu langen Zuchthausstrafen. Diese Vorgänge in der deutschen Flotte wurden bekannt auf Grund von Mitteilungen im Deutschen Reichstag im September 1917. |