Wladimir I. Lenin: Rede über den Krieg am 22. (9.) Juni 1917 (Erster allrussischer Rätekongress, 16. (3.) Juni–6. Juli (23. Juni) 1917)1 [„Prawda" Nr. 95, 96 u. 97, 13. Juli (30. Juni), 14. (1.) und 15. (2.) Juli 1917. Nach Lenin, Sämtliche Werke, Band 20.2, Wien-Berlin 1928, S. 127-143] Genossen! Gestattet mir, als Einleitung zur Analyse der Kriegsfrage zwei Stellen aus dem vom Petrograder Rat der Arbeiter- und Soldatendeputierten am 14. März erlassenen Aufruf2 an alle Völker anzuführen: „… dass die Zeit gekommen ist," – heißt es in diesem Aufruf – „gegen die Eroberungsbestrebungen der Regierungen aller Länder den entschiedenen Kampf zu beginnen. Es ist an der Zeit, dass die Völker die Entscheidung der Frage über Krieg und Frieden in ihre eigenen Hände nehmen." An einer anderen Stelle des Aufrufs, gerichtet an die Proletarier der österreichisch-deutschen Koalition, heißt es: „Weigert euch, als Werkzeug der Eroberung und der Vergewaltigung in den Händen der Könige, der Junker und der Bankiers zu dienen." Das sind zwei Stellen, die in verschiedenen Fassungen in Dutzenden, in Hunderten, ich glaube sogar, in Tausenden von Resolutionen der Arbeiter und Bauern Russlands wiederkehren. Diese beiden Stellen zeigen meiner Überzeugung nach am besten die widerspruchsvolle, unhaltbare, verworrene Lage, in welche dank der jetzigen Politik der Menschewiki und der Narodniki die revolutionären Arbeiter und Bauern geraten sind. Einerseits sind sie für die Unterstützung des Krieges, andererseits gehören sie zu den Vertretern der Klassen, die an den Eroberungsbestrebungen der Regierungen aller Länder nicht interessiert sind, und sie können nicht umhin, das auszusprechen. Diese Psychologie und Ideologie, so unklar sie auch sein mag, ist in den Arbeitern und Bauern ungewöhnlich tief verwurzelt. Es ist das Bewusstsein, dass der Krieg geführt wird um der Eroberungsbestrebungen der Regierungen aller Länder willen. Daneben aber sehen wir ein höchst unklares Erkennen oder sogar die Verkennung der Tatsache, dass eine Regierung, welche Form sie auch haben mag, die Interessen bestimmter Klassen zum Ausdruck bringt, dass darum die Gegenüberstellung von Regierung und Volk, wie dies in dem ersten von mir angeführten Zitat geschieht, die größte theoretische Konfusion, die größte politische Hilflosigkeit ist; dies heißt, sich selbst und seine ganze Politik zu einer höchst unsicheren, schwankenden Einstellung und Haltung verurteilen. Und genau so verhält es sich mit den Schlussworten der zweiten Stelle, die ich vorgelesen habe. Es ist eine vortreffliche Wendung: „Weigert euch, als Werkzeuge der Eroberung und der Vergewaltigung in den Händen der Könige, der Junker und der Bankiers zu dienen"; das ist herrlich, nur fehlen hier die Worte: „auch der eigenen", denn wenn ihr, russische Arbeiter und Bauern, euch an die Arbeiter und Bauern Österreichs und Deutschlands wendet, deren Regierungen und herrschende Klassen einen ebensolchen mörderischen und räuberischen Krieg führen, wie die russischen Kapitalisten und Bankiers, wie die englischen und die französischen, wenn ihr erklärt, „weigert euch, als Werkzeuge in den Händen eurer Bankiers zu dienen", während ihr die eigenen Bankiers ins Ministerium schickt und mit den sozialistischen Ministern zusammensetzt, so macht ihr alle eure Aufrufe zunichte, so widerlegt ihr in Wirklichkeit eure ganze Politik. In Wirklichkeit ist nichts zu merken von euren vortrefflichen Bestrebungen und Wünschen, denn ihr tragt dazu bei, dass Russland denselben imperialistischen Krieg, denselben Eroberungskrieg weiterführt. Ihr geratet in Widerspruch zu den Massen, die ihr vertretet, denn diese Massen werden sich nie auf den Standpunkt der Kapitalisten stellen, den Miljukow, Maklakow und andere offen zum Ausdruck bringen, die sagen: „Es gibt keinen verbrecherischeren Gedanken, als den, dass der Krieg im Interesse des Kapitals geführt werde." Ich weiß nicht, ob dieser Gedanke verbrecherisch ist, ich zweifle nicht, dass er vom Standpunkt derjenigen, die heute halb existieren und morgen vielleicht nicht mehr existieren werden, verbrecherisch ist, aber er ist der einzig richtige Gedanke. Er allein bringt unsere Auffassung dieses Krieges zum Ausdruck; er allein bringt die Interessen der unterdrückten Klassen, den Kampf gegen die Unterdrücker zum Ausdruck. Und wenn wir sagen, dass der Krieg ein kapitalistischer Krieg, ein Eroberungskrieg ist, dass man sich keine Illusionen machen darf, so will das keineswegs besagen, dass die Verbrechen einzelner Personen, einzelner Könige einen solchen Krieg hervorrufen konnten. Der Imperialismus ist eine bestimmte Entwicklungsstufe des Weltkapitals. Der Kapitalismus ist, nach jahrzehntelanger Vorbereitung, schließlich an einem Punkt angelangt, wo eine kleine Gruppe ungeheuer reicher Länder – es sind ihrer nicht mehr als vier: England, Frankreich, Deutschland und Amerika – so ungeheure Reichtümer, die sich auf Hunderte von Milliarden belaufen, angehäuft, eine solche Macht in den Händen der Großbanken und Großkapitalisten konzentriert hat – ein halbes Dutzend höchstens in jedem dieser Länder –, eine so ungeheure Macht, dass sie die ganze Welt umspannen, den ganzen Erdball in territorialem, in kolonialem Sinne buchstäblich aufteilen konnte. In allen Ländern der Erdkugel stießen die Kolonien dieser Mächte aneinander. Diese Staaten haben auch ökonomisch die Welt unter sich aufgeteilt, denn es gibt kein Stückchen Erde auf dem Erdball, wo die Konzessionen, die Fäden des Finanzkapitals nicht eingedrungen wären. Hier liegen die Grundlagen der Annexionen. Die Annexionen sind nichts Ausgeklügeltes, sie sind nicht darum entstanden, weil die Menschen aus Freunden der Freiheit plötzlich zu Reaktionären geworden sind. Die Annexionen sind nichts anderes als der politische Ausdruck und die politische Form jener Herrschaft der Riesenbanken, die sich aus dem Kapitalismus unvermeidlich, und nicht durch irgend wessen Schuld, ergeben hat, denn die Aktien sind die Grundlage der Banken, die Anhäufung der Aktien aber ist die Grundlage des Imperialismus. Die Großbanken, die durch Hunderte Milliarden von Kapital die ganze Welt beherrschen, die ganze Industriezweige durch die Verbände der Kapitalisten und Monopolisten vereinigen, das ist der Imperialismus, der die ganze Welt in drei Gruppen ungeheuer reicher Räuber gespalten hat! An der Spitze der einen, der ersten Gruppe, die uns in Europa näher ist, steht England, an der Spitze der beiden anderen Deutschland und Amerika, die übrigen sind, solange die kapitalistischen Verhältnisse bestehen, gezwungen, als Helfershelfer mitzugehen. Wenn ihr euch also über das Wesen der Dinge klar werdet, das jeder unterdrückte Mensch instinktiv fühlt, das die übergroße Mehrheit der russischen Arbeiter und Bauern instinktiv erkennt, wenn ihr euch darüber klar werdet, so werdet ihr begreifen, wie lächerlich der Gedanke eines Kampfes gegen den Krieg mit Worten, Manifesten, Proklamationen, sozialistischen Kongressen ist. Er ist deshalb lächerlich, weil, soviel Erklärungen ihr auch abgeben, soviel politische Umwälzungen ihr auch durchführen mögt, die Banken allmächtig bleiben, selbst wenn ihr Nikolaus Romanow in Russland gestürzt habt. Russland hat einen Riesenschritt vorwärts getan, hat vielleicht mit einem Sprung Frankreich fast eingeholt, das, unter anderen Bedingungen, den gleichen Weg in hundert Jahren zurückgelegt hat, aber es ist ein kapitalistisches Land geblieben. Die Kapitalisten bleiben nach wie vor. Wenn sie etwas kleinlauter geworden sind, so waren sie das ja auch im Jahre 1905. aber hat denn ihnen das Abbruch getan? Wenn das für die Russen etwas Neues ist, so hat jede Revolution in Europa gezeigt, dass die Arbeiter bei jedem Aufschwung der revolutionären Welle etwas mehr erreichen, dass aber die Macht der Kapitalisten eben doch die Macht bleibt. Der Kampf gegen den imperialistischen Krieg ist nur möglich als Kampf der revolutionären Klassen gegen die herrschenden Klassen im Weltmaßstabe. Es sind nicht die Grundherren, obwohl es in Russland Grundherren gibt und sie in Russland eine größere Rolle spielen ab in irgendeinem anderen Lande, die den Imperialismus geschaffen haben. Es ist die Kapitalistenklasse, an deren Spitze die größten Finanzmagnaten und Banken stehen, und solange diese Klasse, die über die unterdrückten Proletarier herrscht, nicht gestürzt ist, gibt es auch keinen Ausweg aus diesem Krieg. Die Illusion, dass die Werktätigen aller Länder durch Flugblätter und Aufrufe an die anderen Völker vereinigt werden könnten, kann man nur nähren vom beschränkten russischen Standpunkt aus, der nicht weiß, wie die Presse in Westeuropa, wo die Arbeiter und Bauern an politische Umwälzungen gewöhnt sind, sie zu Dutzenden gesehen haben, solche Redensarten und Aufrufe auslacht. In Europa weiß man nicht, dass in Russland sich tatsächlich die Masse der Arbeiter erhoben hat, die die Annexionsbestrebungen der Kapitalisten aller Länder aufrichtig verurteilen, die an die Befreiung der Völker von den Bankiers ehrlich glauben und sie wünschen. Aber sie, die Europäer, verstehen nicht, warum ihr, die ihr solche Organisationen habt, wie sie kein Volk in der Welt hat – die Räte der Arbeiter-, Bauern- und Soldatendeputierten – warum ihr, die ihr eine solche Waffe in Händen habt, eure Sozialisten als Minister in die Regierung schickt. Ihr liefert trotzdem die Macht diesen Bankiers aus. Im Auslande beschuldigt man euch nicht nur der Naivität, das wäre noch nichts, sondern auch der Heuchelei: die Europäer haben verlernt, Naivität in der Politik zu verstehen, sie haben verlernt zu verstehen, dass es in Russland Dutzende Millionen von Menschen gibt, die eben erst zum Leben erwachen, dass man in Russland nicht weiß, welcher Zusammenhang zwischen den Klassen und der Regierung, welcher Zusammenhang zwischen der Regierung und dem Krieg besteht. Der Krieg ist die Fortsetzung der bürgerlichen Politik und nichts weiter. Die herrschende Klasse bestimmt die Politik auch im Kriege. Der Krieg ist durch und durch Politik, er ist die Fortsetzung der Verwirklichung der gleichen Ziele durch dieselben Klassen auf anderem Wege. Wenn ihr also in euren Aufrufen der Arbeiter und Bauern schreibt: „Stürzt eure Bankiers" – so wird euch jeder klassenbewusste Arbeiter in Europa entweder auslachen oder er wird bitterlich weinen und sich sagen: „Was können wir tun, wenn sie dort einen halbwilden Idioten und eine Bestie von Monarchen gestürzt haben, die wir bei uns längst zum Teufel gejagt haben – darin besteht unser ganzes Verbrechen –, und jetzt mit ihren „scheinsozialistischen" Ministern die russischen Bankiers unterstützen!?" Die Bankiers bleiben an der Macht, verfolgen ihre Außenpolitik durch den imperialistischen Krieg, indem sie die Verträge, die Nikolaus II. für Russland abgeschlossen hat, vollständig aufrechterhalten. Bei uns tritt das besonders klar hervor. Die Grundlagen der russischen imperialistischen Außenpolitik sind nicht jetzt festgelegt worden, sondern durch die frühere Regierung, mit Nikolaus Romanow, den wir gestürzt haben, an der Spitze. Diese Verträge hat er abgeschlossen, man hält sie geheim, die Kapitalisten können sie nicht veröffentlichen, weil sie Kapitalisten sind. Aber kein einziger Arbeiter oder Bauer kann diesen Wirrwarr verstehen, weil er sich sagt: wenn wir auffordern, die Kapitalisten in den anderen Ländern zu stürzen, so müssen wir vor allem unsere eigenen Bankiers zum Teufel jagen, sonst wird uns niemand Glauben schenken und niemand wird uns ernst nehmen, man wird von uns sagen: ihr seid naive russische Wildlinge, die Worte schreiben, welche an und für sich vortrefflich sind, aber keinen praktischen Inhalt haben; oder man wird vielleicht noch Schlimmeres von uns denken und uns für Heuchler halten. Solche Äußerungen könntet ihr tatsächlich in der Auslandspresse finden, wenn die ausländischen Zeitungen aller Richtungen frei über die Grenze gelassen und nicht in Torneo von den englischen und französischen Behörden zurückgehalten würden. Eine einzige Auslese von Zitaten aus den ausländischen Zeitungen würde euch davon überzeugen, in welch einen schreienden Widerspruch ihr geratet, wie unglaublich lächerlich und falsch der Gedanke des Kampfes gegen den Krieg durch sozialistische Konferenzen, durch Vereinbarungen mit Sozialisten auf Kongressen ist. Wenn der Imperialismus die Schuld oder das Verbrechen einzelner Personen wäre, dann wäre mit dem Sozialismus nichts anzufangen. Der Imperialismus ist die letzte Entwicklungsstufe des Kapitalismus, auf der bereits die ganze Welt in Stücke geteilt ist und wo zwei Riesengruppen in einem Kampf auf Leben und Tod miteinander ringen. Entweder man dient der einen oder der anderen dieser Gruppen, oder man muss diese beiden Gruppen stürzen, irgendeinen anderen Weg gibt es nicht! Wenn ihr gegen den Sonderfrieden anführt, ihr möchtet nicht dem deutschen Imperialismus dienen, so ist das vollkommen richtig, deswegen sind ja auch wir gegen einen Sonderfrieden. Aber faktisch dient ihr nach wie vor, ohne es zu wollen, dem englisch-französischen Imperialismus mit denselben räuberischen Annexionsbestrebungen, wie sie auch von den russischen Kapitalisten mit Hilfe von Nikolaus Romanow in Verträgen festgelegt worden sind. Wir kennen den Wortlaut dieser Verträge nicht, aber jeder, der die politische Literatur verfolgt hat, der auch nur in einem Buch über Wirtschaft und Diplomatie geblättert hat, kennt den Inhalt dieser Verträge. Auch Miljukow hat, soweit ich mich erinnere, in seinen Büchern über diese Verträge und Versprechungen geschrieben, dass sie Galizien, die Meerengen, Armenien rauben, die alten Annexionen aufrechterhalten und eine Menge neuer vornehmen werden. Das wissen alle, die Verträge aber werden weiterhin verheimlicht, und uns sagt man: wenn ihr sie aufhebt, so bedeutet das den Bruch mit den Verbündeten. Zur Frage des Separatfriedens habe ich bereits gesagt, dass ein Separatfrieden für uns nicht in Frage kommt, und auf Grund der Resolution unserer Partei kann auch nicht der geringste Zweifel darüber bestehen, dass wir ihn ablehnen, wie jede Verständigung mit den Kapitalisten. Für uns wäre der Sonderfriede eine Verständigung mit den deutschen Räubern, weil sie genau so Raubpolitik treiben, wie die anderen. Aber ein ebensolcher Sonderfriede ist auch die Verständigung mit dem russischen Kapital in der russischen Provisorischen Regierung. Die zaristischen Verträge sind geblieben, auch sie dienen dem Raub und der Erdrosselung anderer Völker. Wenn man sagt: „Frieden ohne Annexionen und Kontributionen", wie dies jeder russische Arbeiter und Bauer sagen muss, weil das Leben ihn so lehrt, weil er an den Bankprofiten nicht interessiert ist, weil er leben will, – so antworte ich, dass die Führer des jetzigen Rates der Arbeiter- und Soldatendeputierten aus den Parteien der Narodniki und Menschewiki, was diese Losung anbetrifft, in Verwirrung geraten sind. In ihren „Iswestija" sagten sie, dies bedeute den Status quo, d. h. den Vorkriegszustand: Rückkehr zu dem, was vor dem Kriege da war. Ist das etwa kein kapitalistischer Friede? Und was für ein kapitalistischer Friede! Wenn ihr eine solche Losung aufstellt, so solltet ihr wissen, dass der Gang der Ereignisse eure Parteien an die Macht bringen kann. Während der Revolution ist das möglich. Ihr werdet das tun müssen, wovon ihr redet; wenn ihr nun jetzt einen Frieden ohne Annexionen vorschlagt, werden die Deutschen ihn annehmen, die Engländer aber nicht, weil die englischen Kapitalisten keinen Fußbreit Boden verloren, sondern an allen Ecken und Enden der Welt geraubt haben. Die Deutschen haben viel zusammengeraubt, aber auch viel verloren, und nicht nur viel verloren, sie stehen auch der Intervention Amerikas, dieses mächtigsten Gegners, gegenüber. Wenn ihr, die ihr einen Frieden ohne Annexionen vorschlagt, darunter den Status quo versteht, so gelangt ihr dahin, dass aus eurem Vorschlag ein Separatfriede mit den Kapitalisten wird, denn wenn ihr diesen Vorschlag macht, werden die deutschen Kapitalisten, die Amerika und Italien vor sich sehen, mit denen sie früher Verträge geschlossen haben, sagen: „Ja, wir nehmen diesen Frieden ohne Annexionen an; er ist für uns keine Niederlage, für uns ist er ein Sieg gegen Amerika und Italien." Ihr kommt objektiv zu jenem Separatfrieden mit den Kapitalisten, den ihr uns zum Vorwurf macht, weil ihr in eurer Politik, in euren Handlungen, in euren praktischen Schritten nicht grundsätzlich mit den Bankiers brecht, die die Wortführer der imperialistischen Herrschaft in der ganzen Welt sind und die ihr und eure „sozialistischen" Minister in der Provisorischen Regierung unterstützt. Damit schafft ihr für euch jene widerspruchsvolle und schwankende Lage, in der die Massen euch nicht verstehen. Die an Annexionen nicht interessierten Massen sagen: „Wir wollen nicht um irgendwelcher Kapitalisten willen Krieg führen." Wenn man uns sagt, dass einer solchen Politik durch Kongresse und Abmachungen zwischen den Sozialisten aller Länder ein Ende bereitet werden könne, so erklären wir: „Dies wäre wohl möglich, wenn der Imperialismus das Werk einzelner Verbrecher wäre; aber der Imperialismus ist die Entwicklung des Weltkapitalismus, mit der die Arbeiterbewegung zusammenhängt." Der Sieg des Imperialismus ist der Beginn der unvermeidlichen, in allen Ländern unausbleiblichen Spaltung der Sozialisten in zwei Lager. Wer jetzt noch weiterhin von den Sozialisten als von einem Ganzen spricht, als von etwas, das ein Ganzes sein kann, der betrügt sich selbst und die anderen. Der ganze Verlauf des Krieges, die ganzen zweieinhalb Jahre Krieg riefen diese Spaltung hervor, seitdem das einstimmig angenommene Baseler Manifest ausgesprochen hat, dass es sich um einen Krieg auf dem Boden des imperialistischen Kapitalismus handle. Im Baseler Manifest ist kein Wort von „Vaterlandsverteidigung" zu finden. Man konnte vor dem Kriege kein anderes Manifest schreiben, wie auch jetzt kein Sozialist vorschlagen wird, ein Manifest über die „Vaterlandsverteidigung" in einem Kriege zwischen Japan und Amerika zu schreiben, wo es nicht um die eigene Haut geht, wo es sich nicht um die eigenen Kapitalisten und die eigenen Minister handelt. Versucht doch einmal und schreibt eine Resolution für die internationalen Kongresse! Ihr wisst, dass der Krieg zwischen Japan und Amerika eine ausgemachte Sache ist, er ist durch Jahrzehnte vorbereitet, er ist keine Zufälligkeit, die Taktik hängt nicht davon ab, wer den ersten Schuss abfeuert. Das ist lächerlich! Ihr wisst sehr gut, dass der japanische und der amerikanische Kapitalismus den gleichen räuberischen Charakter tragen. Man wird auf beiden Seiten von „Vaterlandsverteidigung" sprechen; das wird entweder verbrecherisch sein oder eine furchtbare Schwäche, hervorgerufen durch die „Verteidigung" der Interessen unserer kapitalistischen Feinde. Darum sagen wir, dass der Sozialismus unwiderruflich gespalten ist. Die Sozialisten haben den Sozialismus ganz aufgegeben, indem sie auf die Seite ihrer Regierung oder ihrer Bankiers, ihrer Kapitalisten übergegangen sind, wie sehr sie auch von ihnen abrücken, wie sehr sie sie auch verurteilen mögen. Auf die Verurteilung kommt es nicht an. Aber manchmal ist die Verurteilung der Deutschen dafür, dass sie ihre Kapitalisten unterstützen, nur der Deckmantel für die Verteidigung der gleichen „Sünde" durch die Russen! Wenn ihr die deutschen Sozialchauvinisten anklagt, d. h. die Leute, die nur in Worten Sozialisten – vielleicht sind viele von ihnen in ihrem Herzen Sozialisten –, in der Tat aber Chauvinisten sind, in der Tat nicht das deutsche Volk, sondern die schmutzigen, selbstsüchtigen und räuberischen deutschen Kapitalisten verteidigen, so dürft ihr nicht die englischen, die französischen und die russischen Kapitalisten verteidigen! Die deutschen Sozialchauvinisten sind nicht schlechter als diejenigen, die in unserem Ministerium dieselbe Politik der Geheimverträge und des Raubes fortsetzen und das mit guten frommen Wünschen verdecken, in denen viel Gutes steckt, die, vom Standpunkt der Massen gesehen – das gebe ich zu – absolut aufrichtig gemeint sind, in denen ich aber kein einziges Wort als politische Wahrheit anerkenne und auch nicht anerkennen kann. Das ist nur euer Wunsch, während der Krieg nach wie vor ein imperialistischer Krieg bleibt, ein Krieg für dieselben Geheimverträge! Ihr fordert andere Völker auf, die Bankiers zu stürzen, aber eure eigenen Bankiers unterstützt ihr! Ihr sprecht vom Frieden, sagt aber nicht, welchen Frieden ihr meint! Man ist uns die Antwort schuldig geblieben, als wir uns gegen den Frieden auf der Grundlage des Status quo wandten, als wir auf diesen schreienden Widerspruch hinwiesen. Ihr werdet in eurer Resolution, in der ihr vom Frieden ohne Annexionen sprechen werdet, nicht sagen können, dass dies nicht der Status quo sei. Ihr werdet aber auch nicht sagen können, dass es der Status quo, d. h. die Wiederherstellung der Vorkriegslage sei. Also, was denn? England die deutschen Kolonien wegnehmen? Versucht es doch mit friedlichen Abmachungen! Man wird euch auslachen. Versucht doch einmal, Japan das geraubte Kiautschou und die Inseln im Stillen Ozean3 ohne Revolution wegzunehmen! Ihr habt euch in unlösbare Widersprüche verwickelt. Wenn wir sagen „ohne Annexionen", so erklären wir, dass diese Losung für uns nur ein untergeordneter Teil des Kampfes gegen den Weltimperialismus ist. Wir sagen, dass wir alle Völker befreien wollen und mit unseren eigenen den Anfang machen. Ihr aber redet vom Krieg gegen Annexionen und vom Frieden ohne Annexionen, während ihr in Russland die Annexionspolitik fortsetzt. Das ist unerhört! Ihr und eure Regierung, eure neuen Minister setzen gegenüber Finnland und der Ukraine die Annexionspolitik fort. Ihr schikaniert den ukrainischen Kongress, verbietet durch eure Minister seinen Zusammentritt. Ist das etwa keine Annexion? Das ist eine Politik, die ein Hohn ist auf die Rechte der Völker, die von den Zaren gemartert wurden, weil ihre Kinder die Muttersprache sprechen wollten. Das heißt die besonderen Republiken fürchten. Vom Standpunkt der Arbeiter und Bauern sind sie nicht zu fürchten. Mag Russland ein Bund freier Republiken sein. Die Arbeiter- und Bauernmassen werden keinen Krieg führen, um das zu verhindern. Mag jedes Volk frei sein, mögen zuallererst alle die Völkerschaften befreit werden, mit denen ihr in Russland zusammen Revolution macht. Ohne einen solchen Schritt verurteilt ihr euch dazu, in Worten eine „revolutionäre Demokratie" zu sein, während in Wirklichkeit eure ganze Politik konterrevolutionär ist. Eure Außenpolitik ist antidemokratisch und konterrevolutionär, eine revolutionäre Politik aber kann euch vor die Notwendigkeit eines revolutionären Krieges stellen. Das ist jedoch nicht unbedingt notwendig. Über diesen Punkt ist in letzter Zeit sowohl in der Presse als auch von den Referenten viel gesprochen worden. Ich möchte gern auf diesen Punkt näher eingehen. Wie stellen wir uns also praktisch den Ausweg aus diesem Kriege vor? Wir sagen: der einzige Ausweg aus diesem Kriege ist die Revolution. Unterstützt die Revolution der von den Kapitalisten unterdrückten Klassen, stürzt die Kapitalistenklasse im eigenen Lande und gebt damit den anderen Ländern ein Beispiel. Nur das ist Sozialismus. Nur das ist Kampf gegen den Krieg. Alles andere sind Verheißungen oder Redensarten oder gute fromme Wünsche. In allen Ländern hat sich der Sozialismus gespalten. Ihr geratet in immer größere Verwirrung, indem ihr euch mit jenen Sozialisten in Verbindung setzt, die ihre Regierung unterstützen, und vergesst, dass in England und Deutschland die wirklichen Sozialisten, die den Sozialismus der Massen zum Ausdruck bringen, vereinzelt geblieben sind und in den Gefängnissen sitzen. Doch sie allein vertreten die Interessen der proletarischen Bewegung. Wie aber, wenn in Russland die unterdrückte Klasse an die Macht käme? Wenn man uns sagt: wie wollt ihr allein aus dem Kriege herauskommen, so antworten wir: „Allein kann man allerdings aus dem Krieg nicht herauskommen." Jede Resolution unserer Partei, jede Rede unserer Versammlungsredner erklärt, dass es ein Unsinn sei, zu glauben, man könne allein sich aus diesem Kriege befreien. Hunderte Millionen von Menschen, hunderte Milliarden von Kapital sind in diesen Krieg verwickelt. Es gibt kein anderes Mittel, aus diesem Kriege herauszukommen, als den Übergang der Macht auf die revolutionäre Klasse, die verpflichtet ist, in der Tat den Imperialismus zu beseitigen, d. h. die annexionistischen Fäden, die das Finanz- und Bankkapital gesponnen hat, zu zerreißen. Solange das nicht wirklich geschehen ist, ist nichts geschehen. Der Umsturz hat sich darauf beschränkt, dass wir anstatt des Zarismus und des Imperialismus eine durch und durch imperialistische Scheinrepublik erhalten haben, in der sogar die Vertreter der revolutionären Arbeiter und Bauern es nicht verstehen, mit Finnland und der Ukraine demokratisch umzugehen, d. h. die Lostrennung nicht zu fürchten. Wenn gesagt wird, dass wir einen Separatfrieden anstreben, so ist das nicht wahr. Wir sagen: keinen Separatfrieden mit irgendwelchen Kapitalisten, vor allem nicht mit den russischen Kapitalisten! Die Provisorische Regierung aber hat einen Separatfrieden mit den russischen Kapitalisten geschlossen. Fort mit diesem Separatfrieden! Wir wollen keinen Separatfrieden mit den deutschen Kapitalisten und werden keine Verhandlungen aufnehmen, aber auch keinen Separatfrieden mit den englischen und den französischen Imperialisten! Man sagt uns, ein Bruch mit ihnen bedeute eine Verständigung mit den deutschen Imperialisten. Das ist nicht wahr, man muss mit ihnen sofort brechen, weil das ein Raubbündnis ist. Man sagt, die Veröffentlichung der Verträge sei unmöglich, weil das unsere ganze Regierung, unsere ganze Politik in den Augen jedes Arbeiters und jedes Bauern der Schande preisgeben würde. Wenn man diese Verträge veröffentlichte und in den Versammlungen den russischen Arbeitern und Bauern, insbesondere in jedem abgelegenen Dörfchen, klar sagte: „Seht, wofür ihr jetzt kämpft, für die Meerengen, für die Festhaltung Armeniens", so würde jeder sagen: „Einen solchen Krieg wollen wir nicht". (Vorsitzender: Ihre Zeit ist abgelaufen. Rufe: Weiterreden!) Noch zehn Minuten. (Rufe: Wir bitten.) Ich sage, dass die Alternative: entweder mit den englischen oder mit den deutschen Imperialisten, ein Friede mit den deutschen Imperialisten bedeute den Krieg gegen die englischen, und umgekehrt, unrichtig ist. Diese Alternative passt für diejenigen, die mit ihren Kapitalisten und Bankiers nicht brechen und Bündnisse gleich welcher Art mit ihnen zulassen. Für uns aber passt sie nicht. Wir sagen, dass wir das Bündnis mit der unterdrückten Klasse, mit den unterdrückten Völkern verteidigen sollen. Bleibt einem solchen Bündnis treu, dann werdet ihr eine revolutionäre Demokratie sein. Das ist keine leichte Aufgabe. Diese Aufgabe lässt nicht vergessen, dass wir unter gewissen Bedingungen ohne revolutionären Krieg nicht auskommen werden. Keine einzige revolutionäre Klasse kann auf den revolutionären Krieg verzichten, denn sonst verurteilt sie sich zu einem lächerlichen Pazifismus. Wir sind keine Tolstoianer! Wenn die revolutionäre Klasse die Macht ergreift, wenn es in ihrem Staate keine Annexion mehr gibt, wenn die Banken und das Großkapital keine Macht mehr besitzen – was in Russland nicht leicht ist –, so wird diese Klasse nicht nur in Worten, sondern tatsächlich einen revolutionären Krieg führen. Auf einen solchen Krieg verzichten, ist unmöglich. Das würde heißen in Tolstoianertum, in Spießertum verfallen, die ganze Lehre des Marxismus, die Erfahrung aller europäischen Revolutionen vergessen. Russland kann nicht allein aus dem Kriege ausscheiden. Aber es wachsen ihm gewaltige Bundesgenossen heran, die euch jetzt eben deshalb nicht glauben, weil eure Stellung widerspruchsvoll oder naiv ist, eben deshalb, weil ihr anderen Völkern den Rat erteilt: „Nieder mit den Annexionen", während ihr bei euch zu Hause die Annexionen aufrechterhaltet. Anderen Völkern sagt ihr: „Stürzt die Bankiers", eure eigenen aber stürzt ihr nicht. Versucht es mit einer anderen Politik. Veröffentlicht die Verträge und gebt sie vor den Augen der Arbeiter und Bauern der Schande preis. Sagt: „Kein Friede mit den deutschen Kapitalisten und völliger Bruch mit den englisch-französischen Kapitalisten! Mögen die Engländer die Türkei räumen und aufhören, um Bagdad Krieg zu führen! Mögen sie sich aus Indien und Ägypten trollen! Wir wollen nicht dafür kämpfen, dass die geraubte Beute behalten wird, ebenso wie wir auch kein Atom unserer Energie dafür aufwenden werden, dass die deutschen Räuber ihre Beute behalten." Wenn ihr das tun werdet – ihr habt es ja gesagt, doch in der Politik glaubt man Worten nicht und tut gut daran, ihnen nicht zu glauben –, wenn ihr das nicht nur sagen, sondern es auch tun werdet, dann werden die Bundesgenossen, die vorhanden sind, zum Vorschein kommen. Schaut auf die Stimmung der unterdrückten Arbeiter und Bauern, sie fühlen und bedauern, dass ihr so schwach seid, obwohl ihr Waffen habt, die Bankiers an der Macht zu lassen. Eure Bundesgenossen sind die unterdrückten Arbeiter aller Länder. Dann wird das eintreten, was die Revolution von 1905 in der Tat gezeigt hat. Als sie begann, war sie furchtbar schwach. Welches aber war ihr internationales Ergebnis? Wie ist durch diese Politik, durch die Geschichte des Jahres 1905, die Außenpolitik der russischen Revolution bestimmt worden? Jetzt treibt ihr die Außenpolitik der russischen Revolution in vollem Einklang mit den Kapitalisten. Das Jahr 1905 aber hat gezeigt, wie die Außenpolitik der russischen Revolution sein muss. Es ist eine unbestrittene Tatsache, dass nach dem 17. Oktober 1905 in Wien und Prag Straßenunruhen und Barrikadenbau einsetzten. Dem Jahre 1905 folgte das Jahr 1908 in der Türkei, das Jahr 1909 in Persien und 1910 in China4. Wenn ihr die wirklich revolutionäre Demokratie, die Arbeiterklasse, die Unterdrückten aufruft, anstatt mit den Kapitalisten zu paktieren, so werden nicht die unterdrückenden, sondern die unterdrückten Klassen eure Bundesgenossen sein, nicht die Völker, bei denen jetzt vorübergehend die unterdrückenden Klassen die Oberhand haben, sondern die Völker, die man heute zerstückelt. Man erinnert uns hier an die deutsche Front, an der niemand von uns auch nur die geringste Änderung vorgeschlagen hat, außer der freien Verbreitung unserer Aufrufe, die auf der einen Seite in russischer, auf der anderen Seite in deutscher Sprache geschrieben sind. Dort heißt es: „Die Kapitalisten beider Länder sind Räuber; ihre Beseitigung ist nur ein Schritt zum Frieden." Es gibt aber auch andere Fronten. An der türkischen Front steht eine Armee von uns, deren zahlenmäßige Stärke ich nicht kenne. Wenn diese Armee, die jetzt in Armenien gehalten wird und Annexionen vornimmt, die ihr duldet, obgleich ihr anderen Völkern den Frieden ohne Annexionen predigt, obgleich ihr Kraft und Macht besitzt [es zu verhindern], wenn diese Armee zur Durchführung dieses Programmes schritte, wenn sie aus Armenien eine unabhängige armenische Republik machte und ihr das Geld zahlte, das uns die Finanzleute Englands und Frankreichs abnehmen, so stünde es besser! Man sagt, ohne die finanzielle Unterstützung Englands und Frankreichs könnten wir nicht auskommen. Aber diese Unterstützung „unterstützt", wie der Strick den Gehenkten. Die russische revolutionäre Klasse sollte sagen: „Fort mit dieser Unterstützung, wir erkennen die Schulden nicht an, die bei den französischen und englischen Kapitalisten gemacht worden sind, wir fordern alle zum Aufstand gegen die Kapitalisten auf. Keinen Frieden mit den deutschen Kapitalisten und kein Bündnis mit den englischen und den französischen!" Würde man diese Politik tatsächlich betreiben, so könnte unsere türkische Armee frei werden und an andere Fronten gehen, denn alle Völker Asiens würden dann sehen, dass das russische Volk nicht nur mit Worten einen Frieden ohne Annexionen auf Grund des Selbstbestimmungsrechts der Völker verkündet, sondern dass die russischen Arbeiter und Bauern sich tatsächlich an die Spitze aller unterdrückten Völker stellen, dass für sie der Kampf gegen den Imperialismus kein leerer Wunsch und keine prunkvolle, ministerielle Redensart ist, sondern das ureigene Interesse der Revolution. Unsere Lage ist eine solche, dass ein revolutionärer Krieg uns zwar drohen kann, aber nicht unbedingt eintreten muss, denn die englischen Kapitalisten werden kaum einen Krieg gegen uns führen können, wenn ihr den Völkern, die Russland umgeben, das Beispiel eurer Tat zeigen werdet. Beweist, dass ihr die armenische Republik befreit, verständigt euch mit den Arbeiter- und Bauernräten in jedem Lande über eine freie Republik, dann wird die Außenpolitik der russischen Revolution eine wirklich revolutionäre, eine wirklich demokratische werden. Sie ist das jetzt nur in Worten, in Wirklichkeit ist sie konterrevolutionär, denn ihr seid mit dem englisch-französischen Imperialismus verbunden und wollt das nicht offen sagen, ihr fürchtet euch, das zuzugeben. Besser wäre es, wenn ihr an Stelle dieser Aufforderung, „die fremden Bankiers zu stürzen", dem russischen Volke, den Arbeitern und Bauern, offen gesagt hättet: „Wir sind zu schwach, wir können das Joch der englisch-französischen Imperialisten nicht abwerfen, wir sind ihre Sklaven, darum führen wir Krieg." Das wäre eine bittere Wahrheit gewesen, aber sie würde eine revolutionäre Bedeutung haben und das Ende dieses räuberischen Krieges beschleunigen. Das ist tausendmal mehr wert als eine Abmachung mit den französischen und den englischen Sozialchauvinisten, als die Einberufung von Kongressen, als die Fortsetzung dieser Politik, wo ihr in Wirklichkeit fürchtet, mit den Imperialisten eines Landes zu brechen, und die Bundesgenossen der anderen bleibt. Ihr könnt euch auf die unterdrückten Klassen der europäischen Länder stützen, auf die unterdrückten Völker der schwächeren Länder, die Russland unter den Zaren unterdrückte, die es auch jetzt unterdrückt, wie z. B. Armenien; auf sie gestützt, könnt ihr ihnen die Freiheit geben und ihren Arbeiter- und Bauernkomitees helfen; ihr könntet an die Spitze aller unterdrückten Klassen, aller unterdrückten Völker im Kriege gegen den deutschen und gegen den englischen Imperialismus treten, die sich nicht gegen euch zusammenschließen können, weil sie miteinander einen Kampf auf Tod und Leben ausfechten, weil sie sich in unüberwindlichen Schwierigkeiten befinden, während die Außenpolitik der russischen Revolution, das aufrichtige wirkliche Bündnis mit den unterdrückten Klassen, den unterdrückten Völkern, Erfolg haben kann, ja 99 Prozent Sicherheit vorhanden ist, dass es Erfolg haben wird. Vor kurzem las ich in unserem Moskauer Parteiblatt den Brief eines Bauern5, worin unser Programm auseinandergesetzt wird. Ich erlaube mir, meine Rede zu schließen mit einem kurzen Satz aus diesem Brief, der zum Ausdruck bringt, wie der Bauer unser Programm begriffen hat. Dieser Brief ist in Nr. 59 des „Sozialdemokrat", unseres Moskauer Parteiorgans, abgedruckt und in Nr. 68 der „Prawda" nachgedruckt worden: „Man muss stärker auf die Bourgeoisie drücken, damit sie in allen Nähten platzt. Dann wird der Krieg ein Ende haben. Wenn wir aber nicht so stark auf die Bourgeoisie drücken, so wird es uns erbärmlich gehen." 1 Der erste Allrussische Rätekongress trat am 16. (3.) Juni 1917 in Petrograd zusammen. Insgesamt waren 790 Delegierte anwesend, größtenteils Menschewiki, ein kleinerer Teil gehörte den Sozialrevolutionären an. Nur 103 Delegierte, das sind 13 Prozent der Gesamtzahl aller Delegierten, waren Bolschewiki. Die Tagung des Kongresses verlief ganz unter Führung der Menschewiki (Zeretelli, Dan) und der Sozialrevolutionäre. Der Kongress sprach sich für die Teilnahme der Sozialisten an der bürgerlichen Provisorischen Regierung, für die „Vaterlandsverteidigung", für die „Freiheitsanleihe" und für die Unterstützung der von der Entente geforderten Offensive an der Front aus. Der Kongress verbot die bolschewistische Demonstration am 23. (10.) Juni in Petrograd, aber die Demonstration, die der Kongress selbst für den 1. Juli (18. Juni) festgesetzt hatte, gedacht als Vertrauenskundgebung für die Provisorische Regierung, verlief vollständig unter bolschewistischen Losungen. Der Kongress hat ein Zentral-Exekutivkomitee, bestehend aus Menschewiki und Sozialrevolutionären gewählt, das bis zum zweiten Rätekongress bestand. Das zweimalige Auftreten Lenins auf dem Kongress fand bei der kompromisslerischen Mehrheit der Delegierten natürlich keinen Anklang. Die erste Rede hielt Lenin am 17. (4.) Juni in der Diskussion über das Referat von Dan: „Die Provisorische Regierung und die revolutionäre Demokratie". Die Redezeit war durch die Geschäftsordnung beschränkt: Lenins Rede wurde wiederholt von unfreundlichen Zurufen der Mehrheit und dem Beifall der Minderheit unterbrochen. Diese Rede über die Stellung zur Provisorischen Regierung wird hier nach dem Stenogramm gedruckt, das Lenin persönlich korrigiert hatte. Die zweite Rede (über den Krieg) wurde am 22. (9.) Juni gehalten und ist hier nach dem Text der „Prawda" wiedergegeben. Es ist möglich , dass der Text der „Prawda" seinerzeit von Lenin ebenfalls durchgesehen wurde. 2 Es handelt sich um das am 27. (14.) März 1917 vom Petrograder Arbeiter- und Soldatendeputiertenrat erlassene Manifest „An die Völker der ganzen Welt". In diesem Manifest hieß es u. a.: „… Indem wir uns an alle durch den schrecklichen Krieg der Vernichtung und dem Ruin preisgegebenen Völker wenden, erklären wir, dass die Zeit gekommen ist, gegen die Eroberungsbestrebungen der Regierungen aller Länder den entschiedenen Kampf zu beginnen. Es ist an der Zeit, dass die Völker die Entscheidung der Frage über Krieg und Frieden in ihre eigenen Hände nehmen. Im Bewusstsein ihrer revolutionären Kraft erklärt die Demokratie Russlands, dass sie mit allen Mitteln der Eroberungspolitik ihrer herrschenden Klassen entgegenwirken wird, und fordert die Völker Europas auf zu gemeinsamen entschiedenen Aktionen zugunsten des Friedens … Wir wenden uns an unsere Brüder, die Proletarier der österreichisch-deutschen Koalition und in erster Linie an das deutsche Proletariat. Von den ersten Tagen des Krieges an redete man euch ein, dass wenn ihr die Waffen gegen das absolutistische Russland erhebt, ihr damit die europäische Kultur gegen den asiatischen Despotismus verteidigt Viele von euch sahen darin eine Rechtfertigung für die Unterstützung des Krieges. Heute fehlt auch diese Rechtfertigung: das demokratische Russland kann keine Bedrohung für die Freiheit und Zivilisation sein … Wir werden standhaft unsere eigene Freiheit gegen alle reaktionären Anschläge verteidigen, mögen sie von innen oder von außen kommen. Die russische Revolution wird vor den Bajonetten der Eroberer nicht zurückweichen und sie wird nicht gestatten, dass sie durch eine auswärtige militärische Gewalt erstickt wird. Aber wir rufen euch auf: Schüttelt ab das Joch eurer autokratischen Ordnung, ebenso wie das russische Volk die zarische Autokratie abgeschüttelt hat; weigert euch, als Werkzeug der Eroberung und der Vergewaltigung in den Händen der Könige, der Junker und der Bankiers zu dienen – und mit geschlossenen vereinten Kräften werden wir dem schrecklichen Gemetzel, das die Menschheit schändet und die großen Tage der Geburt der russischen Freiheit verdüstert, ein Ende bereiten…" 3 Kiautschou – Stadt in der chinesischen Provinz Schantung, Seehafen. Das Gebiet von Kiautschou mit dem fruchtbaren Hinterlande wurde 1898 von China mit allen Hoheitsrechten auf 99 Jahre an Deutschland „verpachtet". Während des imperialistischen Krieges hat Japan diese Kolonie Deutschland entrissen; es versprach, das Gebiet dem rechtmäßigen Eigentümer, China, zurückzugeben, hielt aber das Versprechen nicht. Erst 1922 auf der Washingtoner Abrüstungskonferenz, wurde den Japanern das Zugeständnis abgerungen, das Kiautschou-Gebiet zu räumen. Japan verpflichtete sich (in einem Abkommen mit China) innerhalb von sechs Monaten seine Militärstreitkräfte aus dem Schantunggebiet zurückzuziehen und die wichtige Eisenbahnstrecke Kiautschou–Tsinanfu gegen eine Entschädigung von 53 Millionen, aber unter Beibehaltung einer Kontrolle über deren Verwaltung, an China zurückzugeben. Neuerdings (Mai 1928) hat Japan wieder das Schantunggebiet mit starken militärischen Kräften besetzt. Die Inseln im Stillen Ozean : die Marianen und Karolinen mit den Palauinseln gehörten vor dem Kriege Deutschland. Während des Krieges hatte Japan sie an sich gerissen. Heute japanisches Mandatsgebiet. 4 Die russische Revolution von 1905 übte nachhaltige Wirkung in den Ostländern. 1908 brach die Revolution in der Türkei aus. Der Sultan Abdul Hamid wurde gestürzt und die Jungtürken übernahmen die Macht. 1909 erzwang in Persien eine revolutionäre Volksbewegung die Abdankung des Schahs Muhammed Ali und die Wiedereinführung der 1908 gewaltsam mit Hilfe des Zaren aufgehobenen Verfassung; der Medschlis wurde wieder einberufen. 1910 begann in China unter Führung Sun Yatsens eine revolutionäre Bewegung, die in ihrem Verlauf zum Sturz der Monarchie und zur Bildung der Republik führte (1911 Unabhängigkeitserklärung der Südprovinzen mit Sun Yatsen als Präsidenten; 1912 Abdankung der Mandschudynastie und Proklamierung der chinesischen Republik). 5 In dem Brief des Bauern G. Andrejew, von dem hier die Rede ist, hieß es u. a.: „Ich bin ein Muschik, ein Bauer. Im Sommer lebe ich im Dorfe; auch bevor ich auf der Fabrik arbeitete, lebte ich auf dem Dorfe, und jetzt besuche ich es jährlich zwei- oder dreimal… Seit 1905 war ich Sozialrevolutionär, als sie aber davon zu reden anfingen, dass man den Herren nicht das Land wegnehmen darf, begannen meine Gedanken sich von ihnen abzuwenden; und als sie ihre Zustimmung zu der Freiheitsanleihe gaben, lief ich davon und trat in die Partei der Bolschewiki ein, nicht aber der Menschewiki, weil ich, wenn auch nicht viel, aber doch verstehe, was ich zu tun habe… Ich will ein wenig meine Ansicht über die verschiedenen Parteien im Dorfe darlegen, für die Gemeindeversammlung. Ich stelle die Gemeindeversammlung so dar: der Semski natschalnik [Unter dem Zarismus der Vertreter der Polizeigewalt auf dem Lande. Die Red.], der Starschina [Im vorrevolutionären Russland der von den Bauern gewählte Vorsteher oder Älteste einer Wolost, d. h. der aus mehreren Dorfgemeinden bestehenden Verwaltungseinheit. Die Red.], der Dorfschulze, der reiche Bauer und der arme Bauer, so wie ich einer bin. Den Semski vergleiche ich mit den Kadetten, die das Kapital und die ganze Bourgeoisie verteidigen … Den Starschina vergleiche ich mit den gelehrten Professoren, die wollen, dass die einen es gut haben, dass aber auch den andern nicht weh getan wird, die Sache ungefähr für tausend Jahre verschoben wird und dass einstweilen alle sich beruhigen möchten … Den Dorfschulzen vergleiche ich mit den Menschewiki… Den reichen Bauer vergleiche ich mit den Sozialrevolutionären … Nun nehme ich den armen Bauer. Ihn vergleiche ich mit den bolschewistischen Sozialdemokraten … Über den Krieg denken sie nicht so, wie der Dorfschulze oder der reiche Bauer… An der Front sich verbrüdern, aber auch im Hinterland nicht schlafen, unermüdlich arbeiten für die heilige Wahrheit. Man darf nicht auf halbem Wege stehenbleiben und warten, bis irgendwer irgendwoher vom Himmel kommen und dem Kriege ein Ende machen wird. Man muss stärker auf die Bourgeoisie drücken, damit sie in allen Nähten platzt, dann wird der Krieg ein Ende haben. Wenn wir aber nicht so stark auf die Bourgeoisie drücken, so wird es uns erbärmlich gehen …". |