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Wladimir I. Lenin 19171119 Erklärung des ZK der SDAPR (B) an alle Parteimitglieder und an alle Werktätigen Russlands

Wladimir I. Lenin: Erklärung des ZK der SDAPR (B) an alle Parteimitglieder und an alle Werktätigen Russlands

[Abgefasst in der Zeit vom 17.–19. (4.-6.) November 1917, „Prawda" Nr. 182 20 (7.) November 1917. Nach Sämtliche Werke, Band 22, Zürich 1934, S. 59-63]

Genossen!

Es ist allen bekannt, dass der Zweite Allrussische Kongress der Arbeiter- und Soldatenräte eine Mehrheit von bolschewistischen Delegierten brachte.

Diese Tatsache ist von grundlegender Bedeutung für das Verständnis der soeben in Petrograd und Moskau und ganz Russland vor sich gegangenen siegreichen Revolution. Gerade diese Tatsache vergessen, umgehen ständig alle Anhänger der Kapitalisten und ihre unbewussten Handlanger, die den Grundsatz der neuen Revolution: Alle Macht den Räten! erschüttern wollen. In Russland darf es keine andere Regierung geben als eine Räteregierung. In Russland ist die Rätemacht erobert worden, und der Übergang der Regierung aus den Händen der einen Rätepartei in die Hände einer anderen Rätepartei ist ohne jede Revolution, durch einfachen Beschluss der Räte, durch einfache Neuwahlen der Räte möglich. Der Zweite Allrussische Rätekongress hat der Partei der Bolschewiki die Mehrheit gebracht. Nur eine Regierung aus Vertretern dieser Partei ist deshalb eine Räteregierung. Es ist allen bekannt, dass das ZK der Partei der Bolschewiki einige Stunden vor der Bildung der neuen Regierung, bevor die Liste der Regierungsmitglieder dem Zweiten Allrussischen Rätekongress vorgeschlagen wurde, drei der namhaftesten Mitglieder der linken Sozialrevolutionäre, die Genossen Kamkow, Spiro und Karelin1 zu einer Sitzung eingeladen und ihnen vorgeschlagen hat, sich an der neuen Regierung zu beteiligen. Wir bedauern es außerordentlich, dass die Genossen von der Partei der linken Sozialrevolutionäre abgelehnt haben; wir halten diese Ablehnung für einen Revolutionär und Anhänger der Werktätigen für unzulässig. Wir sind jederzeit bereit, die linken Sozialrevolutionäre in die Regierung aufzunehmen, erklären aber, dass wir als Partei der Mehrheit auf dem Zweiten Allrussischen Rätekongress das Recht haben und dem Volke gegenüber verpflichtet sind, die Regierung zu bilden.

Es ist allen bekannt, dass das Zentralkomitee unserer Partei dem Zweiten Allrussischen Rätekongress eine rein bolschewistische Liste der Volkskommissare vorgeschlagen hat und dass der Kongress diese Liste einer rein bolschewistischen Regierung gebilligt hat.

Deshalb sind jene verlogenen Erklärungen, die nur von Feinden des Volkes, nur von Feinden der Rätemacht ausgehen können, jene Erklärungen, dass die bolschewistische Regierung keine Räteregierung sei, absolut falsch. Im Gegenteil, nur eine bolschewistische Regierung kann jetzt, nach dem Zweiten Allrussischen Rätekongress, bis zur Einberufung des Dritten Rätekongresses oder bis zu den Neuwahlen der Räte oder bis zur Bildung einer neuen Regierung durch das Zentralexekutivkomitee – nur eine bolschewistische Regierung kann jetzt als Räteregierung anerkannt werden.

Genossen! Einige Mitglieder des ZK unserer Partei und des Rates der Volkskommissare, Kamenew, Sinowjew, Nogin, Rykow, Miljutin und einige andere, sind gestern Abend, am 17. (4.) November aus dem ZK unserer Partei ausgetreten, die drei letzten aus dem Rate der Volkskommissare. In einer so großen Partei wie der unsrigen waren natürlich, trotz des proletarisch-revolutionären Kurses unserer Politik, einzelne im Kampfe mit den Feinden des Volkes nicht genügend standhafte und feste Genossen vorhanden. Die Aufgaben, vor denen jetzt unsere Partei steht, sind wahrhaft unermesslich, die Schwierigkeiten sind ungeheuer und einige Mitglieder unserer Partei, die früher verantwortliche Posten bekleideten, erschraken vor dem Ansturm der Bourgeoisie und liefen aus unseren Reihen fort. Die ganze Bourgeoisie und alle ihre Handlanger jubeln darüber, frohlocken, schreien über Zerfall, prophezeien den Untergang der bolschewistischen Regierung.

Genossen! Glaubt diesen Lügen nicht. Die ausgetretenen Genossen haben wie Deserteure gehandelt, nicht nur, weil sie die ihnen anvertrauten Posten verlassen haben, sondern auch, weil sie den ausdrücklichen Beschluss des ZK unserer Partei, mit ihrem Austritt wenigstens bis zur Stellungnahme der Petrograder und Moskauer Parteiorganisationen zu warten, verletzt haben.2

Wir verurteilen diese Desertion aufs Entschiedenste. Wir sind tief überzeugt, dass alle klassenbewussten Arbeiter, Soldaten und Bauern, die zu unserer Partei gehören oder mit ihr sympathisieren, ebenso entschieden die Handlungsweise der Deserteure verurteilen werden.

Aber wir erklären, dass die Desertion einiger Mitglieder aus den Spitzen unserer Partei keinen Augenblick und um kein Haar die Einheit der Massen, die unserer Partei folgen, und also auch unsere Partei nicht erschüttern wird.

Genossen, denkt daran, dass zwei dieser Deserteure, Kamenew nd Sinowjew, bereits vor dem Aufstand in Petrograd als Deserteure und Streikbrecher aufgetreten sind, denn sie haben nicht nur in der entscheidenden Sitzung des ZK vom 23. (10.) Oktober 1917 gegen den Aufstand gestimmt, sondern auch nach der Beschlussfassung des ZK vor den Parteifunktionären gegen den Aufstand agitiert. Alle wissen, dass die Zeitungen, die Angst davor haben, sich auf die Seite der Arbeiter zu stellen, und die es mehr zur Bourgeoisie hinzieht (z. B. „Nowaja Schisn"), damals zusammen mit der ganzen bürgerlichen Presse ein Geschrei erhoben über den „Zerfall" unserer Partei, über das „Scheitern des Aufstandes" usw. Aber das Leben hat sehr bald die Lügen und Verleumdungen der einen, die Zweifel, den Wankelmut und die Feigheit der anderen widerlegt. Der „Sturm", den man aus Anlass der Schritte Kamenews und Sinowjews zur Vereitelung des Petrograder Aufstandes entfachen wollte, erwies sich als ein Sturm im Wasserglase, und der gewaltige Enthusiasmus der Massen, der gewaltige Heroismus von Millionen Arbeitern, Soldaten und Bauern in Petrograd und Moskau, an der Front, in den Schützengräben und auf dem Lande hat die Deserteure mit derselben Leichtigkeit beiseite gedrängt, mit der ein Eisenbahnzug Holzspäne hinwegfegt.

Mögen sich alle Kleingläubigen, alle Schwankenden, alle ZweifeInden, alle, die sich von der Bourgeoisie einschüchtern oder von dem Geschrei ihrer direkten und indirekten Handlanger beeinflussen ließen, schämen. Unter den Massen der Petrograder, Moskauer und anderer Arbeiter und Soldaten ist auch nicht eine Spur von Schwankungen zu bemerken. Unsere Partei steht fest und einig da wie ein Mann und schützt die Rätemacht, schützt die Interessen aller Werktätigen, in erster Linie der Arbeiter und armen Bauern.

Ein Chor von bürgerlichen Tintenkulis und Leuten, die sich von der Bourgeoisie einschüchtern ließen, beschuldigt uns, dass wir unnachgiebig, dass wir unversöhnlich seien, dass wir die Macht mit keiner anderen Partei teilen wollen. Genossen, das ist nicht wahr! Wir haben den linken Sozialrevolutionären vorgeschlagen, die Macht mit uns zu teilen, und halten diesen Vorschlag aufrecht. Es ist nicht unsere Schuld, wenn sie abgelehnt haben. Wir haben sogar nach der Beendigung des Zweiten Rätekongresses Verhandlungen aufgenommen, wir haben bei diesen Verhandlungen alle möglichen Zugeständnisse gemacht und sind sogar so weit gegangen, dass wir uns bedingt damit einverstanden erklärten, Vertreter eines Teils der Petrograder Stadtverwaltung zuzulassen, dieses Nestes der Kornilowleute, das in erster Linie vom Volke weggefegt werden wird, wenn das Kornilowgesindel, wenn die Kapitalisten- und Gutsbesitzersöhnchen, die Junker, wieder versuchen sollten, sich dem Willen des Volkes entgegenzustellen, wie sie es am vergangenen Sonntag in Petrograd versucht haben und von neuem versuchen wollen (das ist bewiesen durch die Aufdeckung der Verschwörung Purischkewitschs und die bei ihm am Abend des 16. (3.) November konfiszierten Dokumente). Aber die Herrschaften, die hinter dem Rücken der linken Sozialrevolutionäre stehen und durch sie für die Bourgeoisie arbeiten, haben unsere Nachgiebigkeit als Schwäche ausgelegt und dazu ausgenutzt, uns neue Ultimaten zu stellen. In der Sitzung vom 16. (3.) November erschienen die Herren Abramowitsch und Martow und stellten uns ein Ultimatum: keine Verhandlungen, bis unsere Regierung nicht die Verhaftungen und das Verbot der bürgerlichen Zeitungen einstellt!3

Sowohl unsere Partei als auch das Zentralexekutivkomitee lehnten es ab, dieses Ultimatum zu erfüllen, das direkt von den Anhängern Kaledins, der Bourgeoisie, Kerenskis und Kornilows ausgeht. Die Verschwörung Purischkewitschs und das Eintreffen einer Delegation eines Teils des 17. Armeekorps in Petrograd am 18. (5.) November, die uns mit einem Marsch gegen Petrograd drohte (eine lächerliche Drohung, denn die Vortrupps dieser Kornilowarmee sind bereits bei Gatschina geschlagen worden und haben die Flucht ergriffen, während der größte Teil es abgelehnt hat, gegen die Räte zu marschieren) – alle diese Ereignisse haben gezeigt, von wem in Wirklichkeit das Ultimatum der Herren Abramowitsch und Martow ausging, wem diese Leute in Wirklichkeit dienten.

Mögen alle Werktätigen Ruhe und Standhaftigkeit bewahren! Unsere Partei wird niemals einem Ultimatum der Minderheit der Räte nachgeben, einer Minderheit, die sich von der Bourgeoisie einschüchtern ließ und faktisch entgegen ihren eigenen „guten Absichten" eine Puppe in den Händen der Kornilowleute ist.

Wir halten fest an dem Grundsatz der Rätemacht, d. h. der Macht der Mehrheit auf dem letzten Rätekongress, wir sind nach wie vor damit einverstanden, die Macht mit der Minderheit in den Räten zu teilen unter der Bedingung einer loyalen, ehrlichen Verpflichtung dieser Minderheit, sich der Mehrheit unterzuordnen und das Programm durchzuführen, das der gesamte Zweite Allrussische Rätekongress gutgeheißen hat und das in allmählichen, aber festen und entschiedenen Maßnahmen zur Verwirklichung des Sozialismus besteht. Irgendwelchen Ultimaten von Intellektuellengruppen aber, hinter denen keine Massen, hinter denen in Wirklichkeit nur die Kornilowleute, die Sawinkowleute, die Junker usw. stehen, werden wir uns nicht unterwerfen.

Mögen alle Werktätigen Ruhe und Standhaftigkeit bewahren! Unsere Partei, die Partei der Mehrheit in den Räten, steht einmütig und geschlossen da zum Schutz ihrer Interessen, hinter unserer Partei stehen nach wie vor die Millionen der Arbeiter in den Städten, der Soldaten in den Schützengräben, der Bauern auf dem Lande, die bereit sind, den Sieg des Friedens und des Sozialismus um jeden Preis zu verwirklichen.

1 Hier liegt offenbar ein Fehler vor. In der Fraktionssitzung des II. Rätekongresses am 7. November (25. Oktober) wählten die linken Sozialrevolutionäre in die Kommission zur Herstellung des Kontaktes mit den Bolschewiki B. Kamkow und W. Karelin und bestätigten die Wahl des Vertreters des ZK der Partei der Sozialrevolutionäre, Firssow. Nach dem Beschluss des ZK der Sozialrevolutionäre über die Unzulässigkeit von Verhandlungen mit den Bolschewiki wurde Firssow durch B. Malkin ersetzt.

2 Der Beschluss des ZK der SDAPR (B), die Stellungnahme der Petrograder und Moskauer Parteiorganisation abzuwarten, den Lenin hier erwähnt, ist nicht erhalten geblieben.

3 Lenin meint die Erklärung R. Abramowitschs bei den Verhandlungen am 16. (3.) November im Exekutivkomitee des Verbandes der Eisenbahnarbeiter und -angestellten über die Bildung einer Regierung: „Um die Friedensverhandlungen aufzunehmen, muss der politische Terror eingestellt werden … Wenn sich die Bolschewiki auch heute mit der Einstellung des Terrors nicht einverstanden erklären, so werden die Verhandlungen fruchtlos enden, denn man kann die Volkssozialisten nicht zur Teilnahme an der Regierung einladen, wenn ihr Presseorgan verboten ist."

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