Wladimir I. Lenin: Brief an die Genossen Bolschewiki, die am Gebietsrätekongress des Nordgebietes teilnehmen1 [Zum ersten Mal veröffentlicht 7. November 1925, „Prawda", Nr. 255 (3186). Nach Sämtliche Werke, Band 21, Wien-Berlin 1931, S. 410-416] Genossen! Unsere Revolution macht eine im höchsten Grade kritische Zeit durch. Diese Krise fällt mit der großen Krise der heranreifenden sozialistischen Weltrevolution und ihrer Bekämpfung durch den Weltimperialismus zusammen. Den verantwortlichen Führern unserer Partei erwächst eine gigantische Aufgabe, deren Nichterfüllung die internationalistische proletarische Bewegung mit dem völligen Zusammenbruch bedroht. In diesem Augenblick kommt eine Verzögerung wahrhaftig dem Tode gleich. Man werfe einen Blick auf die internationale Lage. Das Anwachsen der Weltrevolution ist unbestreitbar. Der Empörungsausbruch der tschechischen Arbeiter wurde mit unglaublicher Brutalität unterdrückt, und das weist darauf hin, dass die Regierung äußerst erschrocken ist. Auch in Italien ist es zu einem Massenausbruch in Turin gekommen. Am wichtigsten aber ist der Aufstand in der deutschen Flotte.2 Man muss sich die unglaublichen Schwierigkeiten vor Augen halten, die sich in einem Lande wie Deutschland einer Revolution entgegenstellen, und noch dazu unter den jetzigen Verhältnissen. Es ist unzweifelhaft, dass der Aufstand der deutschen Flotte ein Anzeichen der großen Krise des Herannahens der Weltrevolution ist. Wenn unsere Chauvinisten, die die Niederlage Deutschlands predigen, von seinen Arbeitern einen sofortigen Aufstand fordern, so wissen wir russischen revolutionären Internationalisten aus der Erfahrung der Jahre 1905–1917, dass sich kein überzeugenderes Symptom für das Anwachsen der Revolution denken lässt als ein militärischer Aufstand. Man bedenke, wie wir jetzt vor den deutschen Revolutionären dastehen. Sie können uns sagen: wir haben nur den einen Liebknecht, der offen zur Revolution aufgerufen hat. Seine Stimme erstickt hinter Zuchthausmauern. Wir haben keine einzige Zeitung, die offen die Notwendigkeit einer Revolution aufzeigt, wir haben keine Versammlungsfreiheit, keinen einzigen Arbeiter- und Soldatenrat. Unsere Stimme dringt kaum bis zu den wirklichen breiten Massen. Und wir haben einen Aufstand versucht, obwohl wir von hundert Chancen kaum eine einzige für uns hatten. Ihr aber, russische revolutionäre Internationalisten, habt ein halbes Jahr ungehinderter Agitation hinter euch, ihr habt zwei Dutzend Zeitungen, ihr habt eine ganze Reihe von Arbeiter- und Soldatenräten, ihr habt in den Räten beider Hauptstädte gesiegt, auf eurer Seite steht die ganze baltische Flotte und alle russischen Truppen in Finnland, und ihr reagiert nicht auf unsere Aufforderung zum Aufstand, ihr stürzt nicht euren imperialistischen Kerenski, obwohl ihr von hundert Chancen neunundneunzig für den siegreichen Ausgang eures Aufstandes habt. Ja, wir werden wirkliche Verräter an der Internationale sein, wenn wir in einem solchen Augenblick, unter so günstigen Umständen eine solche Aufforderung der deutschen Revolutionäre nur mit … Resolutionen beantworten. Man füge hinzu, dass uns allen die rasche Entwicklung der gegen die russische Revolution gerichteten Pakte und Verschwörungen der internationalen Imperialisten sehr wohl bekannt ist. Ihre Abwürgung um jeden Preis, sowohl durch militärische Maßnahmen wie durch einen auf Kosten Russlands geschlossenen Frieden, – das ist das Ziel, dem sich der internationale Imperialismus immer mehr nähert. Das ist es, was die Krise der sozialistischen Weltrevolution besonders verschärft, das ist es, was die Verzögerung des Aufstandes besonders gefährlich macht – ich bin fast bereit, zu sagen: verbrecherisch, wenn diese Verzögerung von uns ausgeht. Man beachte ferner die innere Lage Russlands. Der Zusammenbruch der kleinbürgerlich-reformistischen Parteien, die das blinde Vertrauen der Massen zu Kerenski und den Imperialisten im allgemeinen zum Ausdruck brachten, ist völlig akut geworden. Der Zusammenbruch ist ein vollständiger. Die Abstimmung der Rätekurie auf der Demokratischen Beratung gegen die Koalition, die Abstimmung der Mehrheit der örtlichen Bauerndeputiertenräte gegen die Koalition (im Gegensatz zu ihrem Zentralrat, in dem die Awksentjews und andere Kerenski-Freunde sitzen) – die Wahlen in Moskau, wo die Arbeiterbevölkerung den Bauern am nächsten steht und wo mehr als 49 Prozent für die Bolschewiki stimmten (und bei den Soldaten 14.000 von 17.000) – ist das denn nicht der völlige Zusammenbruch des Vertrauens der Volksmassen zu Kerenski und zu den Leuten, die mit Kerenski und Konsorten paktieren? Kann man sich denn vorstellen, dass die Volksmassen den Bolschewiki noch deutlicher als durch diese Abstimmung zu verstehen geben könnten: führt uns, wir werden euch folgen? Wir aber, die wir so die Mehrheit der Volksmassen auf unsere Seite gebracht, beide hauptstädtische Räte erobert haben, sollen abwarten. Was abwarten? Dass Kerenski und seine Kornilow-Generale Petrograd den Deutschen ausliefern und auf diese Art direkt oder indirekt, offen oder heimlich, mit Buchanan und Wilhelm konspirieren, um die russische Revolution endgültig abzuwürgen? Aber nicht nur, dass das Volk in der Moskauer Abstimmung und bei den Neuwahlen zu den Räten uns sein Vertrauen ausgesprochen hat. Es machen sich auch Anzeichen einer wachsenden Apathie und Gleichgültigkeit bemerkbar. Das ist begreiflich. Das bedeutet nicht den Niedergang der Revolution, wie die Kadetten und ihre Nachbeter lärmend verkünden, sondern das Schwinden des Vertrauens zu Resolutionen und Wahlen. In der Revolution fordern die Massen von den führenden Parteien Taten, nicht Worte, Siege im Kampf und kein Gerede. Der Augenblick naht, wo im Volke die Meinung aufkommen kann, dass auch die Bolschewiki nicht besser sind als die anderen, denn sie wussten nicht zu handeln, nachdem wir ihnen unser Vertrauen ausgesprochen hatten… Im ganzen Lande flammt der Bauernaufstand auf. Es ist sonnenklar, dass die Kadetten und ihre Nachläufer die Bedeutung des Aufstandes auf jede Art herabzumindern, ihn als „Pogrom", als „Anarchie" hinzustellen trachten. Aber die Tatsache, dass man in den Herden des Aufstandes mit der Übergabe des Grund und Bodens an die Bauern begonnen hat, straft sie Lügen. „Pogrome" und „Anarchie" haben noch nie zu so vortrefflichen politischen Resultaten geführt. Die gewaltige Kraft des Bauernaufstandes geht schon daraus hervor, dass sowohl die Kompromissler wie die Sozialrevolutionäre vom „Djelo Naroda", und sogar die Breschko-Breschkowskaja begonnen haben, von der Übergabe des Bodens an die Bauern zu sprechen, um die Bewegung abzubremsen, ehe sie ihnen endgültig über den Kopf gewachsen ist.3 Wir aber sollen abwarten, ob es den Kosakentruppen des (gerade in der letzten Zeit von den Sozialrevolutionären selbst als Mitschuldiger am Kornilow-Abenteuer entlarvten) Kornilowisten Kerenski nicht gelingt, diesen Bauernaufstand etappenweise niederzuschlagen. Anscheinend haben viele Führer unserer Partei die besondere Bedeutung jener Losung nicht bemerkt, die wir alle anerkannt und endlos wiederholt haben, die Losung: alle Macht den Räten. Es hat Perioden, es hat Augenblicke in dem halben Jahr der Revolution gegeben, wo diese Losung nicht den Aufstand bedeutete. Vielleicht haben diese Perioden und diese Augenblicke einen Teil der Genossen geblendet und sie veranlasst, zu vergessen, dass diese Losung jetzt auch für uns, zum mindesten seit Mitte September, gleichbedeutend ist mit dem Aufruf zum Aufstand. In dieser Hinsicht kann auch nicht der Schatten eines Zweifels bestehen. „Djelo Naroda" hat dies unlängst auf „populäre" Art erläutert, als es sagte: „Kerenski wird sich unter keinen Umständen unterwerfen." Und ob! Die Losung „Alle Macht den Räten" ist nichts anderes als eine Aufforderung zum Aufstand. Und die Schuld wird in vollem Umfange und unbedingt auf uns lasten, wenn wir, die wir seit Monaten die Massen zum Aufstand, zur Abkehr von der Verständigungspolitik aufrufen, diese Massen am Vorabend des Zusammenbruches der Revolution nicht zum Aufstand führen, obwohl sie uns das Vertrauen ausgesprochen haben. Kadetten und Kompromissler schrecken mit dem Beispiel des 3.-5. Juli, mit der wachsenden Agitation der Schwarzen Hunderte und dergleichen mehr. Wenn auch der 3.-5. Juli ein Fehler war, so nur insofern, als wir die Macht nicht ergriffen. Ich glaube, das war damals kein Fehler, denn wir hatten zu jener Zeit noch keine Mehrheit, jetzt aber wäre das ein verhängnisvoller Fehler, und schlimmer als ein Fehler. Das Anwachsen der Agitation der Schwarzen Hunderte ist begreiflich, als Verschärfung der Gegensätze in der Atmosphäre der sich entwickelnden proletarisch-bäuerlichen Revolution. Es ist aber lächerlich, daraus ein Argument gegen den Aufstand zu machen, denn die Ohnmacht der von den Kapitalisten gekauften Schwarzen Hundert, ihre Ohnmacht im Kampf bedarf kaum eines Beweises. Kornilow und Kerenski können sich im Kampfe nur auf die wilde Division und die Kosaken stützen. Jetzt aber hat die Zersetzung auch bei den Kosaken begonnen, und außerdem drohen ihnen aus dem inneren Kosakengebiete heraus die Bauern mit dem Bürgerkrieg. Ich schreibe diese Zeilen Sonntag, den 8. Oktober. Ihr werdet sie nicht vor dem 10. Oktober lesen. Von einem durchreisenden Genossen hörte ich, dass Reisende der Warschauer Eisenbahnlinie erzählen: Kerenski führe die Kosaken nach Petrograd. Das ist sehr wahrscheinlich, und es wird geradezu unsere Schuld sein, wenn wir das nicht gründlich nachprüfen und die Kräfte und die Verteilung der Kornilowschen Truppen zweiten Aufgebots nicht gründlich erforschen. Kerenski hat wieder Kornilow-Truppen an Petrograd herangeführt, um die Übergabe der Macht an die Räte, ein sofortiges Friedensangebot durch diese Räteregierung und die unverzügliche Übergabe des Bodens an die Bauern zu verhindern, Petrograd den Deutschen auszuliefern und selbst nach Moskau auszureißen! Das ist die Losung für den Aufstand, die wir nach Kräften verbreiten müssen und die einen gewaltigen Erfolg haben wird. Man darf nicht den allrussischen Rätekongress abwarten, den das Zentral-Exekutivkomitee auch bis zum November verschleppen kann, man darf nicht warten und Kerenski Zeit lassen, noch mehr Kornilow-Truppen heranzubringen. Auf dem Rätekongress sind Finnland, die Flotte und Reval vertreten, die zusammen sofort die Flotte, Artillerie, Maschinengewehre und zwei bis drei Infanterieregimenter (die beispielsweise in Wiborg die ganze Kraft ihres Hasses gegen die Kornilowschen Generale, mit denen sich Kerenski wieder zusammengefunden hat, bekundet haben) in Richtung Petrograd gegen die Kornilowschen Regimenter in Bewegung setzen können. Es wäre ein gewaltiger Fehler, wollte man die Möglichkeit, die Kornilowschen Regimenter zweiten Aufgebots zu schlagen, vorübergehen zu lassen, aus der Erwägung, dass die Fahrt der baltischen Flotte nach Petrograd den Deutschen die Front öffnen würde. Die Kornilowisten, die Verleumder werden das behaupten, wie jede andere Lüge auch, es ist aber eines Revolutionärs unwürdig, sich durch Lügen und Verleumdungen einschüchtern zu lassen. Kerenski wird Petrograd den Deutschen ausliefern, das ist jetzt sonnenklar, keine gegenteiligen Versicherungen werden uns diese Überzeugung nehmen können, die sich aus dem ganzen Gang der Ereignisse und aus der ganzen Politik Kerenskis ergibt. Kerenski und die Kornilowleute werden Petrograd den Deutschen ausliefern. Gerade zur Rettung Petrograds muss man Kerenski stürzen, und müssen die Räte der beiden Hauptstädte die Macht ergreifen. Diese Räte werden sofort allen Völkern den Frieden anbieten und damit ihre Pflicht gegenüber den deutschen Revolutionären erfüllen und einen entscheidenden Schritt zur Sprengung der verbrecherischen Verschwörungen gegen die russische Revolution, der Verschwörungen des internationalen Imperialismus tun. Nur eine sofortige Aktion der baltischen Flotte, der finnländischen Truppen, Revals und Kronstadts gegen die Kornilow-Truppen bei Petrograd kann die russische und die Weltrevolution retten. Eine solche Bewegung hat 99 von 100 Chancen, in wenigen Tagen zur Kapitulation eines Teiles der Kosakentruppen, zur gänzlichen Vernichtung der übrigen Teile und zum Sturze Kerenskis zu führen, denn die Arbeiter und Soldaten beider Hauptstädte werden eine solche Bewegung unterstützen. Zögern bedeutet den Tod. Die Losung „Alle Macht den Räten" ist die Losung des Aufstandes. Wer eine solche Losung benutzt, ohne sich dessen bewusst zu sein, ohne das überlegt zu haben, der mag sich selbst Vorwürfe machen. Den Aufstand aber muss man verstehen als Kunst zu behandeln, ich habe darauf bestanden während der Demokratischen Beratung, und ich bestehe auch jetzt darauf, denn das lehrt der Marxismus, das lehrt die ganze jetzige Situation in Russland und in der ganzen Welt. Es handelt sich nicht um Abstimmungen, nicht um die Heranziehung der linken Sozialrevolutionäre, nicht um den Ausbau der provinziellen Räte, nicht um ihren Kongress. Es handelt sich um den Aufstand, den Petrograd, Moskau, Helsingfors, Kronstadt, Wiborg und Reval beschließen können und müssen. Vor Petrograd und in Petrograd, dort kann und muss dieser Aufstand beschlossen und durchgeführt werden, möglichst ernsthaft, möglichst wohlvorbereitet, möglichst rasch, möglichst energisch. Die Flotte, Kronstadt, Wiborg, Reval können und müssen gegen Petrograd ziehen, die Kornilowschen Regimenter vernichten, in beiden Hauptstädten eine Erhebung hervorrufen, eine Massenagitation für die Macht auslösen, die den Bauern sofort den Boden gibt und sofort ein Friedensangebot macht, die Regierung Kerenski stürzen und diese Macht schaffen. Zögern ist gleichbedeutend mit Tod. 8. Oktober 1917 N. Lenin 1 Den „Brief an die Genossen Bolschewiki, die am Gebietskongress der Räte des Nordgebiets teilnehmen", hat Lenin am 21. (8.) Oktober 1917 in Wiborg geschrieben. Die Redaktion besitzt keine Unterlagen, die über die Umstände Aufschluss geben könnten, die die Erörterung dieses Briefes in der Fraktion begleiteten. 2 In tschechischen Städten (Prag, Pilsen, Brünn usw.) brachen im Sommer 1917, verursacht durch den Hunger und als Protest gegen den Krieg, Streiks aus. Die ursprünglichen Forderungen betrafen die Einstellung der Requisitionen und der Ausfuhr von Lebensmitteln nach Deutschland und Wien; im weiteren wurden die Forderungen der Beendigung des Krieges und der Freilassung der verhafteten Führer aufgestellt. Stellenweise nahm die Bewegung den Charakter revolutionärer Massenaktionen an. In Brünn war im Verlaufe mehrerer Tage ein bewaffneter Kampf im Gange. Der Aufstand wurde blutig niedergeworfen. In Turin (Italien) brach im August 1917 ein Streik aus, der ebenfalls durch den Hunger und den sich hinziehenden Krieg hervorgerufen war. Es streikten über 40.000 Arbeiter. Der Streik war von Demonstrationen begleitet. In der deutschen Seefestung Wilhelmshaven brach im September 1917 ein Aufstand der Matrosen von vier Panzerkreuzern aus. Die Aufständischen warfen mehrere Offiziere über Bord und gingen ans Land. Die Matrosen, die den Auftrag erhielten, sie anzugreifen, folgten diesem Befehl nicht. Der Aufstand wurde mit Hilfe von Infanterieregimentern unterdrückt. Einer der aufständischen Panzerkreuzer versuchte, nach Norwegen zu gehen, um sich dort internieren zu lassen, aber umgeben von Minenbooten, musste er sich ergeben. Der Aufstand wurde grausam unterdrückt. Mehrere Matrosen wurden zum Tode verurteilt und erschossen, andere erhielten langjährige Kerkerhaft. 3 Die Rede der Breschko-Breschkowskaja am 20. (7.) Oktober 1917 im Rat der Republik ist veröffentlicht im „Djelo Naroda", Nr. 175 vom 21. (8.) Oktober 1917. |