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Wladimir I. Lenin 19230116 Über unsere Revolution

Wladimir I. Lenin: Über unsere Revolution

Anlässlich der Aufzeichnungen N. Suchanows1

[Lenin, Ausgewählte Werke, Band 6. Das Revolutionsjahr 1917. Zürich 1934, S. 521-525]

I

Ich habe dieser Tage Suchanows Aufzeichnungen über die Revolution durchgeblättert. Was besonders in die Augen springt, ist die Pedanterie aller unserer kleinbürgerlichen Demokraten, ebenso wie all der Helden der II. Internationale. Ganz zu schweigen davon, dass sie außergewöhnliche Feiglinge sind, dass sogar die Besten von ihnen nur von kleinlichen Vorbehalten leben, wenn es sich um das geringfügigste Abgehen vom deutschen Muster handelt; gar nicht zu reden von dieser Eigentümlichkeit aller kleinbürgerlichen Demokraten, die sie während der ganzen Revolution zur Genüge offenbart haben, sticht bei ihnen vor allem das sklavische Nachahmen der Vergangenheit in die Augen.

Sie alle nennen sich Marxisten, doch fassen sie den Marxismus bis zur Unmöglichkeit pedantisch auf. Das Entscheidende am Marxismus, nämlich seine revolutionäre Dialektik, haben sie ganz und gar nicht begriffen. Sogar Marx’ direkte Hinweise darauf, dass in den Augenblicken der Revolution maximale Elastizität erforderlich sei, haben sie absolut nicht verstanden, ja nicht einmal bemerkt, so zum Beispiel Marx’ Hinweise in seinem Briefwechsel aus dem Jahre 1856, soviel ich mich entsinne, wo er die Hoffnung auf die Vereinigung eines Bauernkrieges in Deutschland, der eine revolutionäre Situation schaffen könnte, mit der Arbeiterbewegung aussprach2 — sogar diesen direkten Hinweis lassen sie liegen und gehen um ihn wie die Katze um den heißen Brei herum.

In ihrem ganzen Verhalten offenbaren sie sich als feige Reformisten, die sich davor scheuen, von der Bourgeoisie abzurücken, geschweige denn mit ihr zu brechen, und gleichzeitig wollen sie ihre Feigheit hinter leichtfertigstem Phrasendreschen und Prahlen verstecken. Was aber sogar rein theoretisch an ihnen allen besonders auffällt, ist die vollständige Unfähigkeit, den folgenden Gedankengang des Marxismus zu begreifen; Sie haben bis jetzt einen bestimmten Entwicklungsgang des Kapitalismus und der bürgerlichen Demokratie in Westeuropa vor Augen gehabt. Und nun können sie sich nicht vorstellen, dass dieser Weg mutatis mutandis3 nicht anders als mit einigen (vom Standpunkt der Weltgeschichte vollständig unerheblichen) Korrekturen als Muster gelten kann.

Erstens — eine Revolution, die mit dem ersten imperialistischen Weltkrieg verbunden ist. In einer solchen Revolution mussten neue Züge oder eben in Abhängigkeit vom Kriege umgewandelte Züge zum Vorschein kommen, weil es in der Welt noch nie einen solchen Krieg, einen Krieg in solcher Situation gegeben hatte. Noch bis jetzt sehen wir, dass die Bourgeoisie der reichsten Länder „normale“ bürgerliche Verhältnisse nach diesem Krieg nicht herstellen kann, aber unsere Reformisten, Kleinbürger, die sich als Revolutionäre aufspielen, halten nach wie vor die normalen bürgerlichen Verhältnisse für die Grenze (sie aber darfst du nicht überschreiten!), wobei sie diese „Norm“ bis zum Extrem schablonenhaft und beschränkt auffassen.

Zweitens — vollkommen fremd ist ihnen jeder Gedanke daran, dass bei der allgemeinen Gesetzmäßigkeit der Entwicklung in der ganzen Weltgeschichte einzelne Entwicklungsphasen, die eine Eigentümlichkeit der Form oder der Ordnung in dieser Entwicklung darbieten, keineswegs ausgeschlossen, sondern im Gegenteil vorausgesetzt sind. Es kommt ihnen zum Beispiel nicht einmal in den Sinn, dass Russland, an der Grenze stehend zwischen den zivilisierten und den zum ersten Mal durch diesen Krieg endgültig in die Zivilisation hineingezogenen Ländern, den Ländern des gesamten Ostens, den außereuropäischen Ländern — dass Russland deshalb einige Eigentümlichkeiten aufweisen konnte und musste, die natürlich auf der allgemeinen Linie der Weltentwicklung liegen, aber doch seine Revolution von allen Revolutionen der westeuropäischen Länder unterscheiden und einige teilweise neuartige Züge hervorrufen, wenn es sich um Länder des Ostens handelt.

Grenzenlos schablonenhaft ist bei diesen Leuten zum Beispiel ein Argument, das sie während der Entwicklung der westeuropäischen Sozialdemokratie auswendig gelernt haben und das dahin lautet, dass wir für den Sozialismus noch nicht reif seien, dass bei uns, wie sich verschiedene „gelehrte“ Herren unter ihnen ausdrücken, die objektiven ökonomischen Voraussetzungen für den Sozialismus nicht gegeben seien. Und niemand kommt es in den Sinn, sich zu fragen: aber konnte denn nicht ein Volk, das eine revolutionäre Situation vorfand, eine Situation, wie sie sich im ersten imperialistischen Kriege herausbildete — konnte es sich da nicht unter dem Eindruck der Ausweglosigkeit seiner Lage in einen Kampf stürzen, der ihm doch immerhin irgendwelche Chancen zur Erzielung von nicht ganz gewöhnlichen Bedingungen eines weiteren Fortschritts der Zivilisation bot?

Russland hat nicht jene Entwicklungshöhe der Produktivkräfte erreicht, auf welcher der Sozialismus möglich ist.“ Mit diesem Satz gehen alle die Helden der II. Internationale, unter ihnen natürlich auch Suchanow, wahrhaftig wie mit einem bunten Futtersack hausieren.4 Diesen unanfechtbaren Satz kauen sie zum tausendsten Mal wieder und meinen, er sei entscheidend für die Beurteilung unserer Revolution.

Aber was dann, wenn die Eigentümlichkeit der Situation Russland erstens in einen imperialistischen Weltkrieg versetzte, in dem alle irgendwie einflussreichen westeuropäischen Länder verwickelt waren, wenn sie Russlands Entwicklung an den Berührungslinien der beginnenden und teilweise schon eingeleiteten Revolutionen des Ostens in Bedingungen versetzt hatte, unter denen wir gerade jenes Bündnis des „Bauernkrieges“ mit der Arbeiterbewegung verwirklichen konnten, von dem ein solcher „Marxist“ wie Marx im Jahre 1856 in Hinsicht auf Preußen als von einer der möglichen Perspektiven schrieb?

Und was dann, wenn die völlige Ausweglosigkeit der Lage die Kräfte der Arbeiter und Bauern verzehnfachte und uns die Möglichkeit eines anderen Übergangs zur Schaffung der Grundvoraussetzungen der Zivilisation eröffnete als in allen übrigen westeuropäischen Staaten? Hat sich deshalb die allgemeine Entwicklungslinie der Weltgeschichte geändert? Haben sich die grundlegenden Beziehungen zwischen den Hauptklassen in jedem Staate, der in den allgemeinen Gang der Weltgeschichte einbezogen wird oder schon einbezogen ist, deshalb etwa geändert?

Wenn zur Errichtung des Sozialismus ein bestimmtes Niveau der Kultur erforderlich ist (obwohl niemand sagen kann, welches dieses bestimmte „Kulturniveau“ ist), warum sollten wir dann nicht zunächst mit der Eroberung der Voraussetzungen für dieses bestimmte Niveau auf revolutionärem Wege anfangen und dann, auf der Grundlage der Arbeiter- und Bauernmacht und der Räteordnung, uns schon aufmachen, um die andern Völker einzuholen?

II

Zur Errichtung des Sozialismus — sagt ihr — brauche man Zivilisation. Sehr gut. Nun, warum konnten wir aber nicht zunächst einmal solche Voraussetzungen für die Zivilisation bei uns schaffen, wie die Verjagung der Gutsherren und die Verjagung der russischen Kapitalisten, und dann schon den Marsch zum Sozialismus beginnen? Aus was für Schmökern habt ihr denn herausgelesen, dass derlei Abänderungen der gewöhnlichen historischen Ordnung unzulässig oder unmöglich seien?

Napoleon, soviel ich mich entsinne, schrieb einmal: „On s’engage et puis ... on voit“. In freier Übersetzung heißt das: „Erst muss man sich in einen ernsthaften Kampf einlassen, und dann wird man schon sehen.“ Und da haben wir uns denn zuerst im Oktober 1917 in einen ernsthaften Kampf eingelassen, und dann haben wir schon solche Details der Entwicklung (vom Standpunkt der Weltgeschichte sind es unzweifelhaft Details) wie den Brester Frieden, oder die Neue Ökonomische Politik usf. gesehen. Und gegenwärtig bestehen schon keine Zweifel mehr daran, dass wir in der Hauptsache den Sieg davongetragen haben.

Unseren Suchanows, von den noch weiter rechts stehenden Sozialdemokraten gar nicht zu reden, fällt es nicht einmal im Traume ein, dass Revolutionen anders überhaupt nicht gemacht werden können. Unsere europäischen Spießbürger lassen es sich nicht im Traume beikommen, dass die weiteren Revolutionen in den an Bevölkerung unvergleichlich viel reicheren und durch Mannigfaltigkeit der sozialen Verhältnisse in unvergleichlich viel höherem Grade ausgezeichneten Ländern des Ostens ihnen zweifellos mehr Eigentümlichkeiten vor Augen führen werden als die russische Revolution,

Kein Wort darüber: ein in Kautskys Art geschriebenes Lehrbuch war ein für seine Zeit sehr nützliches Ding. Aber doch ist es bereits an der Zeit, dass man endlich einmal den Gedanken aufgibt, als sähe solch ein Lehrbuch alle Entwicklungsformen der weiteren Weltgeschichte voraus. Wer das meint, den sollte man zur rechten Zeit einfach für einen Dummkopf erklären.

16.-17. Januar 1923

1 Der Artikel „Über unsere Revolution“, der im Januar 1923 geschrieben wurde und zu den letzten Arbeiten Lenins gehört, ist in theoretischer Hinsicht äußerst wichtig. Er betrachtet die Frage der Voraussetzungen der sozialistischen Revolution an Hand der Erfahrungen des Oktober im Zusammenhang mit dem Buche des hervorragenden Menschewiks aus der Gruppe „Nowaja Schisn“ N. Suchanows (Himmer) „Aufzeichnungen über die Revolution“. In diesem Buche förderte Suchanow die übliche menschewistische Auffassung der proletarischen Revolution überhaupt und der Oktoberrevolution im Besonderen zutage und behauptete, dass in Russland die notwendigen sozialen und ökonomischen Voraussetzungen für die sozialistische Revolution nicht gegeben seien.

2 Lenin meint hier die folgende Stelle des Briefes von Marx an Engels vom 16. April 1856 (wir übersetzen die englischen Ausdrücke in der Klammer ins Deutsche): „The whole thing in Germany (die ganze Sache in Deutschland) wird abhängen von der Möglichkeit, to back the Proletarian revolution by some second edition of the Peasant’s war (die proletarische Revolution durch so etwas wie eine zweite Auflage des Bauernkrieges zu unterstützen).“ Siehe diesen Brief in: Marx und Engels, Gesamtausgabe, Marx-Engels-Verlag, Berlin Abteilung, Band II, S. 131/32.

3 Mit den entsprechenden Änderungen. D. Red.

4 Nach einem russischen Volksausdruck: „Er geht herum wie ein Narr mit dem bunten Futtersack“. D. Red,

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