Wladimir I. Lenin: Schreiben an die Organisationen der Kommunistischen Partei Russlands über die Vorbereitung des Parteitages1 [Geschrieben Ende Februar 1920. Veröffentlicht am 2. März 1920 in Nr. 13 des „Mitteilungsblatts des ZK der KPR“. Nach Sämtliche Werke, Band 25, Wien-Berlin 1930, S. 45-49] Werte Genossen! Der Parteitag ist auf den 27. März festgesetzt. Die Tagesordnung des Parteitages ist veröffentlicht worden, und zweifelsohne haben bereits alle Parteiorganisationen mit der Vorbereitung des Parteitages begonnen. Das Zentralkomitee der Partei hält es für seine Pflicht, einige Betrachtungen aus diesem Anlass anzustellen. Unsere Partei, die durch 15 Jahre hartnäckiger Kämpfe (1903 bis 1917) ihren Zusammenhang mit der Arbeiterklasse Russlands, ihre Fähigkeit bewiesen hat, gegen den bürgerlichen Einfluss innerhalb der Arbeiterschaft zu kämpfen und den revolutionären Kampf des Proletariats unter den verschiedenartigsten und schwierigsten Verhältnissen zu leiten, musste selbstverständlich nach der Oktoberrevolution auch die unmittelbare Durchführung der Aufgaben der Diktatur des Proletariats auf sich nehmen. Unser Parteitag ist deshalb von der größten Bedeutung nicht nur für die gesamte Arbeiterbewegung, sondern auch für den gesamten Aufbau der Sowjetmacht, für die gesamte Führung der russischen – bis zu einem gewissen Grade aber auch der internationalen kommunistischen Bewegung. Diese Bedeutung unseres Parteitages steigert sich noch angesichts der Besonderheiten des gegebenen Augenblicks, wo die Sowjetmacht den überaus schwierigen Übergang von den militärischen Aufgaben, die alle ihre Kräfte in Anspruch nahmen, zu den Aufgaben des friedlichen wirtschaftlichen Aufbaus durchführen muss. Unsere Partei ist zahlenmäßig stark angewachsen, hauptsächlich infolge des gewaltigen Zustroms von Arbeitern und Bauern während der Parteiwochen, die wir in der schwierigsten Periode unserer Revolution organisierten, als Judenitsch und Denikin ganz in der Nähe von Petrograd und Moskau standen. Die Arbeiter und Bauern, die in einem so schwierigen Augenblick in die Partei kamen, sind die besten und zuverlässigsten Führerkaders des revolutionären Proletariats und des werktätigen Teils der Bauernschaft. Wir stehen vor der Aufgabe, möglichst rasch, erfolgreich und geschickt die Bildung dieser jungen Parteimitglieder zu ergänzen, aus ihnen Kaders von Mitarbeitern am Aufbau des Kommunismus heranzubilden, und zwar von möglichst klassenbewussten, zur Bekleidung von verantwortungsvollen Funktionen fähigen Mitarbeitern, die gleichzeitig mit den Massen, d. h. mit der Mehrheit der Arbeiter und werktätigen Bauern aufs Engste verknüpft sind. Der Hauptpunkt der Tagesordnung des bevorstehenden Parteitages ist entsprechend den Besonderheiten des jetzigen historischen Moments die Frage des wirtschaftlichen Aufbaus, insbesondere der Maßnahmen, Methoden und Resultate der Proletarisierung der zentralen Wirtschaftsstellen, der zentralen Organisationen, des Apparates der Sowjetmacht überhaupt. Diese Frage muss zur Hauptfrage auf dem Parteitag werden, denn die Hauptfrage des gesamten Sowjetaufbaues in Russland (insofern Russland aber zum Herd der internationalen Revolution geworden ist, ist das zum großen Teil auch eine Frage des internationalen Kommunismus) ist der Übergang vom Kampfe an der blutigen Front zum Kampfe an der unblutigen Front, an der Front der Arbeit, an der Front des Krieges gegen die wirtschaftliche Zerrüttung, für den Wiederaufbau, für die Hebung, Reorganisation, Entwicklung der gesamten Volkswirtschaft Russlands, Sammlung und Herbeischaffung großer staatlicher Nahrungsmittelreserven, Wiederherstellung des zerrütteten Transportwesens, Durchführung dieser Maßnahmen mit militärischer Schnelligkeit, militärischer Energie, militärischer Disziplin; daneben und in stetem Zusammenhang damit „Proletarisierung“ des Staatsapparates der Sowjetmacht, Vertreibung der Sabotage und des Bürokratismus aus diesem Apparat, höchste Produktivität der Arbeit, äußerste Anspannung aller Kräfte des Landes, um die Wirtschaft wiederherzustellen, – das ist die Aufgabe, die uns die Verhältnisse gebieterisch diktieren, eine unaufschiebbare Aufgabe, die gelöst werden muss durch die heldenhafte revolutionäre Energie von Millionen und aber Millionen Bauern. Der Parteitag muss die Erfahrungen der Arbeitsarmeen, dieser jungen und neuen Organisation, in Rechnung stellen, muss die Erfahrungen aller Apparate der Sowjetmacht im Laufe ihrer mehr als zweijährigen Tätigkeit berücksichtigen und eine Reihe von Beschlüssen fassen, die es unserer ganzen sozialistischen Republik möglich machen, mit verdoppelter Festigkeit, Entschiedenheit, Energie und Sachlichkeit alle Kräfte der Arbeitermassen für die beste Lösung der dringenden Aufgabe eines raschen und vollständigen Sieges über die Zerrüttung zu mobilisieren. Wir fordern alle Parteimitglieder, alle Parteiorganisationen auf, sowohl bei der praktischen Arbeit in allen Sowjeteinrichtungen als auch bei der Arbeit zur Vorbereitung des Parteitags ein Maximum an Kräften auf diese Aufgabe zu konzentrieren. Denn diese Aufgaben bilden ein einheitliches, unzertrennbares Ganzes, Glücklicherweise ist die Zeit der rein theoretischen Erörterungen, der Streitigkeiten über allgemeine Fragen, der Annahme von prinzipiellen Resolutionen vorbei. Diese Etappe haben wir bereits hinter uns. Das ist eine Aufgabe, die wir gestern, vorgestern entschieden haben. Wir müssen vorwärts schreiten, müssen begreifen lernen, dass wir jetzt vor einer praktischen Aufgabe stehen, dass wir unter Aufbietung aller Kräfte, mit wahrhaft revolutionärer Energie, mit derselben heldenmütigen Hingabe, mit der unsere besten Genossen, die Arbeiter, Bauern und Rotarmisten Koltschak, Judenitsch, Denikin besiegt haben, die praktische Aufgabe eines möglichst schnellen Sieges über die Zerrüttung bewältigen müssen. Wir müssen vorwärtsschreiten, müssen vorwärtsblicken, müssen mit einer gründlich durchdachten, durch gemeinsame Arbeit, gemeinsame Anstrengungen aller Parteimitglieder erprobten praktischen Erfahrung des wirtschaftlichen Aufbaus auf dem Parteitag erscheinen. Wir haben mancherlei gelernt. Um vorwärts zu schreiten, um der Zerrüttung Herr zu werden, müssen wir nicht wieder von neuem anfangen, nicht wieder nach rechts und links umorganisieren, sondern müssen das bereits geschaffene nach Möglichkeit verwerten. Möglichst wenig allgemeine Umorganisierung, möglichst viel sachliche, durch bereits erreichte Resultate praktisch erprobte Maßnahmen, Methoden, Hinweise zur Erreichung unseres Hauptzieles, unseren Staatsapparat noch weiter, noch gründlicher, noch rascher, noch besser zu „proletarisieren“; zur Leitung der Industrie und der Volkswirtschaft überhaupt noch mehr Arbeiter und werktätige Bauern heranziehen, nicht nur einzelne bei der Arbeit besonders erprobte Bauern und Arbeiter; unbedingt die Gewerkschaften in größerem Maße heranziehen; ferner die parteilosen Arbeiter- und Bauernkonferenzen heranziehen; alle bürgerlichen Fachleute heranziehen, d. h. die unter bürgerlichen Verhältnissen erzogenen Fachleute, die sich die Früchte der bürgerlichen Kultur angeeignet haben – und zwar alle bis zum letzten (denn wir haben ihrer sehr wenig); so handeln, dass unsere werktätigen Massen wirklich, wie es unser Parteiprogramm verlangt, bei diesen Fachleuten in die Lehre gehen und gleichzeitig es dahin bringen, dass „die bürgerlichen Fachleute Hand in Hand mit der Masse der einfachen Arbeiter, die unter der Führung der klassenbewussten Kommunisten stehen, kameradschaftlich Zusammenarbeiten“ (wie es in unserem Parteiprogramm heißt) – das sind unsere wichtigsten praktischen Aufgaben. Genossen, wir haben es bisher verstanden, die unerhörten Schwierigkeiten zu überwinden, die die Geschichte der ersten sozialistischen Republik in den Weg stellte, denn das Proletariat erkannte ganz richtig seine Aufgaben als Diktator, d.h. als Führer, Organisator, Erzieher aller Werktätigen, Wir haben es verstanden zu siegen, weil wir die dringendste, brennendste, aktuellste Aufgabe richtig bestimmten und wirklich alle Kräfte aller Werktätigen des ganzen Volkes auf diese Aufgabe konzentrierten. Militärische Siege sind leichter als ein wirtschaftlicher Sieg, Koltschak, Judenitsch, Denikin zu besiegen war viel leichter, als die alten kleinbürgerlichen Gewohnheiten und Verhältnisse, die alte Routine, die alten wirtschaftlichen Bedingungen zu besiegen, die von Millionen und aber Millionen kleinen Besitzern, die neben den Arbeitern, zusammen mit ihnen, unter ihnen leben, verteidigt und reproduziert werden. Um hier zu siegen, bedarf es größerer Konsequenz, Ausdauer und Hartnäckigkeit, größerer Planmäßigkeit bei der Arbeit, größerer organisatorischer und administrativer Kunst – und das alles in großem Maßstabe, Uns, einer rückständigen Nation, mangelt das gerade am allermeisten. Mögen alle Parteimitglieder ihre Kräfte anstrengen, um dem Parteitag die erprobte, verwertete, summierte, praktische Erfahrung zu übermitteln. Wenn wir alle Kräfte anspannen und es verstehen, aufmerksam, ernst und sachlich gerade die praktischen Erfahrungen zu sammeln, zu prüfen und zu verwerten, gerade das, was jeder von uns getan, durchgeführt, gesehen hat, wie es neben ihm getan und durchgeführt worden ist, dann und und nur dann werden unser Parteitag und alle unsere Sowjetinstitutionen die praktische Aufgabe lösen, wie man am schnellsten und sichersten der Zerrüttung Herr werden kann. Gehen wir von den Kongressen und Versammlungen, die allgemeine Fragen diskutierten, zu Kongressen und Versammlungen über, die die praktischen Erfahrungen zusammenfassen. Das ist die Losung unserer Zeit! Die praktische Erfahrung in Rechnung stellen, um das Schädliche zu beseitigen, um alles Wertvolle zusammenzufassen, um eine Reihe der aktuellsten praktischen Maßnahmen genau festzulegen und sie um jeden Preis durchzuführen, ohne irgendwelche Opfer zu scheuen, – so verstehen wir die Aufgaben des gegenwärtigen Augenblicks und die Aufgaben des Parteitages. 1 In der Nr. 13 des „Mitteilungsblattes des ZK der KPR“, in der dieser Brief Lenins abgedruckt war, wurden im Auftrage des ZK noch drei Briefe an die Organisationen der KPR veröffentlicht mit dem Hinweis auf die Bedeutung und die Aufgaben des bevorstehenden Parteitages „im Zusammenhang mit den Besonderheiten des gegenwärtigen Augenblicks, wo die Sowjetmacht den überaus schwierigen Übergang von dem sie vollständig in Anspruch nehmenden militärischen Aufgaben zu den Aufgaben des friedlichen wirtschaftlichen Aufbaus vollziehen muss“. |